JudikaturJustizBsw30210/96

Bsw30210/96 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
26. Oktober 2000

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Kudla gegen Polen, Urteil vom 26.10.2000, Bsw. 30210/96.

Spruch

Art. 3 EMRK, Art. 5 Abs. 3 EMRK, Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Keine Möglichkeit der Geltendmachung des Rechts auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist vor den nationalen Instanzen. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 5 Abs. 3 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (16:1 Stimmen).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: PLN 30.000,- für immateriellen Schaden; PLN 20.000,- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Gegen den Bf. war am 8.8.1991 Anklage wegen Betrugs und Urkundenfälschung erhoben worden. Im Verlauf der über ihn verhängten Untersuchungshaft erkrankte er an einer chronischen Depression, die zu einem Selbstmordversuch und einem Hungerstreik führte. Eine daraufhin durchgeführte psychiatrische Untersuchung ergab, dass der Bf. nicht zur Verbüßung der Haft unter den üblichen Gefängnisbedingungen in der Lage sei, worauf er auf Empfehlung der Ärzte in die psychologische Abteilung des Gefängnishospitals überstellt wurde. Nach drei Monaten wurde der Bf. wieder in das Gefängnis zurückverlegt, wo er unter ständiger psychiatrischer Beobachtung stand. Anlässlich eines vom Gericht in Auftrag gegebenen Gutachtens gelangten Fachärzte zu dem Ergebnis, dass der Bf. an einer schweren Depression mit Selbstmordtendenzen leide. Sie empfahlen eine Wiederaufnahme der psychiatrischen Behandlung, wiesen aber darauf hin, dass die Gefahr eines weiteren Selbstmordversuchs im Falle der Fortsetzung der Haft erheblich zunehmen würde. Am 27.7.1992 wurde die Untersuchungshaft aufgehoben und der Bf. aus der Haft entlassen. Bis dahin hatte er etwa 30 Mal erfolglos um Entlassung aus der Untersuchungshaft angesucht bzw. Rechtsmittel gegen deren Fortsetzung erhoben.

In der Folge fanden im Oktober und Dezember 1992 Gerichtsverhandlungen statt. Eine für den Februar 1993 anberaumte Verhandlung entfiel, weil ihr der Bf. krankheitshalber ferngeblieben war. Das Gericht ordnete an, er möge innerhalb von drei Tagen eine Bescheinigung eines forensischen Experten vorlegen, anderenfalls seine gerichtliche Vorführung erwogen würde. Der Bf. kam der Aufforderung nicht nach, informierte jedoch das Gericht von seinem Aufenthalt in einem Sanatorium. Er verabsäumte es hingegen, eine Zustelladresse für den Fall einer gerichtlichen Vorladung anzugeben, worauf das Gericht einen Vorführungsbefehl erließ. Die für den März 1993 anberaumte Verhandlung entfiel neuerlich wegen Fernbleibens des Bf. Der Vorführungsbefehl konnte erst am 4.10.1993 iZm. mit der Betretung wegen eines Verkehrsdelikts vollzogen werden. Er wurde sodann unverzüglich in Haft genommen. Während der Haft unternahm der Bf. zwei weitere Selbstmordversuche, worauf er erneut unter psychiatrische Beobachtung gestellt wurde. Seine zahlreichen Haftbeschwerden wurden alle mit dem Fortbestehen eines begründeten Tatverdachts und der Fluchtgefahr abgelehnt.

1995 wurde der Bf. für schuldig gesprochen und zu einer sechsjährigen Freiheitsstrafe sowie zu einer Geldstrafe verurteilt. In der Folge wurde das Urteil vom Höchstgericht wegen mehrfacher Verletzung von Verfahrensvorschriften und nicht gehöriger Besetzung des Gerichts aufgehoben. Die Sache wurde an die erste Instanz zur neuerlichen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen. Im Zuge der neu aufgenommenen Verhandlung wurde vom Gericht ein psychiatrisches Gutachten über den Gesundheitszustand des Bf. angefordert. Der psychiatrische Sachverständige kam in seinem Bericht vom 11.6.1996 zu dem Ergebnis, dass dieser zwar verhandlungsfähig sei, jedoch aufgrund der nach wie vor bestehenden Depression Gefahr laufe, erneut einen Selbstmordversuch zu begehen. Am 29.10.1996 wurde der Bf. gegen Kaution aus der Haft entlassen.

1998 erließ das Gericht ein gleichlautendes Urteil. Der Bf. erhob dagegen ein Rechtsmittel, worauf die Freiheitsstrafe auf fünf Jahre herabgesetzt wurde. Er wandte sich darauf an das Höchstgericht, das Verfahren ist anhängig.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 3 EMRK (hier: Verbot der unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung) aufgrund der seiner Ansicht nach unzureichenden psychiatrischen Betreuung während der Haft. Er behauptet ferner Verletzungen von Art. 5 (3) EMRK (Recht auf Aburteilung innerhalb angemessener Frist oder auf Haftentlassung) und von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer). IZm. letzterem Beschwerdepunkt rügt er auch eine Verletzung seines Rechts auf eine wirksame Bsw. vor einer nationalen Instanz gemäß Art. 13 EMRK.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 3 EMRK:

Den medizinischen Akten ist zu entnehmen, dass der Bf. während der Haft regelmäßige psychiatrische Betreuung erhalten hatte. Nach seinem ersten Selbstmordversuch – für den die Gefängnisbehörden nicht zur Verantwortung zu ziehen sind – wurde er für zwei Monate zur psychiatrischen Beobachtung in das Gefängnishospital überstellt. Der Bf. wurde danach nochmals zweimal psychiatrisch untersucht. Zwar konnten dadurch weitere Selbstmordversuche nicht verhindert werden. Die Behörden können aber auch für diese Vorfälle nicht verantwortlich gemacht werden, dies angesichts der Tatsache, dass der Bf. vom Beginn des Jahres 1995 bis zu seiner Entlassung gegen Kaution im Oktober 1996 zumindest einmal im Monat psychiatrische Hilfe erhalten hatte. Ferner ist festzuhalten, dass dieser aufgrund seines depressiven Zustandes anfälliger auf Stressfaktoren wie Nervosität, Angst und Furcht reagierte als andere Häftlinge. Es trifft zwar zu, dass der Bf. trotz eines psychiatrischen Gutachtens, welches von einer erhöhten Selbstmordgefahr ausgegangen war, weiterhin in Haft gehalten wurde. Die gerügte Behandlung erreichte insgesamt jedoch nicht den Schweregrad, den Art. 3 EMRK in solchen Fällen verlangt. Keine Verletzung von Art. 3 EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 5 (3) EMRK:

Der für die Beurteilung der Angemessenheit relevante Haftzeitraum beträgt zwei Jahre, vier Monate und drei Tage. Die zahlreichen Haftentlassungsanträge des Bf. wurden alle mit dem Hinweis auf das Bestehen eines begründeten Tatverdachts und der Fluchtgefahr abgewiesen. Letzterer Haftgrund gründete sich einerseits auf die Tatsache, dass der Bf. im Februar und März 1993 nicht zur Verhandlung erschienen war, andererseits darauf, dass er es verabsäumt hatte, eine ärztliche Bescheinigung für sein Fernbleiben vorzulegen und eine Zustelladresse für gerichtliche Vorladungen anzugeben. Die für die Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft angeführten Haftgründe waren zwar anfänglich von Relevanz, verloren aber im Lauf der Zeit immer mehr an Bedeutung. Der Bf. hatte vor seiner erneuten Inhaftierung am 4.10.1993 bereits fast ein Jahr in der Untersuchungshaft verbracht (das hier nicht einzurechnen ist aufgrund fehlender Zuständigkeit des GH ratione temporis). (Anm.: Polen hatte das Recht auf Individualbeschwerde erst am 1.5.1993 anerkannt.) Die Freiheitsentziehung von mehr als zwei Jahren und vier Monaten hätte somit einer zwingenden Rechtfertigung durch die zuständigen Gerichte bedurft. Als Begründung für das Bestehen einer Fluchtgefahr verwiesen diese wiederholt auf das zweimalige Versäumnis des Bf., eine gerichtliche Anordnung zu befolgen. Andere Gründe, die über den gesamten Haftzeitraum hinweg erheblich gewesen wären, wurden nicht genannt. Unter diesen Umständen waren die von den Gerichten zur Rechtfertigung der Aufrechterhaltung der Untersuchungshaft herangezogenen Haftgründe unzureichend. Verletzung von Art. 5 (3) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK:

Das Strafverfahren dauert bereits mehr als neun Jahre. Da Polen das Recht auf Individualbeschwerde erst am 1.5.1993 anerkannt hat, sind sieben Jahre und fünf Monate für die Beurteilung der Angemessenheit der Verfahrensdauer heranzuziehen. Der Fall war zwar komplex, was aber für sich allein nicht die Dauer des Verfahrens rechtfertigen kann. Was das Verhalten des Bf. betrifft, war dieser zweimal Verhandlungen ferngeblieben, worauf das Verfahren vertagt werden musste. Weitere Verfahrensverzögerungen sind ihm nicht anzulasten. Hingegen ist von einer besonderen Sorgfaltspflicht der Behörden auszugehen, weil der Bf. zu einem überwiegenden Teil des fraglichen Zeitraums in Haft gehalten wurde und zudem an einer schweren Depression litt. In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nach der Aufhebung des Urteils und der Zurückverweisung der Sache an die erste Instanz mehr als ein Jahr verstrich, bis die Verhandlung wieder aufgenommen wurde. Das Gericht vertagte das Verfahren sodann um sieben Monate, was sich teilweise durch Verzögerungen iZm. der Berücksichtigung der Aussagen von Mitangeklagten des Bf. erklären lässt. Die Gesamtverzögerung von einem Jahr und acht Monaten ist jedoch mit der Art. 6 (1) EMRK zugrunde liegenden besonderen Sorgfaltspflicht unvereinbar. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK:

Der GH hat in zahlreichen früheren Fällen, in denen von ihm eine Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer festgestellt wurde, eine Prüfung der ebenfalls gerügten Verletzung von Art. 13 EMRK nicht für notwendig erachtet - dies mit dem Hinweis, dass die Garantien von Art. 6 (1) EMRK weiter gehen würden als jene von Art. 13 EMRK. Eine Überschneidung zwischen beiden Konventionsbestimmungen liegt allerdings dann nicht vor, wenn es sich bei der Konventionsverletzung, welche die betroffene Person vor eine "nationale Instanz" bringen will, um eine Verletzung des Rechts auf eine angemessene Verfahrensdauer handelt. Die Frage, ob über zivilrechtliche Ansprüche oder Verpflichtungen eines Bf. oder über die Stichhaltigkeit einer gegen ihn erhobenen Anklage innerhalb einer angemessenen Frist abgesprochen wurde, ist rechtlich anders zu qualifizieren als jene, ob ihm zur Geltendmachung einer solchen Verletzung eine wirksame Bsw. nach nationalem Recht zur Verfügung stand.

Der GH sieht sich auch deshalb zu einer Abkehr von seiner bisherigen Rspr. veranlasst, weil er im Lauf der Zeit mit einer immer größer werdenden Zahl von Bsw. wegen überlanger Verfahrensdauer konfrontiert worden ist. Dies legt den Schluss nahe, dass eine Gefahr für das in den Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten verankerte Rechtsstaatlichkeitsprinzip dann besteht, wenn keinerlei innerstaatliche Rechtsmittel gegen unangemessen lange Verzögerungen seitens der Justiz vorgesehen sind.

Im vorliegenden Fall wurde von der Reg. nicht bestritten, dass dem Bf. gegen die überlange Verfahrensdauer kein konkretes Rechtsmittel zur Verfügung stand. Sie brachte allerdings vor, dass einzelne Rechtsbehelfe wie Haftbeschwerden gegen die Verhängung oder die Fortsetzung der Untersuchungshaft, Gesuche an den Präsidenten des jeweiligen Gerichts oder an den Justizminister in ihrer Gesamtheit den Erfordernissen des Art. 13 EMRK genügt hätten. Die Reg. konnte jedoch nicht überzeugend darlegen, dass auch nur ein einzelnes oder alle genannten Rechtsmittel gemeinsam zu einer zügigen Entscheidung über die Stichhaltigkeit der Anklage oder zumindest zur Festsetzung einer angemessenen Entschädigung für bereits festgestellte Verfahrensverzögerungen geführt hätten. Der Bf. verfügte demnach über keinerlei innerstaatliches Rechtsmittel, mit dem er sein Recht auf Entscheidung innerhalb angemessener Frist gemäß Art. 6 (1) EMRK wahrnehmen konnte. Verletzung von Art. 13 EMRK (16:1 Stimmen, Sondervotum von Richter Casadevall).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

PLN 30.000,-- für immateriellen Schaden; PLN 20.000,-- für Kosten und Auslagen abzüglich der Verfahrenskostenhilfe des Europarates (einstimmig).

Anm.: Vgl. den vom GH zitierten Fall Aerts/B, Urteil v. 30.7.1998 (= NL 1998, 140).

Anm.: Die Kms. hatte in ihrem Ber. v. 26.10.1999 Verletzungen der Art. 3 EMRK (14:13 Stimmen), Art. 5 (3) EMRK und Art. 6 (1) EMRK (beide einstimmig) festgestellt. Keine gesonderte Prüfung der behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK (18:9 Stimmen).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 26.10.2000, Bsw. 30210/96, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 219) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/Kudla.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.