JudikaturJustizBsw10722/13

Bsw10722/13 – AUSL EGMR Entscheidung

Entscheidung
18. Februar 2016

Kopf

Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Kammer V, Beschwerdesache A. K. gg. Liechtenstein (Nr.2), Urteil vom 18.2.2016, Bsw. 10722/13.

Spruch

Art. 6 Abs. 1 EMRK, Art. 13 EMRK - Fehlende Effektivität einer Verfassungsbeschwerde gegen überlange Verfahrensdauer.

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde hinsichtlich Art. 13 EMRK (einstimmig).

Verletzung von Art. 13 EMRK (einstimmig).

Zulässigkeit der Beschwerde unter Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der langen Verfahrensdauer (einstimmig).

Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der langen Verfahrensdauer (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK: € 6.000,– für immateriellen Schaden, € 2.520,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Text

Begründung:

Sachverhalt:

Der Bf. ist seit 2004 in einen Rechtsstreit mit Herrn F. H. verwickelt, der die Eigentumsrechte an 75?% der Inhaberaktien der EMK AG und der EMK Engineering AG, zwei in Liechtenstein ansässigen und eingetragenen Firmen, betrifft.

Am 10.6.2005 klagte F. H. den Bf. vor dem Fürstlichen Landgericht auf Herausgabe einer bestimmten Anzahl von Inhaberaktien der genannten Firmen. Nachdem ein Einspruch des Bf. gegen die Zuständigkeit Liechtensteins vom Landgericht abgewiesen und diese Entscheidung letztendlich im März 2007 vom Verfassungsgericht bestätigt worden war, gab das Fürstliche Landgericht am 28.12.2009 der Klage von F. H. statt. Eine dagegen erhobene Berufung des Bf. wurde am 3.2.2010 abgewiesen. Der Oberste Gerichtshof bestätigte dieses Urteil am 13.1.2011.

Daraufhin erhob der Bf. am 18.2.2011 Beschwerde an das Verfassungsgericht, mit der er insbesondere eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer geltend machte. Der Ablehnungsantrag des Bf. wegen Befangenheit der zur Entscheidung berufenen Richter wurde abgewiesen. Dabei entschieden jeweils die vier übrigen Richter über den gegen ihren Kollegen gerichteten Antrag. Am 15.5.2012 wurde der Beschwerde teilweise stattgegeben und eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer festgestellt. Das Verfassungsgericht sprach dem Bf. den Ersatz seiner im Zusammenhang mit dem verfassungsgerichtlichen Verfahren angefallenen Kosten zu.

Rechtliche Beurteilung

Rechtsausführungen:

Der Bf. behauptete eine Verletzung von Art. 6 EMRK (Recht auf ein faires Verfahren) und von Art. 13 EMRK (Recht auf eine wirksame Beschwerde bei einer nationalen Instanz).

Zulässigkeit

Der GH stellt fest, dass die Beschwerde weder offensichtlich unbegründet noch aus einem anderen Grund unzulässig ist. Sie muss daher für zulässig erklärt werden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der fehlenden Unparteilichkeit des Verfassungsgerichts

(56) Der Bf. rügte, dass die in seinem Fall zur Entscheidung berufenen fünf Richter des Verfassungsgerichts [...] nicht unparteiisch gewesen wären, insbesondere weil jeder der abgelehnten Richter an den Entscheidungen über die Ablehnungsanträge gegen die übrigen vier Richter teilgenommen hätte. [...]

(64) Der GH bemerkt, dass die vorliegende Beschwerde in Hinblick auf die Unparteilichkeit der Richter des Verfassungsgerichts eine ähnliche Frage aufwirft wie jene, über die der GH aufgrund einer früheren Beschwerde desselben Bf. entschieden hat (A. K./FL).

(65) Keiner der zahlreichen Gründe, aus denen der Bf. die fünf Richter des Verfassungsgerichts wegen Befangenheit ablehnte, war nach Ansicht des GH als solcher ausreichend, um legitime und objektiv gerechtfertigte Zweifel an der Unparteilichkeit der Richter aufzuwerfen. Der GH verweist auf die Begründung seines Urteils zur früheren vom Bf. erhobenen Beschwerde (A. K./FL). Dennoch ist der GH – wie auch bei der früheren Beschwerde des Bf. – überzeugt, dass diese Gründe, die sich überwiegend auf die Beziehung der Richter zum Bf. oder zur gegnerischen Verfahrenspartei bezogen und zwischen den fünf betroffenen Richtern differenzierten, doch ausreichend spezifisch waren und daher nicht als missbräuchlich oder irrelevant qualifiziert werden können.

(66) Was das Verfahren betrifft, in dem die fünf abgelehnten Richter die Ablehnungsanträge gegen jeden von ihnen abwiesen, stellt der GH – wie zur Beschwerde [A. K./FL] – fest, dass das Verfassungsgericht über jeden der ausreichend untermauerten Anträge, mit denen die Befangenheit jedes einzelnen Richters behauptet wurde in einer Besetzung entschied, die aus den übrigen vier Richtern bestand, die vom Bf. ebenfalls wegen Befangenheit abgelehnt worden waren. Diese Vorgehensweise wirft insofern ein Problem hinsichtlich der Unparteilichkeit auf, als sie alle über gegen sie aus dem gleichen Grund erhobene Beschwerden entschieden und damit dem Anschein nach in der Sache über die sie selbst betreffenden Beschwerden entschieden haben.

(67) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die Zweifel des Bf. hinsichtlich der Unparteilichkeit der fünf Richter des Verfassungsgerichts angesichts der von diesen gewählten Vorgehensweise zur Abweisung der gegen sie gerichteten Ablehnungsanträge des Bf. auch im vorliegenden Fall objektiv gerechtfertigt waren.

(68) Es hat somit eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 13 EMRK

(69) Der Bf. brachte weiters vor, das innerstaatliche Recht habe ihm kein wirksames Rechtsmittel gewährt, um sich über die unverhältnismäßige Dauer des Verfahrens [...] zu beschweren. [...]

(85) Einer Verfahrenspartei auf der innerstaatlichen Ebene zur Verfügung stehende Rechtsbehelfe zur Bekämpfung einer überlangen Verfahrensdauer sind dann wirksam iSv. Art. 13 EMRK, wenn sie die behauptete Verletzung oder ihre Fortsetzung verhindern oder angemessene Wiedergutmachung für eine bereits eingetretene Verletzung leisten. [...]

(86) Was die Angemessenheit und das Ausreichen der von innerstaatlichen Rechtsmitteln für eine Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer gewährten Wiedergutmachung betrifft, hat der GH insbesondere anerkannt, dass eine solche Wiedergutmachung grundsätzlich durch eine Reduktion oder das Erlassen von Kosten und Auslagen gewährt werden kann, die ein Bf. ansonsten im streitgegenständlichen Verfahren bezahlen hätte müssen.

(87) Der GH hat weiters klargestellt, dass die auf innerstaatlicher Ebene aufgrund der Tatsachen, über die sich der Bf. vor dem GH beschwerte, gewährte Wiedergutmachung in Hinblick auf die von Art. 41 EMRK vorgesehenen Zusprüche gerechter Entschädigung angemessen und ausreichend sein muss. [...]

(88) Ohne die Prüfung vorwegzunehmen, ob der in Art. 6 Abs. 1 EMRK enthaltenen Anforderung an die angemessene Verfahrensdauer entsprochen wurde, stellt der GH [...] fest, dass die Beschwerde des Bf. über die Verfahrensdauer prima facie »vertretbar« ist.

(89) Der GH wird zuerst [...] prüfen, ob eine Beschwerde an das Verfassungsgericht unter den Umständen des vorliegenden Falls für den Bf. ein wirksamer Rechtsbehelf zur Geltendmachung der überlangen Dauer des Verfahrens war.

(90) Es ist unbestritten, dass das liechtensteinische Verfassungsgericht nicht ermächtigt ist, praktische Schritte zur Beschleunigung des Verfahrens vor den unteren Gerichten zu setzen. [...]

(91) [...] Das liechtensteinische Verfassungsgericht hat auch keine gesetzliche Befugnis, Entschädigung für materiellen oder immateriellen Schaden zuzusprechen, den ein Bf. durch die unangemessene Dauer des Verfahrens erlitten hat. Das Verfassungsgericht hat sich jedoch in seiner jüngeren Rechtsprechung [...], wie der Fall des Bf. zeigt, nicht länger auf die Feststellung einer Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK beschränkt, wenn die Verfahren vor den unteren Gerichten oder jenes vor ihm selbst [...] unverhältnismäßig lang gedauert haben. Um eine Lücke im liechtensteinischen Recht zu füllen, das seiner Ansicht nach keine Entschädigung für durch unangemessene Verfahrensdauer verursachte Schäden vorsieht, entwickelte das Verfassungsgericht ein Recht der Streitpartei, als Wiedergutmachung für solche Schäden von bestimmten Verfahrenskosten (insbesondere Anwaltskosten und Gerichtsgebühren) befreit zu werden bzw. diese erstattet zu bekommen.

(92) Der GH begrüßt die Initiative des Verfassungsgerichts und die Maßnahmen, die ergriffen wurden, um das Rechtssystem Liechtensteins in Einklang mit der Rechtsprechung des GH [...] zu bringen. Um zu entscheiden, ob der vom Verfassungsgericht entwickelte Rechtsbehelf unter den Umständen des Falls des Bf. wirksam war, muss der GH einschätzen, ob die vom Verfassungsgericht gewährte Wiedergutmachung in Hinblick auf die nach Art. 41 EMRK vorgesehenen gerechten Entschädigungen angemessen war.

(94) [...] Im vorliegenden Fall entschied das Verfassungsgericht, das der Beschwerde des Bf. über die überlange Verfahrensdauer stattgegeben hatte, dass Liechtenstein die Kosten des Bf. für die Einbringung der Verfassungsbeschwerde (CHF 170,–) erstatten und die übrigen Verfahrenskosten, insbesondere die Urteilsgebühr (CHF 1.700,–), tragen müsse. Zur Urteilsgebühr stellte das Verfassungsgericht selbst fest, dass diese nicht dem Staat als Entschädigung für die unangemessene Verfahrensdauer auferlegt werden könne, weil der Staat wegen des Ausgangs des Verfahrens die Gerichtsgebühren in jedem Fall tragen müsse. Nach Ansicht des GH [...] wies die Regierung nicht nach, dass der Bf. nicht gleichermaßen die Gebühr für die Einbringung der Verfassungsbeschwerde erstattet bekommen hätte, da diese teilweise erfolgreich war.

(95) Wie der GH überdies feststellt, wurden dem Bf. keine Kosten für anwaltliche Vertretung vor dem Verfassungsgericht erstattet, [...] weil er vor diesem Gericht nicht von einem Anwalt vertreten worden war.

(97) Schließlich stellt der GH fest, dass das fragliche Verfahren mehr als viereinhalb Jahre vor dem Fürstlichen Landgericht dauerte, was eine beachtliche Zeit ist. Angesichts der obigen Ausführungen ist der GH nicht überzeugt, dass die Entschädigung, die dem Bf. vom Verfassungsgericht gewährt wurde, unter den Umständen des vorliegenden Falls über die Summe hinausgeht, die der Bf. in jedem Fall erhalten hätte, weil er mit seiner Verfassungsbeschwerde teilweise erfolgreich war. Er ist daher nicht überzeugt, dass die gewährte Wiedergutmachung in Hinblick auf die nach Art. 41 EMRK vorgesehenen gerechten Entschädigungen angemessen war. Auch wenn der GH die Möglichkeit nicht ausschließen kann, dass dieser Rechtsbehelf unter anderen Umständen effektiv sein kann, stellt er fest, dass eine Beschwerde [...] an das Verfassungsgericht im vorliegenden Verfahren für den Bf. keine wirksame Beschwerde zur Geltendmachung einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer war.

(103) Dementsprechend hatte der Bf. keine wirksame Beschwerde iSv. Art. 13 EMRK, die das Verfahren vor dem Fürstlichen Landgericht beschleunigt oder angemessene Wiedergutmachung für bereits eingetretene Verzögerungen gewährt hätte. Es hat daher eine Verletzung von Art. 13 EMRK stattgefunden (einstimmig).

Zur behaupteten Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK hinsichtlich der Verfahrensdauer

(104) Der Bf. brachte vor, die Dauer des Verfahrens [...]wäre exzessiv gewesen. [...]

(116) [...] Das Verfahren begann am 10.6.2005, als F. H. seine Klage gegen den Bf. [...] einbrachte, und endete am 27.6.2012 mit der Zustellung des Urteils des Verfassungsgerichts an den Bf. Es dauerte somit rund sieben Jahre auf vier Ebenen der Gerichtsbarkeit.

(118) Das Verfahren [...] war von einer gewissen Komplexität. [...] Der Bf. hat das Verfahren nicht ungebührlich verzögert. Weiters ist klar, dass der Ausgang des Verfahrens [...] von erheblicher Bedeutung für das Berufsleben des Bf. und für seinen Lebensunterhalt war.

(119) Was die Verfahrensführung der innerstaatlichen Gerichte betrifft, stellt der GH fest, dass das Verfahren vor dem Berufungsgericht und vor dem Obersten Gerichtshof rasch und jenes vor dem Verfassungsgericht relativ rasch geführt wurde. Es war jedoch von 10.6.2005 bis 28.12.2009 und damit mehr als viereinhalb Jahre vor dem Landgericht anhängig. Das Verfahren vor diesem Gericht wurde insbesondere von 9.9.2007 bis 28.12.2009, also um jene mehr als zwei Jahre und drei Monate verzögert, die das Landgericht benötigte, um nach Abschluss der Verhandlung sein Urteil auszufertigen. Der GH teilt die Ansicht des Verfassungsgerichts, wonach diese Verzögerung [...] nicht gerechtfertigt war. [...]

(120) Der GH kommt daher zu dem Schluss, dass die Dauer des Verfahrens im vorliegenden Fall nicht den Anforderungen an eine angemessene Verfahrensdauer genügte.

(124) [...] Das Verfassungsgericht anerkannte ausdrücklich [...] die Verletzung von [...] Art. 6 Abs. 1 EMRK durch die Verzögerung bei der Urteilsausfertigung durch das Landgericht. Was die Angemessenheit und das Ausreichen der dem Bf. vom Verfassungsgericht zugesprochenen Wiedergutmachung durch die Entscheidung über Gerichtsgebühren und Anwaltskosten betrifft, verweist der GH auf seine Ausführungen zu Art. 13 EMRK. Er ist nicht überzeugt, dass dem Bf. [dadurch] angemessene Wiedergutmachung [...] geleistet wurde.

(125) [...] Der Bf. hat daher nach Ansicht des GH seine Eigenschaft als Opfer iSv. Art. 34 EMRK einer Verletzung des Rechts auf angemessene Verfahrensdauer nicht verloren. Der GH verwirft daher die entsprechende Einrede der Regierung und stellt eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK fest (einstimmig).

Entschädigung nach Art. 41 EMRK

€ 6.000,– für immateriellen Schaden; € 2.520,– für Kosten und Auslagen (einstimmig).

Vom GH zitierte Judikatur:

Kudla/PL v. 26.10.2000 (GK) = NL 2000, 219 = EuGRZ 2004, 484 = ÖJZ 2001, 908

Scordino/I (Nr. 1) v. 29.3.2006 (GK) = NL 2006, 83 = ÖJZ 2007, 382

A. K./FL v. 9.7.2015 = NLMR 2015, 324

Hinweis:

Das vorliegende Dokument über das Urteil des EGMR vom 18.2.2016, Bsw. 10722/13, entstammt der Zeitschrift "Newsletter Menschenrechte" (NL 2016, 70) bzw. der entsprechenden Datenbank des Österreichischen Institutes für Menschenrechte, Salzburg, und wurde von diesem dem OGH zur Aufnahme in die Entscheidungsdokumentation Justiz im RIS zur Verfügung gestellt.

Das Urteil im englischen Originalwortlaut (pdf-Format):

www.menschenrechte.ac.at/orig/16_1/A.K.No2.pdf

Das Original des Urteils ist auch auf der Website des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (www.echr.coe.int/hudoc) abrufbar.

Rechtssätze
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