JudikaturJustizBsw27783/95

Bsw27783/95 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
14. November 2000

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer III, Beschwerdesache T. gegen Österreich, Urteil vom 14.11.2000, Bsw. 27783/95.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK, Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK, § 69 ZPO, § 220 ZPO - Angemessene Verfahrensdauer und Mutwillensstrafen in einem Zivilverfahren.

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. a EMRK bzw. iVm. Art. 6 Abs. 3 lit. b EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: ATS 5.218,- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

A.) Das Verfahren zwischen dem Bf. und der C-Bank:

Am 27.6.1988 brachte die C-Bank gegen den Bf. eine Klage auf Bezahlung von ATS 8.497,-- ein, nachdem dieser sein Konto aufgelöst hatte und der Bank noch diesen Betrag schuldete. Am 18.7.1988 erließ das BG Hietzing einen Zahlungsbefehl gegen den Bf. Der Bf. erhob durch seinen Rechtsanwalt K. dagegen Einspruch. Am 15.11.1988 fand die erste Streitverhandlung statt. Am 20.1.1989 wurde das Gericht informiert, dass der Bf. von nun an von Rechtsanwältin O. vertreten werde. Eine für 9.2.1989 anberaumte Verhandlung wurde verschoben und für den 22.10.1989 angesetzt. Am 13.12.1989 brachte der Bf. eine Widerklage in Höhe von ATS 89.543,-- ein.

Am 29.6.1990 beschloss das BG, das Verfahren zu unterbrechen, um das Urteil in einem Verfahren vor dem LG für Zivilrechtssachen zwischen dem Bf. und einem gewissen E. abzuwarten. Dieser Unterbrechungsbeschluss wurde vom LG für Zivilrechtssachen am 16.10.1990 aufgehoben. Frau O. informierte am 16.1.1991 das BG, dass der Bf. nicht mehr von ihr vertreten werde. Am 11.4.1991 und 10.10.1991 wurde von Richterin Ed. weitere Verhandlungen abgehalten. In der letzteren wurde erneut das Verfahren wegen Klärung einer Vorfrage unterbrochen.

Am 4.2.1992 entschied das LG für Zivilrechtssachen, dass die Unterbrechung des Verfahrens zu Unrecht erfolgt war. Das BG nahm fälschlicherweise an, dass es sich beim am LG für Zivilrechtssachen anhängigen Verfahren zwischen dem Bf. und E. um eine präjudizielle Vorfrage gehandelt hatte.

Am 18.1.1993 meldete sich Richterin Ed. befangen. Der Vorsteher des BG Hietzing übertrug das Verfahren Richter A. Eine für 26.1.1993 anberaumte Verhandlung wurde verschoben. Zu dieser Zeit wurde der Bf. durch Frau W. vertreten.

Am 23.2.1993 wurde das BG informiert, dass Rechtsanwältin W. den Bf. nicht länger vertritt. Die nächste Verhandlung war für 21.6.1993 angesetzt, wurde aber auf Antrag des Bf. auf 12.7.1993 verschoben. Am 17.6.1993 stellte der Bf. einen Antrag auf Verfahrenshilfe, der am 5.7.1993 abgelehnt wurde. Am 9.7.1993 wurde Herr H. von der Rechtsanwaltskammer als Vertreter für den Bf. bestellt. Am 21.1.1994 fand eine weitere Verhandlung statt. Am 25.2.1994 wurde das BG informiert, dass Rechtsanwalt H. den Bf. nicht länger vertritt. Am 18.4.1994 wurde die für 22.4.1994 anberaumte Verhandlung abgesetzt, da im gegenständlichen Verfahren Anwaltszwang herrsche und der Bf. zwar Verfahrenshilfe beantragt hatte, aber noch nicht vertreten sei. Am 11.10.1996 ordnete Richter Z. den 30.10.1996 als Datum für die nächste Verhandlung an, die schließlich auf Antrag der klagenden Partei auf 2.12.1996 verschoben wurde. Am 2.12.1996 erschien keine der Parteien, es trat Ruhen des Verfahrens ein. B.) Der Verfahrensabschnitt, der zur Mutwillensstrafe gegen den Bf. führte:

Am 8.4.1994 beantragte der Bf. erneut Verfahrenshilfe. Im Standardformblatt für den Verfahrenshilfeantrag wird darauf hingewiesen, dass bei unrichtigen oder unvollständigen Angaben im Vermögensbekenntnis eine Mutwillensstrafe verhängt werden kann. Der Bf. gab an, seit 1.10.1993 ohne Einkommen zu sein. Er habe auch keine Verwandten und bekomme nur gelegentliche Unterstützung von einigen wenigen Bekannten.

Am 11.4.1994 ordnete das BG an, der Bf. möge Name und Adresse der ihn unterstützenden Personen, sowie die Höhe der Zahlungen wie auch deren Intervalle bekannt geben. Der Bf. informierte das BG am 15.4.1994, dass er ATS 200,-- von einer gewissen Frau F. erhalte. Am 5.5.1994 lehnte das BG seinen Antrag ab und verhängte über ihn eine Mutwillensstrafe in Höhe von ATS 30.000,--, da er unrichtige Angaben über seine Vermögensverhältnisse gemacht habe. Dieser Beschluss wurde vom Bf. am 8.5.1994 angefochten.

Am 28.2.1995 entschied das LG für Zivilsachen Wien, dass dem Bf. zu Recht keine Verfahrenshilfe gewährt wurde. Auch das Verhängen einer Mutwillensstrafe sei rechtmäßig gewesen. Am 16.8.1995 wandelte das BG Hietzing die Geldstrafe wegen Zahlungsunfähigkeit des Bf. in eine zehntägige Haftstrafe um.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptet eine Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (hier: Recht auf angemessene Verfahrensdauer) und Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3) (a) EMRK (Recht auf Unterrichtung über die Anklage) bzw. iVm. Art. 6

(3) (b) EMRK (Recht auf Vorbereitung der Verteidigung). Zur behaupteten Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer:

Das Verfahren wies einen gewissen Grad an Komplexität auf. Verzögerungen mit einer Gesamtdauer von insgesamt vier Jahren und drei Monaten waren jedoch dem BG Hietzing zuzurechnen. Die durch den Bf. verursachten Verzögerungen fielen weit weniger ins Gewicht. Eine Verfahrensdauer von achteinhalb Jahren für eine Instanz ist nicht mehr angemessen iSv. Art. 6 (1) EMRK. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3) EMRK:

Der Bf. beschwert sich darüber, dass der zuständige Richter ihn nicht über seinen Verdacht in Kenntnis setzte und deshalb eine Mutwillensstrafe erwog.

A.) Zur Anwendbarkeit von Art. 6 (1) EMRK:

Zunächst ist zu prüfen, ob die gegen den Bf. verhängte Mutwillensstrafe als strafrechtliche Anklage iSv. Art. 6 (1) EMRK angesehen werden kann. Dabei sind drei Kriterien maßgeblich: die rechtliche Qualifikation der einer Strafe zugrundeliegenden Straftat im innerstaatlichen Recht, der Charakter dieser Straftat und die Art und Schwere der möglichen Strafe.

Die Erschleichung der Verfahrenshilfe nach § 69 ZPO zählt in der österr. Rechtsordnung nicht zum Strafrecht. Auch ist diese Tat unter Berücksichtigung der einem Gericht inhärenten Gewalt, den ordentlichen und disziplinierten Ablauf eines Verfahrens zu gewährleisten, eher als ein Disziplinarvergehen zu betrachten. Es bleibt zu prüfen, ob nicht Art und Schwere der angedrohten Strafe die Angelegenheit in den "strafrechtlichen" Anwendungsbereich von Art. 6

(1) EMRK bringt.

Die in § 69 iVm. § 220 ZPO angedrohte Höchststrafe ist mit ATS 400.000,-- bedeutend höher als in ähnlich gelagerten Fällen vor dem GH. Auch für die tatsächlich verhängte Geldstrafe in Höhe von ATS 30.000,-- trifft dies zu. Unter Bedachtnahme auf die Höhe der Geldstrafe und der Möglichkeit, sie in eine Ersatzfreiheitsstrafe umzuwandeln, ist das, was für den Bf. auf dem Spiel stand, bedeutend genug, um die Zuwiderhandlung als strafrechtlich zu qualifizieren. B.) Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3)

EMRK:

Am 11.4.1994 forderte das BG den Bf. auf, seinen Verfahrenshilfeantrag zu ergänzen. Der Bf. wurde jedoch nicht darauf hingewiesen, dass er der Erschleichung der Verfahrenshilfe verdächtigt werde. Über den Bf. wurde ohne Abhaltung einer Verhandlung eine Mutwillensstrafe verhängt. Dieser hatte erst von den gegen ihn erhobenen Anschuldigungen erfahren, als ihm der Beschluss des Gerichts zugestellt wurde. Auch das Rechtsmittelverfahren vor dem LG für Zivilrechtssachen vermochte diese Mängel nicht zu heilen, da es in nichtöffentlicher Verhandlung die Entscheidung des Erstgerichts bestätigte hatte. Vom Bf. neu vorgebrachte Tatsachenbehauptungen bzw. Beweismittel waren wegen des Neuerungsverbotes unzulässig. Verletzung von Art. 6 (1) EMRK iVm. Art. 6 (3) (a) EMRK bzw. iVm. Art. 6 (3) (b) EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK:

ATS 5.218,-- für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Anm.: Vgl. die vom GH zitierten Fälle Ravnsborg/S, Urteil v.

23.3.1995, A/283-B (= NL 1994, 86); Putz/A, Urteil v. 22.2.1996 (= NL

1996, 46 = ÖJZ 1996, 434).

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 14.11.2000, Bsw. 27783/95, entstammt der Zeitschrift „ÖIMR-Newsletter" (NL 2000, 226) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/00_6/T..pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.