JudikaturJustizBsw29537/95

Bsw29537/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. November 2002

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer I, Beschwerdesache Radaj gegen Polen, Urteil vom 28.11.2002, Bsw. 29537/95 und Bsw. 35453/97.

Spruch

Art. 8 EMRK - Überwachung des Briefverkehrs eines Häftlings mit der EKMR.

Verletzung von Art. 8 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: EUR 500,- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Während der Bf. sich in Untersuchungshaft befand, wurden zwei am 20.3. bzw. 14.5.1996 an ihn gerichtete Briefe des Sekretariats der EKMR von der Gefängnisverwaltung abgefangen, geöffnet und gelesen. Anschließend wurden sie an das Gericht, bei dem das Strafverfahren gegen den Bf. anhängig war, weiter geleitet.

Am 29.4.1996 ersuchte der Bf. den Präsidenten dieses Gerichts um eine Darlegung der rechtlichen Grundlage dieser Maßnahme. Er wiederholte seine Beschwerde am 31.7.1996 in ei­nem Schreiben an den Präsidenten des übergeordneten Gerichts. Dieser teilte dem Bf. mit, dass Art. 8 EMRK eine Zensur des Schriftverkehrs von Personen in Untersuchungshaft nicht verbieten würde. Sie wäre in § 33 (2) der Regeln über die Untersuchungshaft vorgesehen, in dessen Anwendungsbereich auch die Korrespondenz mit der EKMR falle. Die EMRK enthalte keine Bestimmungen über die Unverletzlichkeit des Schriftverkehrs mit der EKMR.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung des Briefverkehrs).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK:

Der Bf. bringt vor, das Öffnen und Lesen seiner Korrespondenz mit der EKMR verletze ihn in seinen durch Art. 8 (1) EMRK gewährleisteten Rechten.

Die Praxis des Öffnens und Lesens der Briefe von Häftlingen stellt einen Eingriff in das Recht auf Achtung des Briefverkehrs dar. Es ist von höchster Bedeutung für die Wirksamkeit des in Art. 34 EMRK vorgesehenen Systems der Individualbeschwerde, dass tatsächliche oder potentielle Bf. in der Lage sind, frei mit den Konventionsorganen zu kommunizieren, ohne irgendeiner Form von Druck seitens der Behörden ausgesetzt zu sein, ihre Bsw. zu ändern oder zurück zu ziehen. Im vorliegenden Fall deutet nichts auf die Ausübung unzulässigen Drucks hin. Es ist jedoch von grundlegender Bedeutung für die wirksame Ausübung des Rechts auf eine Individualbeschwerde, dass der Briefverkehr Gefangener mit den Konventionsorganen keiner wie auch immer gearteten Kontrolle unterworfen wird, die diese potentiell davon abhalten könnten, ihren Fall vor den GH zu bringen. Der Eingriff beruhte auf einer gesetzlichen Grundlage, nämlich § 33

(2) der Regeln über die Untersuchungshaft. Das Erfordernis „gesetzlich vorgesehen" verlangt jedoch nicht nur Übereinstimmung mit dem innerstaatlichen Recht, sondern bezieht sich auch auf die Qualität dieses Rechts. Die einschlägigen Bestimmungen des poln. Rechts gestatteten das generelle Öffnen und Lesen des Schriftverkehrs der Häftlinge, ohne Rücksicht darauf, mit wem der Schriftverkehr erfolgt. Das Gesetz enthielt keine Richtlinien für die Ausübung dieser Kontrolle und die Behörden waren auch nicht verpflichtet, ihre Handlungen zu begründen. Den betroffenen Personen stand kein Rechtsmittel gegen die Ausübung dieser Kontrollbefugnis zur Verfügung. Der Eingriff beruhte daher nicht auf einer gesetzlichen Grundlage iSv. Art. 8 (2) EMRK. Verletzung von Art. 8 (1) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

EUR 500,-- für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Petra/ROM v. 23.9.1998 (= NL 1998, 199).

Niedbala/PL v. 4.7.2000.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.11.2002, Bsw. 29537/95 und Bsw. 35453/97, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2002, 268) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/02_6/Radaj.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.