JudikaturJustizBsw20452/14

Bsw20452/14 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
19. Dezember 2018

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Große Kammer, Beschwerdesache Molla Sali gg. Griechenland, Urteil vom 19.12.2018, Bsw. 20452/14.

Spruch

Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK - Änderung von erbrechtlichen Ansprüchen durch Anwendung der Scharia.

Zulässigkeit der Beschwerde (einstimmig).

Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot EMRK (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: Die Frage der Entschädigung ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Im Friedensvertrag von Lausanne mit der Türkei aus 1923 anerkannte Griechenland die Existenz einer muslimischen Minderheit in West-Thrakien in Nordost-Griechenland. Das griechische Recht erlaubt muslimischen Staatsbürgern, die in West-Thrakien wohnen, die Scharia als paralleles Privatrechtssystem zu verwenden. Sogenannten muftis wird dabei die gerichtliche Befugnis eingeräumt, über erbrechtliche Streitigkeiten zwischen Muslimen zu entscheiden. Nach der Scharia ist es insbesondere nicht vorgesehen, durch ein Testament iSd. Zivilrechtes zu vererben.

Der Ehemann der Bf., der der muslimischen Gemeinschaft von Thrakien angehörte, verstarb am 21.3.2008. Am 7.2.2003 hatte er entsprechend den einschlägigen Bestimmungen des Zivilgesetzbuches (ZGB) ein notarisiertes Testament errichtet, mit dem er seinen gesamten Nachlass der Bf. hinterließ. Dieser umfasste mehrere Immobilien bzw. Anteile daran.

Am 10.6.2008 anerkannte das erstinstanzliche Gericht von Komotini das Testament, das von der Bf. vorgelegt worden war. Am 6.4.2010 nahm die Bf. den Nachlass in einer notariellen Urkunde an. Sie veranlasste daraufhin die Eintragung ihrer Rechte an den Grundstücken im Grundbuch.

Die beiden Schwestern des Verstorbenen hatten bereits am 12.12.2009 die Gültigkeit des Testaments gerichtlich angefochten. Sie waren der Ansicht, dass die Erbschaft aufgrund völkerrechtlicher Verpflichtungen Griechenlands nach der Scharia zu regeln sei und nicht nach den Bestimmungen des ZGB, da der Erblasser – ebenso wie sie selbst – der muslimischen Gemeinschaft von Thrakien angehört hatte. Nach der Scharia stünden ihnen drei Viertel des Nachlasses zu. Nachdem ihnen vor den Gerichten erster und zweiter Instanz zunächst kein Erfolg beschieden war, gab das Kassationsgericht ihrer Berufung statt und verwies den Fall an das Gericht zweiter Instanz zurück. Dieses bestätigte am 15.12.2015 die Anwendung der Scharia. Diese bewirke, dass ein Testament wie das vom Ehemann der Bf. errichtete ohne rechtliche Wirkung bleibe, weshalb sich die Bf. nicht darauf berufen könne. Die Berufung der Bf. gegen dieses Urteil wurde vom Kassationsgericht am 6.4.2017 abgewiesen. Die Bf. verlor daraufhin drei Viertel des an sie vererbten Vermögens.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Die Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK (Recht auf Achtung des Eigentums) durch die Anwendung der Scharia, was zu einer erheblichen Verringerung ihres Erbes im Vergleich zur Anwendung des gewöhnlichen Erbrechts für Erblasser nichtmuslimischen Glaubens geführt habe.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 14 iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK

Zulässigkeit

(92) Die Regierung ersuchte den GH darum, die Beschwerde wegen fehlender Opfereigenschaft der Bf. zurückzuweisen. Die gerichtlichen Entscheidungen im Fall der Bf. hätten keinen Hinweis darauf enthalten, dass sie einer Ungleichbehandlung aus Gründen des Geschlechts oder der Religion unterworfen worden sei. [...] Zudem hätte die Bf. keinen Anspruch darauf gehabt, das fragliche Vermögen zu erben, und keine legitime Erwartung, es unter einem Testament zu erlangen. [...]

(95) Unter den besonderen Umständen des Falles ist die Einrede der Regierung so eng mit dem Inhalt der Beschwerde [...] unter Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK verbunden, dass sie mit der Entscheidung in der Sache zu verbinden ist (einstimmig).

(96) Da die Beschwerde nicht offensichtlich unbegründet [...] und auch aus keinem anderen Grund unzulässig ist, erklärt sie der GH für zulässig (einstimmig).

In der Sache

Zur Anwendbarkeit von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK

(129) Der GH hat bereits Fälle behandelt, wo nach einem Todesfall in der Familie nahe Verwandte entsprechend dem einschlägigen Recht automatisch einen Anspruch auf den Nachlass erwarben. Der vorliegende Fall betrifft jedoch den Erwerb eines erbrechtlichen Anspruchs aufgrund eines Testaments nach dem ZGB.

(130) Im vorliegenden Fall muss festgehalten werden, dass das erstinstanzliche Gericht von Komotini das Testament mit seiner Entscheidung vom 10.6.2008 anerkannte und die Bf. den Nachlass ihres Mannes am 6.4.2010 in einer notariellen Urkunde annahm. [...] Der Fiskus wurde davon in Kenntnis gesetzt. Die Bf. registrierte die ihr übertragenen Grundstücke im Grundbuch [...] und bezahlte die Eintragungsgebühr. [...] Der einzige Grund, warum die Bf. den in Art. 1956 ZGB vorgesehenen Erbschein nicht erhielt, war, dass die Schwestern des Verstorbenen die Gültigkeit des Testaments angefochten hatten, nachdem es vom erstinstanzlichen Gericht [...] anerkannt worden war. Daher hätte die Bf. den gesamten Nachlass ihres Ehemannes geerbt, wäre der Erblasser nichtmuslimischen Glaubens gewesen.

(131) Unter diesen Umständen befindet der GH, dass das vermögenswerte Interesse der Bf. am Erbe ihres Mannes ausreichend und entsprechend anerkannt war, um »Eigentum« iSd. Bestimmung im ersten Satz des ersten Absatzes von Art. 1 1. Prot. EMRK darzustellen.

(132) Folglich fällt das vermögenswerte Interesse der Bf. in den Anwendungsbereich von Art. 1 1. Prot. EMRK und das dadurch garantierte Recht auf Achtung des Eigentums. Das reicht aus, um Art. 14 EMRK anwendbar zu machen.

Beachtung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK

Lagen eine analoge oder ausreichend vergleichbare Situation und eine Un- gleichbehandlung vor?

(138) Die erste Aufgabe ist es zu bestimmen, ob die Bf., eine verheiratete Frau, die durch das Testament ihres muslimischen Ehemanns begünstigt wurde, sich in einer analogen oder ausreichend ähnlichen Situation befand wie eine verheiratete weibliche Begünstigte des Testaments eines nichtmuslimischen Ehemanns.

(139) Der Mann der Bf., der Mitglied der muslimischen Gemeinschaft von Thrakien war, hatte zu Lebzeiten im Einklang mit den Bestimmungen des ZGB ein notarisiertes Testament aufgesetzt, mit dem er seinen gesamten Nachlass an seine Frau vererbte. Es steht außer Zweifel, dass sie erwartete – wie jeder andere griechische Staatsbürger es auch getan hätte –, dass der Nachlass ihres Mannes nach dessen Tod im Einklang mit diesem Testament geregelt werden würde.

(140) Mit Urteil vom 7.10.2013 hob das Kassationsgericht jedoch das Urteil des Berufungsgerichts Thrakien vom 28.9.2011 auf [...]. Dieses hatte festgehalten, dass der Erblasser, der frei war, die Art des letzten Willens zu wählen, den er in Ausübung seiner Rechte aufsetzen wollte, und der daher ein öffentliches Testament im Einklang mit Art. 1724 ZGB errichten konnte, nicht verpflichtet war, dem islamischen Recht zu folgen, das Fragen im Zusammenhang mit solchen Testamenten nicht abdeckte. Das Kassationsgericht stellte hingegen fest, dass das Berufungsgericht eine Rechtsverletzung begangen habe, weil auf den Nachlass des Verstorbenen das islamische Erbrecht anzuwenden gewesen wäre, das Teil des innerstaatlichen Rechts und [...] speziell auf griechische Muslime anwendbar war. [...] Das fragliche Testament hätte jede rechtliche Wirkung verloren. Mit dieser Entscheidung versetzte das Kassationsgericht die Bf. in eine unterschiedliche Situation im Vergleich zu einer verheirateten weiblichen Begünstigten des Testaments eines nichtmuslimischen Ehemanns. [...]

(141) Im Ergebnis befand sich die Bf. als Begünstigte eines von einem Erblasser muslimischen Glaubens im Einklang mit dem ZGB errichteten Testaments in einer ausreichend ähnlichen Situation wie die Begünstigte eines von einem nichtmuslimischen Erblasser im Einklang mit dem ZGB errichteten Testaments und wurde aufgrund eines »sonstigen Status«, nämlich der Religion des Erblassers, unterschiedlich behandelt.

War die unterschiedliche Behandlung gerechtfertigt?

(142) Der GH wiederholt, dass es nicht seine Rolle ist, darüber zu entscheiden, welche Auslegung der innerstaatlichen Gesetzgebung die korrekte ist, sondern zu befinden, ob die Art, auf welche diese Gesetzgebung angewendet wurde, die dem Bf. nach Art. 14 EMRK gewährleisteten Rechte verletzte. Im vorliegenden Fall hat er daher zu entscheiden, ob es eine objektive und angemessene Rechtfertigung für die fragliche Ungleichbehandlung gab, die ihre Grundlage in der Anwendung des innerstaatlichen Rechts hatte.

Die Regierung brachte vor, dass die ständige Rechtsprechung des Kassationsgerichts ein Ziel im öffentlichen Interesse verfolgte, nämlich den Schutz der muslimischen Minderheit von Thrakien. Auch wenn der GH versteht, dass Griechenland durch seine internationalen Verpflichtungen betreffend den Schutz der muslimischen Minderheit von Thrakien gebunden ist, hat er unter den besonderen Umständen des Falles Zweifel daran, ob die strittige Maßnahme betreffend die Erbrechte der Bf. geeignet war, dieses Ziel zu erreichen. Allerdings hält es der GH nicht für nötig, eine bestimmte Sichtweise zu dieser Frage einzunehmen, da die strittige Maßnahme in jedem Fall nicht zum verfolgten Ziel verhältnismäßig war.

(145) Der GH hält zunächst fest, dass die Anwendung der Scharia auf den fraglichen Nachlass ernste Konsequenzen für die Bf. hatte und sie drei Viertel des Erbes beraubte.

(146) Das Kassationsgericht und die Regierung rechtfertigten diese Maßnahme vorrangig mit der Pflicht Griechenlands, seinen internationalen Verpflichtungen Rechnung zu tragen, sowie der besonderen Situation der muslimischen Minderheit in Thrakien. Der GH bemerkt zunächst, dass das Kassationsgericht unter den Umständen des vorliegenden Falles islamisches Erbrecht auf der Basis einer Bestimmung des internationalen Rechts, nämlich Art. 11 des Friedensvertrages zwischen dem Osmanischen Reich und Griechenland von Athen aus 1913, sowie Bestimmungen des innerstaatlichen Rechts, nämlich § 4 des Gesetzes Nr. 147/1914, § 10 des Gesetzes Nr. 2345/1920 (erlassen nach Maßgabe des Vertrages von Athen) und § 5 Abs. 2 des Gesetzes Nr. 1920/1991 anwendete.

(147) Die zivilrechtliche Kammer des Kassationsgerichts stellte in seiner Rechtsprechung fest, dass der für griechische Muslime festgelegte Status durch den Erlass des ZGB im Jahr 1946 nicht aufgehoben wurde [...]. Die vorher genannten gesetzlichen Bestimmungen hätten bezweckt, griechische Muslime zu schützen, stellten spezielles Recht für Beziehungen zwischen Personen dar und würden [...] der Verfassung oder Art. 6 Abs. 1 EMRK nicht zuwiderlaufen.

(148) Die Hauptkonsequenz des vom Kassationsgericht seit 1960 in erbrechtlichen Fällen angewendeten Ansatzes, dem von gewissen unterinstanzlichen Gerichten gefolgt wurde und wonach erbrechtliche Angelegenheiten betreffend Mitglieder der muslimischen Minderheit durch die Scharia geregelt werden mussten, geht dahin, dass von griechischen Staatsangehörigen muslimischen Glaubens errichtete notarisierte Testamente ihrer rechtlichen Wirkung beraubt sind, weil die Scharia lediglich eine gesetzliche Erbfolge anerkennt, außer im Fall von islamischen Testamenten [, die mehr einem Vermächtnis gleichkommen].

(149) Der GH wiederholt, dass es primär den nationalen Behörden und insbesondere den Gerichten obliegt, Probleme im Zusammenhang mit der Auslegung der innerstaatlichen Gesetzgebung zu lösen. Solange die Auslegung nicht willkürlich oder offenkundig unangemessen ist, beschränkt sich die Rolle des GH darauf festzustellen, ob die Auswirkungen der Interpretation mit der Konvention vereinbar sind. Das findet auch Anwendung, wo das innerstaatliche Recht auf Regeln des allgemeinen Völkerrechts oder internationale Verträge Bezug nimmt.

(150) Zu Beginn hält der GH fest, dass das Kassationsgericht die Anwendung der Scharia im vorliegenden Fall auf die Natur des Nachlasses stützte, nämlich Vermögen »in vollem Eigentum« [»mulkia«]. Wie es der GH jedoch versteht, ist das Konzept der mulkia ein Konzept des islamischen Rechts, das nur von Relevanz ist, wenn der Nachlass des Verstorbenen von einem mufti nach der Scharia geregelt wird. Nach Ansicht des GH ist die Rechtfertigung, die Griechenland aus der Scharia oder seinen internationalen Verpflichtungen ableitet, aus den folgenden Gründen nicht überzeugend.

(151) Der GH bemerkt, dass kein Zweifel besteht, dass Griechenland sich durch die Unterzeichnung und Ratifizierung der Friedensverträge von Sèvres und Lausanne dazu verpflichtete, die Bräuche der muslimischen Minderheit zu achten. Angesichts des Wortlauts der fraglichen Bestimmungen verlangen diese Verträge von Griechenland jedoch nicht, die Scharia anzuwenden. [...] Genauer erwähnt der Vertrag von Lausanne die Jurisdiktion des mufti nicht explizit, sondern garantiert die religiöse Besonderheit der griechischen muslimischen Gemeinschaft [...]. Auch übertrug der Vertrag die Jurisdiktion im Hinblick auf solche religiöse Praktiken nicht auf ein spezielles Organ. [...]

(152) Der GH hält ebenso fest, dass § 5 Abs. 2 des Gesetzes 1920/1991, das unter anderem die Kompetenzen des mufti in erbrechtlichen Angelegenheiten auflistet, alleine auf islamische Testamente und gesetzliche Erbfolge Bezug nimmt, und nicht auf die Jurisdiktion von muftis betreffend andere Vererbungsformen. Wie es in Griechenland üblich ist, stimmte der Notar, dessen Dienste vom Mann der Bf. in Anspruch genommen wurden, zu, das Testament wie vom Letztgenannten verlangt zu errichten.

(153) Der GH hält ferner fest, dass – wie auch im vorliegenden Fall – Divergenzen in der Rechtsprechung der Gerichte insbesondere im Hinblick darauf bestehen, ob die Anwendung der Scharia mit dem Grundsatz der Gleichbehandlung und mit internationalen Menschenrechtsstandards vereinbar ist. Solche Divergenzen existieren zwischen Gerichten desselben gerichtlichen Zweiges ebenso wie zwischen dem Kassationsgericht und den Zivilgerichten und dem Kassationsgericht und dem Obersten Verwaltungsgericht und auch innerhalb des Kassationsgerichts selbst. Die Divergenzen schaffen rechtliche Unsicherheit, die mit dem Erfordernis der Rechtsstaatlichkeit unvereinbar ist und damit das oben dargelegte Hauptargument der Regierung untergraben (Rn. 146).

(154) Außerdem kann der GH nur festhalten, dass mehrere internationale Organe ihre Besorgnis im Hinblick auf die Anwendung der Scharia auf griechische Muslime in West-Thrakien und die damit geschaffene Diskriminierung zum Ausdruck gebracht haben [...]

(155) Der GH wiederholt, dass die Religionsfreiheit die Vertragsstaaten gemäß seiner Rechtsprechung nicht dazu verpflichtet, einen speziellen rechtlichen Rahmen zu schaffen, um religiösen Gemeinschaften einen speziellen Status zu gewähren, der besondere Privilegien umfasst. Dennoch muss ein Staat, der einen solchen Status geschaffen hat, sicherstellen, dass die Kriterien für das Anrecht einer Gruppe darauf nicht in einer diskriminierenden Weise angewendet werden.

(156) Zudem kann nicht angenommen werden, dass ein Erblasser muslimischen Glaubens, der ein Testament entsprechend dem ZGB errichtet hat, automatisch auf sein Recht oder das seiner Begünstigten verzichtet hat, nicht auf Basis seiner Religion diskriminiert zu werden. Es kann korrekterweise nicht davon ausgegangen werden, dass die religiösen Überzeugungen einer Person den Verzicht auf gewisse Rechte umfassen, wenn dies einem wichtigen öffentlichen Interesse zuwiderläuft. Ebenso kann der Staat die Rolle des Garanten der Minderheitenidentität einer speziellen Bevölkerungsgruppe nicht zum Nachteil des Rechts der Mitglieder dieser Gruppe wahrnehmen, die Wahl zu treffen, nicht dazuzugehören oder deren Praktiken und Regeln nicht zu folgen.

(157) Mitgliedern einer religiösen Minderheit das Recht zu verweigern, freiwillig für das allgemeine Recht zu optieren oder davon zu profitieren, bedeutet nicht nur eine diskriminierende Behandlung, sondern auch eine Verletzung eines Rechts von äußerster Wichtigkeit im Bereich des Schutzes von Minderheiten, nämlich des Rechts zur freien Selbstidentifikation. Der negative Aspekt dieses Rechts, nämlich das Recht zu entscheiden, nicht als Mitglied einer Minderheit behandelt zu werden, ist nicht auf dieselbe Weise begrenzt wie der positive Aspekt dieses Rechts. Die fragliche Entscheidung ist völlig frei, solange sie in Kenntnis der Sachlage erfolgt. Sie muss sowohl von den anderen Mitgliedern der Minderheit als auch vom Staat selbst respektiert werden. Das wird durch Art. 3 Abs. 1 des Rahmenübereinkommens des Europarats zum Schutz nationaler Minderheiten (Anm: Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten vom 1.2.1995, BGBl. III 1998/120.) gestützt, der Folgendes vorsieht: »aus dieser Entscheidung oder der Ausübung der mit dieser Entscheidung verbundenen Rechte darf kein Nachteil resultieren«. Das Recht auf freie Selbstidentifikation ist kein spezielles Recht des Rahmenübereinkommens. Es ist der Eckpfeiler des internationalen Rechts zum Schutz von Minderheiten im Allgemeinen. Dies trifft besonders auf den negativen Aspekt des Rechts zu: kein bilateraler oder multilateraler Vertrag oder anderes Instrument verlangt von irgendjemandem, sich gegen seinen Willen einem speziellen Regime im Hinblick auf den Schutz von Minderheiten zu unterwerfen.

(158) Zuletzt hält der GH fest, dass der vorliegende Fall den Umstand hervorhebt, dass Griechenland das einzige Land in Europa ist, das bis zur betreffenden Zeit auf einen Teil seiner Bürger gegen ihren Willen die Scharia anwendete. Das ist im vorliegenden Fall besonders problematisch, weil die Anwendung der Scharia eine Situation verursachte, die den individuellen Rechten einer Witwe zum Nachteil gereichte, die den Nachlass ihres Mannes im Einklang mit den zivilrechtlichen Regelungen geerbt hatte, die sich dann aber in einer rechtlichen Situation wiederfand, die weder sie noch ihr Mann beabsichtigt hatten.

(159) Diesbezüglich bemerkt der GH, dass in den Mitgliedstaaten des Europarates die Scharia generell als ausländisches Recht im Rahmen des internationalen Privatrechts angewendet wird. [...] Was das Vereinigte Königreich betrifft, wird die Anwendung der Scharia durch Scharia-Räte nur insoweit akzeptiert, als ein Rückgriff darauf freiwillig bleibt.

(160) Der GH bemerkt mit Zufriedenheit, dass am 15.1.2018 das Gesetz zur Abschaffung der besonderen Bestimmungen, die für die Regelung von familienrechtlichen Fällen innerhalb der muslimischen Minderheit einen Rückgriff auf die Scharia auferlegen, in Kraft trat. Der Rückgriff auf einen mufti in Sachen wie Ehe, Scheidung oder Erbschaft ist nun nur mit Zustimmung aller Betroffenen möglich. Dennoch haben die Bestimmungen des neuen Gesetzes keine Auswirkung auf die Situation der Bf., deren Fall nach dem alten System, das vor dem Erlass dieses Gesetzes vorgesehen war, endgültig entschieden wurde.

(161) Im Ergebnis befindet der GH unter Berücksichtigung der vorangehenden Erwägungen, dass die von der Bf. als Begünstigte eines im Einklang mit dem ZGB errichteten Testaments eines Erblassers muslimischen Glaubens im Vergleich zu einer Begünstigten eines im Einklang mit dem ZGB errichteten Testaments eines nichtmuslimischen Erblassers erlittene Ungleichbehandlung keine objektive und angemessene Rechtfertigung hatte.

(162) Angesichts des Vorgesagten weist der GH die Einrede der Regierung im Hinblick auf den fehlenden Opferstatus der Bf. ab (einstimmig) und stellt fest, dass eine Verletzung von Art. 14 EMRK iVm. Art. 1 1. Prot. EMRK erfolgte (einstimmig; im Ergebnis übereinstimmendes Sondervotum von Richter Mits).

Anwendung von Art. 41 EMRK

Die Frage der Entschädigung ist noch nicht entscheidungsreif (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Serif/GR v. 14.12.1999 = NL 2000, 15

Baranowski/PL v. 28.3.2000

Konstantin Markin/RUS v. 22.3.2012 (GK) = NLMR 2012, 92

Fabris/F v. 7.2.2013 (GK) = NLMR 2013, 37

Izzettin Dogan u.a./TR v. 26.4.2016 (GK) = NLMR 2016, 145

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 19.12.2018, Bsw. 20452/14, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NLMR 2018, 562) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Original des Urteils ist auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte abrufbar: http://hudoc.echr.coe.int/eng?i=001-188985

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