JudikaturJustizBsw18704/05

Bsw18704/05 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
28. Juli 2009

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer II, Beschwerdesache Lee Davies gegen Belgien, Urteil vom 28.7.2009, Bsw. 18704/05.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 8 EMRK, Art. 14 EMRK - Rechtswidrige Beweiserlangung und Fairness des Verfahrens.

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (einstimmig).

Unzulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich der behaupteten Verletzung von Art. 8 EMRK und Art. 14 EMRK (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Am 26.11.1998 führte die Polizei von Furnes eine Kontrolle auf einem Industriegelände durch. Auf dem eingezäunten Gelände befanden sich ein Hauptgebäude und mehrere Baracken. Die Polizeibeamten konnten keinen Verantwortlichen finden, entdeckten auf ihrem Rundgang aber eine Person, die Kisten in einen Lieferwagen räumte. Auf der Suche nach einer weiteren Person betraten sie eine der Baracken, in der sich ein zweiter Lieferwagen befand. Die Tür, die von der Baracke ins Haupthaus führte, war verschlossen, doch fanden die Beamten einen Schlüssel, mit dem sie sich Zugang verschafften. Dort fanden sie K., den Pächter des Geländes, sowie den Bf. Die Beamten forderten letzteren auf, einen der sich im Heck des Lieferwagens befindlichen Kartons zu öffnen und stellten fest, dass dieser Cannabis enthielt. Sie fanden außerdem Pakete mit Marihuana und Haschisch. Befragungen zufolge war der Lieferwagen auf Betreiben des Bf. und von dessen Geld gekauft worden.

Gegen den Bf. wurde ein Verfahren wegen Drogenhandels und Bildung einer kriminellen Vereinigung eingeleitet. Am 29.5.2001 wurde er vom Strafgericht Furnes jedoch aus dem Grunde der rechtswidrigen Beweismittelerlangung freigesprochen. Das Appellationsgericht Gent verurteilte ihn hingegen zu zwei Jahren bedingter Freiheitsstrafe und einer Geldstrafe. Die Staatsanwaltschaft hatte in ihrer Berufung auf die belgische Gesetzeslage verwiesen, der gemäß Polizeibeamte öffentlich zugängliche Orte immer betreten dürfen, um für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung oder die Wahrung des Gesetzes und der polizeilichen Bestimmungen zu sorgen. Das Gericht differenzierte diesbezüglich zwischen den Polizeiaktionen, die auf dem Industriegelände und jenen, die in den Gebäuden stattgefunden hatten. Die im Freien gesetzten Handlungen sah es als rechtmäßig an, da das Gelände öffentlich zugänglich gewesen sei. Die Baracke und das Haupthaus seien zwar – entgegen dem Vorbringen des Bf. – keine „Wohnung" iSv. Art. 15 der Verfassung, könnten aber auch nicht als öffentlich zugänglicher Ort angesehen werden, da sie nur durch eine einzige Tür zugänglich waren. Mit den dort gesetzten Handlungen seien somit Ordnungswidrigkeiten begangen worden, an die das Gesetz jedoch keine spezifischen Sanktionen knüpfe. Im vorliegenden Fall hätten sie keinen Einfluss auf den Wert der erlangten Beweismittel gehabt. Da der Bf. seine Verteidigungsrechte wahrnehmen konnte, sei sein Recht auf ein faires Verfahren nicht verletzt worden. Dem Gericht zufolge würden die begangenen Straftaten außerdem die Rechtsordnung in einer Schwere verletzen, die die strittigen Regelverstöße bei weitem übersteige.

Der gegen dieses Urteil beim Kassationsgericht eingebrachten Revision des Bf. wurde keine Folge gegeben. Wie das Gericht ausführte, obliege es nämlich dem Richter, über die Konsequenzen einer entgegen den rechtlichen Bestimmungen erfolgten Beweiserlangung zu entscheiden, soweit im Gesetz keine spezifischen Sanktionen vorgesehen seien.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. macht eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren), von Art. 8 EMRK (hier: Recht auf Achtung der Wohnung) und von Art. 14 EMRK (Diskriminierungsverbot) geltend.

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK:

Der Bf. rügt die mangelnde Fairness des Verfahrens, da die seiner Strafverfolgung zugrunde gelegten Beweismittel auf unrechtmäßige Weise erlangt worden seien.

Die Beschwerde ist weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig. Sie muss deshalb für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Alleinige Aufgabe des GH ist es, die Einhaltung der sich aus der Konvention ergebenden Verpflichtungen durch die Vertragsstaaten sicherzustellen. Ihm obliegt es hingegen nicht, über Tatsachen- oder Rechtsfehler der innerstaatlichen Rechtsprechungsorgane zu erkennen, außer diese könnten zu einer Verletzung von Konventionsrechten führen. Art. 6 EMRK garantiert zwar das Recht auf ein faires Verfahren, regelt jedoch nicht die Zulässigkeit von Beweisen als solche. Dies ist in erster Linie Aufgabe des innerstaatlichen Rechts.

Der GH hat zu beurteilen, ob das Verfahren – einschließlich der Art und Weise der Erlangung der Beweismittel – in seiner Gesamtheit fair war. Dabei ist zunächst die in Frage stehende Rechtswidrigkeit und – im Falle einer Verletzung eines anderen Konventionsrechts – die Natur dieser Verletzung zu untersuchen. Weiters muss geprüft werden, ob die Verteidigungsrechte des Betroffenen ausreichend gewahrt wurden, ob es dem Bf. also möglich war, die Authentizität des Beweismittels und dessen Verwendung in Frage zu stellen. Beachtung ist außerdem der Qualität des Beweismittels und der Frage entgegenzubringen, ob die Umstände, unter denen dieses erlangt wurde, dessen Glaubwürdigkeit und Korrektheit in Zweifel ziehen. Ist der Beweis stichhaltig und lässt keine Zweifel offen, vermindert sich auch die Notwendigkeit, ihn durch weitere Beweisstücke zu bekräftigen.

Im Fall Bykov/RUS hatte der Bf. die Möglichkeit, eine ihn betreffende verdeckte Polizeioperation und alle Beweise, die dadurch erlangt wurden, in mehreren Instanzen anzufechten. Die Gerichte haben alle Argumente des Bf. abgewogen und sie danach wohlbegründet abgewiesen. Der GH stellte in diesem Fall fest, dass der Prozess in seiner Gesamtheit fair war – obwohl die entgegen den gesetzlichen Bestimmungen erfolgte Beweiserlangung Art. 8 EMRK widersprach.

In Fällen, in denen Beweise unter Beeinträchtigung besonders fundamentaler Rechte wie jenem nach Art. 3 EMRK erlangt wurden, hielt der GH den Ausschluss des Beweismittels allerdings für geboten, um die Fairness des Verfahrens zu wahren.

Der vorliegende Fall unterscheidet sich von den früheren Fällen und insbesondere von jenen, in denen ein Widerspruch zu Art. 8 EMRK festgestellt wurde. Nach der belgischen Rechtsprechung ist dem Richter ein weiter Ermessensspielraum belassen, was die Konsequenzen einer irregulären Beweiserlangung betrifft. Im Rahmen dieses Ermessensspielraums entschied das Gericht erster Instanz, den Bf. aus dem Grund der illegalen Beweiserlangung freizusprechen. Das Appellationsgericht konzentrierte sich hingegen auf die Frage, ob das Recht auf Wohnung verletzt worden war, wobei es zwischen dem Industriegelände und den darauf befindlichen Gebäuden unterschied. Ersteres qualifizierte es als öffentlich zugänglichen Ort, weshalb die Polizei in diesem Bereich auch rechtmäßig agiert habe. Die Gebäude betreffend stellte es fest, dass diese keine Wohnung iSv. Art. 15 der Verfassung seien, jedoch auch nicht als öffentlich zugänglich angesehen werden konnten. Die dort erfolgten Polizeiaktionen seien somit entgegen den gesetzlichen Bestimmungen erfolgt. Mit dem Hinweis, dass das Gesetz bei derartigen Verstößen keine spezifischen Sanktionen vorsehe, stellte das Gericht jedoch fest, dass das Vorgehen der Polizei keine Konsequenzen hinsichtlich des Werts der erlangten Beweismittel gehabt habe. Wegen ihrer Schwere würden die dem Bf. vorgeworfenen Taten die Regelwidrigkeiten zudem bei weitem übersteigen. Dem Gericht zufolge seien die aus Art. 8 EMRK resultierenden Rechte ausreichend berücksichtigt worden.

Gleichwohl gilt es zu bedenken, dass die Beamten mit dem Eindringen in die Gebäude – in denen der Bf. im Übrigen weder wohnte noch sonstige berufliche Tätigkeiten ausübte – die Begehung eines Delikts auf frischer Tat feststellten. Diese Polizeiaktion und die dabei erlangten Beweise bildeten die Grundlage für die Verurteilung des Bf. Der GH hat sich hier die Frage zu stellen, ob es dem Bf. möglich war, die Glaubwürdigkeit dieser illegal erlangten Beweise in Frage zu stellen und deren Verwendung anzufechten. Ist der Beweis stichhaltig und lässt keine Zweifel offen, vermindert sich die Notwendigkeit, ihn durch weitere Beweisstücke zu bekräftigen.

Die Umstände, unter denen die umstrittenen Beweisstücke im vorliegenden Fall erlangt wurden, erwecken keinerlei Zweifel hinsichtlich ihrer Zuverlässigkeit oder Korrektheit. Der Bf. verfügte über die Möglichkeit, die Beweise und die gemachten Feststellungen in drei Instanzen anzufechten und sich gegen ihre Verwendung zur Wehr zu setzen. Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass über die Begründetheit der gegen den Bf. erhobenen strafrechtlichen Anklage in einem fairen Verfahren abgesprochen wurde. Es liegt keine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK vor (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 8 und Art. 14 EMRK:

Nach Ansicht des Bf. konnte das Appellationsgericht nicht annehmen, die von den Polizeibeamten durchsuchten Gebäude hätten keine Wohnung im Sinne der Konvention dargestellt, da er dort seine berufliche und geschäftliche Tätigkeit ausgeübt habe.

Die Behauptung, der Bf. würde seine berufliche Tätigkeit – er ist Antiquitätenhändler – in den durchsuchten, als Stützpunkt für den Drogenhandel dienenden Gebäuden ausüben, erscheint dem GH gänzlich befremdlich. Der Drogenhandel selbst kann nicht als eine berufliche oder kommerzielle Tätigkeit angesehen werden, die vom Begriff der Wohnung nach Art. 8 EMRK geschützt ist. Der Bf. war außerdem keinesfalls Pächter der betroffenen Lokalitäten. Dieser Beschwerdeteil ist daher ratione materiae unvereinbar mit der Konvention und folglich gemäß Art. 35 Abs. 3 und Abs. 4 EMRK zurückzuweisen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Khan/GB v. 12.5.2000 (GK), NL 2000, 99; ÖJZ 2001, 654.

P. G. und J. H./GB v. 29.9.2001, ÖJZ 2002, 911.

Allan/GB v. 5.11.2002, NL 2002, 254; ÖJZ 2004, 196.

Jalloh/D v. 11.7.2006 (GK), NL 2006, 188; EuGRZ 2007, 150.

Bykov/RUS v. 10.3.2009 (GK), NL 2009, 77.

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 28.7.2009, Bsw. 18704/05, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2009, 225) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im französischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/09_4/Davies.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
3
  • RS0121258AUSL EGMR Rechtssatz

    28. Juli 2009·3 Entscheidungen

    Für die Frage der Zulässigkeit von Beweismitteln ist auch von Bedeutung, ob die Verteidigungsrechte beachtet wurden, insb ob der Angeklagte Gelegenheit hatte, die Authentizität von Tonbandaufzeichnungen zu bestreiten und ihrer Verwendung zu widersprechen, und ob die Aussagen freiwillig gemacht wurden oder der Angeklagte zu ihnen verführt wurde. Das Recht, sich nicht selbst zu belasten, soll in erster Linie den Willen des Angeklagten schützen, zu schweigen, und setzt voraus, dass die Anklagebehörde die Fakten ohne Rückgriff auf Beweise, die in Missachtung des Willens des Angeklagten durch Zwang oder Druck erlangt wurden, zu beweisen versucht. Die Verwendung von Aufzeichnungen aus dem Besuchsbereich eines Gefangenenhauses ist dann zulässig, wenn der Angeklagte die aufgezeichneten Aussagen gegenüber Besuchern ohne Druck bzw ohne Provokation äußerte und er Gelegenheit hatte, die Zuverlässigkeit und Bedeutung der Aufnahmen als Beweismittel zu bestreiten. Die Freiheit einer verdächtigten Person, selbst zu entscheiden, ob sie in einer polizeilichen Vernehmung aussagen will oder nicht, wird hingegen unzulässig ausgehöhlt, wenn die Behörde in Fällen, in denen der Verdächtigte sich entschieden hat, während der Einvernahme zu schweigen, eine List anwendet, um ein Geständnis oder belastende Aussagen von ihm zu erlangen, die sie während der Befragung nicht erlangen konnte, und wenn die dadurch erlangten Beweismittel im Strafverfahren verwendet werden. So etwa durch Einschleusung eines Polizeispitzels ins Gefangenenhaus, der durch ständiges Nachfragen gegenüber dem Angeklagten psychologischen Druck auf diesen ausübt. Allan gegen das Vereinigte Königreich.