JudikaturJustizBsw31465/08

Bsw31465/08 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
11. Februar 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache Raza gegen Bulgarien, Urteil vom 11.2.2010, Bsw. 31465/08.

Spruch

Art. 5, 8 EMRK - Schubhaft trotz Unmöglichkeit der Abschiebung.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 5 und Art. 8 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 8 EMRK im Falle der Vollstreckung der Ausweisungsentscheidung (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 5.500,- an den ErstBf. für immateriellen Schaden, € 1.200,- an beide Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der aus Pakistan stammende ErstBf. kam 1998 nach Bulgarien. Nachdem er im Februar 2000 eine bulgarische Staatsbürgerin (die ZweitBf.) geheiratet hatte, wurde ihm zunächst eine befristete und schließlich 2003 eine unbefristete Niederlassungsbewilligung als Familienangehöriger erteilt.

Am 6.12.2005 ordnete der Leiter des Nationalen Sicherheitsdienstes des Innenministeriums die Ausweisung des ErstBf. an und verhängte ein Aufenthaltsverbot. Die Ausweisung wurde mit der »schwerwiegenden Gefahr für die nationale Sicherheit« begründet, die der Bf. darstelle, ohne die Umstände zu nennen, auf denen diese Einschätzung beruhte. Die Entscheidung sah die Inhaftierung des Bf. bis zur Vollstreckung der Ausweisung vor. Am 30.12.2005 wurde vom Leiter der Migrationsabteilung des Innenministeriums die Schubhaft des Bf. angeordnet.

Da der ErstBf. nicht über einen Reisepass verfügte, ersuchte das Innenministerium am 24.1.2006 die Konsularabteilung des Außenministeriums, die pakistanische Botschaft in Bukarest zu kontaktieren, um Reisedokumente zu erhalten. Im März 2006, Oktober 2007 und Juni 2008 wurde dieses Ersuchen ohne Erfolg wiederholt.

Ein am 11.7.2007 gestellter Antrag des Bf. auf Enthaftung wurde am 28.12.2007 vom Leiter der Migrationsabteilung abgewiesen. Am 15.7.2008 wurde er aus der Schubhaft entlassen. Außerdem wurde die Ausweisung wegen technischer Schwierigkeiten aufgeschoben. Der ErstBf. wurde verpflichtet, sich täglich bei einer Polizeistation zu melden. Seine Ausweisung wird nach wie vor offenbar durch das Fehlen der nötigen Dokumente für die Einreise nach Pakistan verhindert.

Der am 4.1.2006 erhobene Einspruch gegen die Ausweisungsentscheidung wurde am 21.2.2006 vom Innenminister abgelehnt. Daraufhin beantragte der Bf. beim Stadtgericht Sofia die gerichtliche Überprüfung der Ausweisung und den Aufschub ihrer Vollstreckung. Das Stadtgericht wies den Antrag auf Vollstreckungsaufschub ab, da ein solcher gesetzlich nicht vorgesehen sei. Im Juli 2007 trat es die Sache an das Oberste Verwaltungsgericht ab, das inzwischen aufgrund einer Gesetzesänderung zuständig geworden war. Dieses wies den Antrag am 17.1.2008 ab, ohne näher auf die Verhältnismäßigkeit der Ausweisung einzugehen. Die Bf. konnten dem GH dieses Urteil nicht vorlegen, da es als vertraulich eingestuft wurde. Trotz entsprechender Ersuchen des GH wurde das Urteil auch nicht von der Regierung vorgelegt.

Am 22.5.2007 behob das Stadtgericht Sofia auf Antrag des Bf. die Entscheidung, mit der seine Schubhaft angeordnet worden war. Dieses Urteil wurde am 6.6.2008 aufgrund eines Rechtsmittels des Innenministeriums aufgehoben und das Verfahren eingestellt. Nach Ansicht des Obersten Verwaltungsgerichts konnte die Anordnung der Schubhaft nicht abgesondert von der Ausweisungsentscheidung angefochten werden.

Am 16.1.2008 beantragten die Bf. die gerichtliche Überprüfung der Abweisung des Enthaftungsantrags vom 28.12.2007. Das Verwaltungsgericht Sofia erklärte am 7.5.2008 die Ablehnung der Haftentlassung für rechtswidrig und ordnete die neuerliche Entscheidung durch die Behörden an. Das Verfahren wurde eingestellt, nachdem der Bf. freigelassen worden war.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behaupten, die Ausweisung des ErstBf. würde eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Familienlebens) begründen.

I. Zur Zulässigkeit der Beschwerde

Soweit Verletzungen von Art. 8 und Art. 5 EMRK geltend gemacht werden, ist die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet. Da sie auch nicht aus einem anderen Grund unzulässig ist, muss sie für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Soweit die Bf. eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK geltend machen, ist festzustellen, dass diese Bestimmung auf Verfahren über die Rechtmäßigkeit einer Ausweisung nicht anwendbar ist. Dieser Teil der Beschwerde ist daher als unzulässig zurückzuweisen (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK

Die Bf. bringen vor, es seien keine Beweise für strafrechtliche Handlungen des ErstBf. vorgelegt worden. Die Behörden hätten nicht geprüft, ob er an solchen Handlungen beteiligt gewesen wäre und ob seine Ausweisung gerechtfertigt ist.

Das Bestehen eines Familienlebens des ErstBf. in Bulgarien ist unbestritten. Die Vollstreckung der Ausweisungsentscheidung würde einen Eingriff in das Recht der Bf. auf Achtung des Familienlebens begründen. Ein solcher Eingriff verstößt gegen Art. 8 EMRK, wenn er nicht gesetzlich vorgesehen ist, ein legitimes Ziel verfolgt und in einer demokratischen Gesellschaft notwendig ist, um dieses zu erreichen.

Der GH stellte jüngst im Fall C. G. u.a./BG nach einer genauen Analyse der Vorgangsweise der Gerichte in einer Situation, die beinahe identisch mit jener des vorliegenden Falls war, fest, dass der Bf. trotz der Möglichkeit der Anrufung eines Gerichts nicht in den Genuss des Mindestmaßes an Schutz vor Willkür gekommen war. Er stützte diese Schlussfolgerung auf zwei Gründe: Erstens gestatteten es die Gerichte den Behörden, die Grenzen des Begriffs »nationale Sicherheit« über seine natürliche Bedeutung hinaus zu dehnen. Zweitens prüften die Gerichte nicht, ob die Behörden das Bestehen bestimmter Gründe belegen konnten, die als Grundlage für die Einschätzung des Bf. als Gefahr für die nationale Sicherheit herangezogen wurden.

Nach Ansicht der Bf. nahm das Oberste Verwaltungsgericht in seinem Fall die gleiche Haltung ein wie in C. G. u.a./BG. Sie konnten diese Behauptung nicht belegen, da das innerstaatliche Verfahren vertraulich war und sie keine Kopien der Akten anfertigen durften. Der GH forderte die Regierung daher auf, eine Kopie des Urteils des Obersten Verwaltungsgerichts vom 17.1.2008 vorzulegen. Die Regierung antwortete nicht auf dieses Schreiben. Betrifft eine Beschwerde die Entscheidung eines innerstaatlichen Gerichts und wird die Regierung zur Vorlage derselben aufgefordert, ist sie verpflichtet, die relevanten Informationen zu liefern. Der GH kann daher in Anwendung von Art. 44C Abs. 1 VerfO EGMR Schlüsse aus dem Verhalten der Regierung ziehen.

Der GH anerkennt, dass sich die Verwendung vertraulichen Materials als unvermeidbar erweisen kann, wenn die nationale Sicherheit auf dem Spiel steht. Es kann manchmal notwendig sein, das in einem solche Angelegenheiten berührenden Verfahren verwendete Material teilweise oder zur Gänze und sogar Teile der darin ergangenen Entscheidungen für geheim zu erklären. Die völlige Verheimlichung einer gerichtlichen Entscheidung in einem solchen Verfahren kann jedoch nicht als berechtigt angesehen werden.

Die Öffentlichkeit gerichtlicher Entscheidungen dient der Sicherstellung der Überprüfung der Gerichtsbarkeit und bildet einen grundlegenden Schutz vor Willkür. Selbst in Fällen, die ohne Zweifel die nationale Sicherheit betreffen, wie Verfahren über terroristische Aktivitäten, entschieden sich die Behörden von Staaten, in denen bereits Terroranschläge erfolgten oder solche drohen, dazu, nur jene Teile der Entscheidungen unter Verschluss zu halten, deren Offenlegung die nationale Sicherheit oder die Sicherheit Dritter gefährden würde. Sie beweisen damit die Möglichkeit, legitimen Sicherheitsbedenken zu entsprechen, ohne grundlegende Verfahrensgarantien wie die Öffentlichkeit gerichtlicher Entscheidungen völlig zu missachten. Überdies ist der GH nicht überzeugt, dass der Fall des Bf. wirklich die nationale Sicherheit betraf. Der einzige bekannte Vorwurf gegen ihn besteht darin, dass »Informationen vorlägen, wonach er an Menschenhandel beteiligt gewesen wäre«. Angesichts des Fehlens weiterer Details über die Gefahr für die nationale Sicherheit gelangt der GH zu dem Schluss, dass die Situation identisch mit jener im Fall C. G. u.a./BG ist, in dem die Behörden den Begriff der nationalen Sicherheit über seine natürliche Bedeutung hinaus gedehnt hatten.

Da es die Regierung verabsäumte, die geforderten Informationen zu übermitteln, geht der GH davon aus, dass das Oberste Verwaltungsgericht – wie von den Bf. behauptet – keinen uneingeschränkten Zugang zu den Tatsachen hatte, auf die sich die Einschätzung der Behörden stützte, der ErstBf. stelle eine Gefahr für die nationale Sicherheit dar.

Trotz der formalen Möglichkeit einer gerichtlichen Überprüfung der Ausweisungsentscheidung kam der ErstBf. daher nicht in den Genuss des Mindestmaßes an Schutz vor behördlicher Willkür. Der Eingriff in sein Recht auf Achtung des Familienlebens wäre daher nicht »gesetzlich vorgesehen«. Die Ausweisungsentscheidung würde daher im Falle ihrer Vollstreckung eine Verletzung von Art. 8 EMRK begründen (einstimmig).

III. Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

Die Bf. bringen vor, dass ihnen in Hinblick auf die behauptete Verletzung von Art. 8 EMRK kein innerstaatlicher Rechtsbehelf zur Verfügung stehe.

Wie bereits festgestellt wurde, prüfte das Oberste Verwaltungsgericht nicht in angemessener Weise, ob der ErstBf. tatsächlich die nationale Sicherheit gefährdet und ob seine Ausweisung verhältnismäßig wäre. Das Verfahren zur gerichtlichen Überprüfung der Ausweisung entsprach daher nicht den Anforderungen des Art. 13 EMRK. Auf andere Rechtsmittel wurde von der Regierung nicht hingewiesen. Daher hat eine Verletzung von Art. 13 EMRK stattgefunden (einstimmig).

IV. Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 EMRK

Der ErstBf. behauptet, seine Schubhaft habe wegen ihrer unverhältnismäßigen Dauer und wegen des Fehlens gesetzlicher Garantien gegen Willkür Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK verletzt. Außerdem hätte er in Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK keine zügige richterliche Überprüfung der Anhaltung erlangen können.

1. Zu Art. 5 Abs. 1 EMRK

Die Freiheitsentziehung fiel in den Anwendungsbereich von Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK, da der Bf. zum Zweck seiner Ausweisung angehalten wurde.

Diese Bestimmung verlangt nicht, dass die Anhaltung einer Person, gegen die ein Ausweisungsverfahren anhängig ist, als notwendig anzusehen ist, etwa zur Verhinderung von Straftaten oder der Flucht. Erforderlich ist nur, dass »ein Ausweisungsverfahren im Gange ist«. Es spielt daher keine Rolle, ob die zugrunde liegende Ausweisungsentscheidung nach innerstaatlichem Recht oder nach der Konvention gerechtfertigt werden kann. Jede Freiheitsentziehung nach Art. 5 Abs. 1 lit. f EMRK wird jedoch nur solange gerechtfertigt sein, als das Ausweisungsverfahren voranschreitet. Wenn ein solches Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt verfolgt wird, ist die Freiheitsentziehung nicht länger zulässig.

Der ErstBf. blieb mehr als zweieinhalb Jahre in Haft. Während dieser Zeit wurde seine Abschiebung offensichtlich nur durch das Fehlen des erforderlichen Reisedokuments für die Einreise nach Pakistan verhindert. Zwar konnten die bulgarischen Behörden die Ausstellung eines solchen Dokuments nicht erzwingen, doch liegen keine Hinweise dafür vor, dass sie die Angelegenheit energisch verfolgt hätten, um die Sache zu beschleunigen.

Die Verzögerungen wurden keineswegs durch die Notwendigkeit verursacht, die gerichtliche Entscheidung über die Anfechtung der Ausweisungsentscheidung durch den ErstBf. abzuwarten. Sein Antrag auf Aufschub der Vollstreckung wurde schon am 7.12.2006 abgewiesen. Festzuhalten ist auch, dass der Bf. nach seiner am 15.7.2008 erfolgten Enthaftung verpflichtet wurde, sich regelmäßig bei der Polizei zu melden. Dies zeigt, dass den Behörden andere Maßnahmen zur Verfügung standen als die fortgesetzte Anhaltung, um die Durchsetzung der Ausweisungsentscheidung sicherzustellen.

Der GH kommt zu dem Schluss, dass die Gründe für die Anhaltung des ErstBf. nicht während deren gesamter Dauer gültig blieben, weil die Behörden das Verfahren nicht mit der gebotenen Sorgfalt betrieben. Daher hat eine Verletzung von Art. 5 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

2. Zu Art. 5 Abs. 4 EMRK

Der ErstBf. konnte die Anordnung seiner Haft anfechten und sogar eine gerichtliche Entscheidung erwirken. Diese wurde allerdings vom Obersten Verwaltungsgericht aufgehoben, das in klarer Abkehr von seiner bisherigen Rechtsprechung feststellte, dass derartige Schubhaftanordnungen keiner gerichtlichen Überprüfung unterliegen würden. Der Bf. war daher nicht in der Lage, eine rechtskräftige Entscheidung über die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung zu erwirken. Außerdem dauerte dieses Verfahren mehr als zwei Jahre.

Es bleibt zu prüfen, ob dem Bf. andere effektive und rasche Rechtsbehelfe zur Verfügung standen. Am 16.1.2008 brachte er ein weiteres Rechtsmittel ein. Das Stadtgericht Sofia benötigte jedoch beinahe vier Monate um darüber zu entscheiden und sein Urteil wurde erst ein Jahr später rechtskräftig, als der Bf. bereits aus der Haft entlassen worden war.

Da der Bf. damit keine Gelegenheit hatte, die Rechtmäßigkeit seiner Anhaltung zügig von einem Gericht überprüfen zu lassen, liegt eine Verletzung von Art. 5 Abs. 4 EMRK vor (einstimmig).

V. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 5.500,– an den ErstBf. für immateriellen Schaden, € 1.200,– an beide Bf. gemeinsam für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Chahal/GB v. 15.11.1996

= NL 1996, 168 = ÖJZ 1997, 632.

Al-Nashif/BG v. 20.6.2002

= NL 2002, 108 = ÖJZ 2003, 344.

Lupsa/RO v. 8.6.2006

= NL 2006, 139.

C. G. u.a./BG v. 24.8.2008 (GK)

= NL 2008, 98 = ÖJZ 2008, 973.

A. u.a./GB v. 19.2.2009 (GK)

= NL 2009, 46.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 11.2.2010, Bsw. 31465/08, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 49) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_01/Raza.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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