JudikaturJustizBsw2933/03

Bsw2933/03 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
20. Mai 2010

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Cox gegen die Türkei, Urteil vom 20.5.2010, Bsw. 2933/03.

Spruch

Art. 10 EMRK - Verbot der Wiedereinreise aufgrund kontroversieller Äußerungen zur Kurden- und Armenierfrage.

Zulässigkeit der Beschwerde bezüglich der behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK(einstimmig).

Unzulässigkeit der übrigen Beschwerdepunkte (einstimmig).

Verletzung von Art. 10 EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 12.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Die Bf., eine Staatsbürgerin der USA, studierte und unterrichtete an türkischen Universitäten. 1986 wurde sie auf Anordnung des türkischen Innenministeriums aus der Türkei ausgewiesen und ihr die Wiedereinreise verboten, da sie ihren Studenten gegenüber geäußert habe, die Türken hätten die Armenier vertrieben und ermordet, die Kurden assimiliert und ihre Kultur ausgebeutet.

Es gelang der Bf., wieder in die Türkei einzureisen. 1989 wurde sie jedoch festgenommen, während sie Flugblätter für den Protest gegen den Film »The Last Temptation of Christ« verteilte. Sie wurde erneut ausgewiesen.

Das türkische Innenministerium fertigte einen Bericht über die Bf. an, in dem auszugsweise die folgenden Passagen zu lesen waren: »(die Bf., die) als Missionarin in unserem Land arbeitet«, »(die Bf., die) unter polizeiliche Beobachtung gestellt wurde, nachdem sie einen protestantischen Gottesdienst in der Türkei besucht hat«. Dieser Bericht wurde dem EGMR allerdings nicht vorgelegt.

1996 reiste die Bf. erneut in die Türkei ein. Bei ihrer Ausreise wurde das Verbot der Wiedereinreise in ihren Pass eingetragen. Daraufhin leitete die Bf. am 14.10.1996 durch ihren Anwalt ein Verfahren gegen den Innenminister beim Verwaltungsgericht Ankara ein, in dem sie die Aufhebung des Wiedereinreiseverbots beantragte. Sie berief sich darauf, dass der Grund für ihre Ausweisung ihre Religion und sie daher in ihrem Recht auf Religionsfreiheit verletzt sei. Der Innenminister brachte vor, dass die Ausweisung allein auf die Äußerungen der Bf. zurückzuführen sei, welche separatistische Aktivitäten darstellten und daher die nationale Sicherheit der Türkei bedrohten. Das Verwaltungsgericht wies die Beschwerde der Bf. am 17.10.1997 mit der Begründung ab, ihre Meinungen seien mit der nationalen Sicherheit und politischen Vorgaben unvereinbar, die Entscheidung des Ministeriums stimme mit der Gesetzeslage überein und Grundrechte oder -freiheiten der Bf. seien nicht betroffen. Die Berufung der Bf. wurde am 20.1.2000 vom Obersten Verwaltungsgericht abgewiesen.

Die Bf. beantragte daraufhin eine Berichtigung der Entscheidung vom 17.10.1997 und berief sich darauf, dass das Handeln des Ministeriums sowie die gerichtliche Entscheidung ihre Meinungsäußerungsfreiheit verletzten. Der Antrag wurde vom Obersten Verwaltungsgericht per Entscheidung vom 26.12.2001 zurückgewiesen, welche der Bf. am 5.3.2002 zugestellt wurde.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. rügt Verletzungen von Art. 9 EMRK (hier: Religionsfreiheit) sowie von Art. 10 EMRK (Meinungsäußerungsfreiheit).

Die Bf. verabsäumte es, ihre Beschwerde bezüglich Art. 9 EMRK zu substantiieren, indem sie dem GH keine Kopie des Berichts des Innenministers zukommen ließ. Daher und mit Bedacht auf die Gründe für das Wiedereinreiseverbot, die die Bf. vor den nationalen Gerichten beanstandete, hält der GH es für angemessen, die Beschwerde nur unter Art. 10 EMRK zu untersuchen.

Weiters beschwert sich die Bf. über Verletzungen von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) aufgrund der Verfahrensdauer sowie von Art. 7 EMRK (Nulla poena sine lege), da die Ausweisung und das Wiedereinreiseverbot aufgrund ihrer religiösen Aktivitäten erfolgt wären. Sie behauptet weiters eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot), da Personen, die islamische Propaganda betreiben, im Gegensatz zu jenen, die christliche Propaganda betreiben, in der Türkei keine Sanktionen zu erwarten hätten. Einen Verstoß gegen Art. 17 EMRK (Verbot des Missbrauchs der Rechte) sieht die Bf. in der Interpretation der Gesetze durch das Oberste Verwaltungsgericht, wonach die Äußerung einer Meinung, die den vorherrschenden politischen Ideen entgegensteht, die nationale Sicherheit gefährde. Letztlich machte sie eine Verletzung von Art. 1 7. Prot. EMRK (Verfahrensgarantien bei Ausweisung) geltend.

I. Zulässigkeit der Beschwerde

Der GH kann aufgrund der Sechsmonatsregel im Sinne des Art. 35 Abs. 1 EMRK die Beschwerde nur hinsichtlich jener Ereignisse prüfen, die sich ab 1996 zugetragen haben. Ereignisse vor diesem Zeitpunkt können nur als Hintergrundinformation herangezogen werden.

Da die Beschwerde hinsichtlich Art. 10 EMRK in Bezug auf die Ereignisse ab 1996 nicht offensichtlich unbegründet im Sinne von Art. 35 Abs. 3 EMRK ist, ist sie für zulässig zu erklären (einstimmig).

Alle übrigen Beschwerdepunkte werden vom GH als offensichtlich unbegründet gemäß Art. 35 Abs. 3 EMRK erachtet und aus diesem Grund für unzulässig erklärt (einstimmig).

II. Zur behaupteten Verletzung von Art. 10 EMRK

1. Eingriff in den Schutzbereich

Der GH merkt an, dass sich die Bf. nicht darüber beschwert, dass sie nicht in der Türkei bleiben und leben durfte, sondern, dass ihr aufgrund ihrer Aussagen die Wiedereinreise verboten wurde. Ein Recht von Ausländern, in ein Land einzureisen, ist zwar als solches nicht in der Konvention enthalten, Immigrationskontrollen müssen jedoch im Einklang mit den Konventionsbestimmungen stehen.

Der GH befasste sich bereits früher mit ähnlichen Fällen, jedoch meist hinsichtlich Fragen der Religionsfreiheit. (Anm.: Perry/LV v. 8.11.2007; Nolan und K./RUS v. 12.2.2009.) Seine diesbezüglichen Ausführungen sind jedoch auch im Kontext der Meinungsäußerungsfreiheit relevant. Bereits im Fall Piermont/F stellte der GH einen Eingriff in den Schutzbereich von Art. 10 EMRK fest. Es handelte sich hier um einen Fall der Ausweisung eines deutschen Staatsbürgers aus bzw. eines Wiedereinreiseverbots nach Französisch-Polynesien aufgrund von kritischen Aussagen gegenüber der französischen Politik. Zum gleichen Ergebnis kam der GH auch in einem aktuelleren Fall, in dem ein Schiff vom Befahren portugiesischer Gewässer abgehalten wurde, weil die Besatzung eine Kampagne zur Entkriminalisierung der Abtreibung plante. (Anm.: Women on Waves u.a./P v. 3.2.2009 = NL 2009, 31.)

Im vorliegenden Fall erfolgte das Wiedereinreiseverbot aufgrund der Inhalte von Konversationen der Bf. mit Studierenden und Kollegen. Es steht im materiellen Zusammenhang mit ihrem Recht auf freie Meinungsäußerung, da es gegen den Grundsatz verstößt, dass das Recht auf freie Meinungsäußerung Staatsbürgern und Ausländern im gleichen Ausmaß zu gewähren ist. Art. 10 EMRK umfasst auch das Recht, Informationen zu verbreiten. Da die Bf. durch das Wiedereinreiseverbot davon abgehalten wird, Informationen und Ideen in der Türkei zu verbreiten, prüft der GH, ob dieser Eingriff mit Art. 10 Abs. 2 EMRK vereinbar ist.

2. Vorliegen einer gesetzlichen Grundlage

Die Ausweisung erfolgte aufgrund von § 8 Abs. 4 und Abs. 5 Reisepassgesetz (Gesetz Nr. 5382). Die Frage, ob diese Norm auch ausreichend klar formuliert ist, um die Anforderungen an ein Gesetz iSv. Art. 10 Abs. 2 EMRK erfüllen zu können, lässt der GH angesichts seiner folgenden Ausführungen offen.

3. Vorliegen eines legitimen Ziels

Die Regierung brachte vor, dass die Einschränkung im Interesse der nationalen Sicherheit, der territorialen Integrität, der öffentlichen Sicherheit und der Prävention von Störungen der öffentlichen Ordnung und Verbrechen nötig sei.

Der GH akzeptiert, dass eines oder mehrere dieser legitimen Ziele dem Handeln der Regierung zugrunde lagen.

4. Notwendigkeit in einer demokratischen Gesellschaft

Der GH betont, dass die Meinungsäußerungsfreiheit die Basis einer demokratischen Gesellschaft, ihrer Fortentwicklung sowie für die Selbstverwirklichung eines jeden ist. Im Sinne von Pluralismus, Toleranz und Aufgeschlossenheit umfasst sie auch Informationen und Ideen, die als angreifend, schockierend oder störend empfunden werden. Für Einschränkungen gemäß Art. 10 Abs. 2 steht den Staaten zwar ein Ermessensspielraum zu, dieser ist jedoch eng angesichts der hohen Relevanz des fraglichen Rechts und streng zu überwachen. Die Notwendigkeit des Eingriffs muss überzeugend dargelegt werden.

Der GH hat daher den Fall als Ganzes zu betrachten und festzustellen, ob der Eingriff von der Regierung sachlich und ausreichend begründet wurde und ob die Maßnahmen verhältnismäßig zum verfolgten Ziel waren.

Es ist festzuhalten, dass die Bf. für ihre Aussagen über die Kurden- und Armenierfrage, die weltweit stark diskutiert wird, niemals strafrechtlich verfolgt wurde.

Wenn ein Eingriff in ein Konventionsrecht in Form eines Wiedereinreiseverbots erfolgt, ist der GH berechtigt, die diesbezüglichen Gründe zu überprüfen. Der GH kann keine Anhaltspunkte erkennen, wie die Aussagen der Bf. die nationale Sicherheit der Türkei gefährden hätte können. Dass das Wiedereinreiseverbot, entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts Ankara, sehr wohl die Grundrechte und -freiheiten der Bf. betraf, hat der GH bereits oben festgestellt.

Der Eingriff wurde folglich nicht ausreichend und sachlich begründet und war somit nicht notwendig in einer demokratischen Gesellschaft im Sinne von Art. 10 Abs. 2 EMRK. Es liegt daher eine Verletzung von Art. 10 EMRK vor (einstimmig).

III. Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 12.000,– für immateriellen Schaden (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Autronic AG/CH v. 22.5.1990, EuGRZ 1990, 261; ÖJZ 1990, 716.

Piermont/F v. 27.4.1995, NL 1995, 125; ÖJZ 1995, 751.

Feldek/SK v. 12.7.2001, NL 2001, 149; ÖJZ 2002, 814.

Perry/LV v. 8.11.2007.

Women On Waves u.a./P v. 3.2.2009, NL 2009, 31.

Nolan und K./RUS v. 12.2.2009.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 20.5.2010, Bsw. 2933/03, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2010, 160) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/10_3/Cox.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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