JudikaturJustiz8ObS13/16v

8ObS13/16v – OGH Entscheidung

Entscheidung
27. September 2016

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Spenling als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Tarmann Prentner und den Hofrat Dr. Brenn sowie die fachkundigen Laienrichter Werner Rodlauer und Mag. Regina Albrecht als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei D***** T*****, vertreten durch Dr. Thomas Stampfer, Dr. Christoph Orgler, Rechtsanwälte in Graz, gegen die IEF Service GmbH, *****, vertreten durch die Finanzprokuratur, 1011 Wien, Singerstraße 17–19, wegen Insolvenzentgelt (494 EUR), über die außerordentliche Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Graz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 19. Mai 2016, GZ 6 Rs 9/16i 9, mit dem das Urteil des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Graz als Arbeits und Sozialgericht vom 23. November 2015, GZ 32 Cgs 174/15z 5, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 252,31 EUR (darin enthalten 42,05 EUR USt) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Die Klägerin war vom 29. 7. 2013 bis 24. 12. 2013 als Arbeiterin bei der späteren Schuldnerin beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis endete durch fristwidrige Kündigung der Arbeitgeberin. Aufgrund der Beendigung des Arbeitsverhältnisses führte die Klägerin einen (Vor )Prozess, in dem sie Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis (laufendes Entgelt, Sonderzahlungen, Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung) in Höhe von insgesamt 2.005,09 EUR brutto geltend machte. In der Verhandlung vom 5. 11. 2014 wurde zwischen den Parteien ein Vergleich geschlossen, in dem sich die Arbeitgeberin zur Zahlung des Klagsbetrags samt Zinsen sowie zum Ersatz von 1.294,82 EUR an Verfahrenskosten verpflichtete. In der Folge zahlte die Arbeitgeberin in Erfüllung des Vergleichs den Betrag von 2.005,09 EUR an die Klägerin.

Mit Beschluss des Landesgerichts ***** vom 25. 3. 2015 wurde zu ***** über das Vermögen der Arbeitgeberin das Insolvenzverfahren eröffnet. In diesem Verfahren meldete die Klägerin unter anderem die Kosten des Vorprozesses in Höhe von 1.454 EUR als Insolvenzforderung an, die der Insolvenzverwalter zur Gänze anerkannte. In diesem Betrag sind die verglichenen Verfahrenskosten aus dem Vorprozess (1.295 EUR) sowie Kosten der Fahrnisexekution (159 EUR) enthalten.

Die Klägerin beantragte Insolvenzentgelt für die verglichenen Verfahrenskosten in Höhe von 1.295 EUR. Mit Bescheid vom 31. 7. 2015 lehnte die Beklagte die Forderung der Klägerin im Ausmaß von 494 EUR ab.

Die Klägerin begehrte den Klagsbetrag. Die Arbeitgeberin habe nur ihre Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis beglichen. Die Beklagte könne nicht einseitig Bruttolohnbestandteile auf Kosten widmen. Lohnsteuer und Sozialversicherungsbestandteile könnten von ihr nicht zurückgefordert werden.

Die Beklagte entgegnete, dass die Arbeitgeberin eine Nettozahlung in Höhe von 2.005,09 EUR geleistet habe. Dieser Betrag sei auf einen Bruttobetrag hochzurechnen; davon sei der geltend gemachte Bruttoanspruch abzuziehen. Auf diese Weise ergebe sich eine Teilzahlung, die auf die verglichenen Prozesskosten anzurechnen sei.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt. Die Arbeitgeberin habe irrtümlich anstatt des Nettolohns den Bruttobetrag ausgezahlt. Die Rückforderung von Dienstnehmerbeiträgen zur Sozialversicherung durch den Arbeitgeber sei insoweit ausgeschlossen, als der Arbeitnehmer derartige Beträge gutgläubig erhalten und verbraucht habe. Außerdem sei das Rückforderungsrecht zeitlich durch § 60 ASVG begrenzt. In Bezug auf die Lohnsteuer sei – im Gegensatz zur Sozialversicherung – der Arbeitnehmer der Steuerschuldner. Der Arbeitgeber führe daher eine fremde Schuld ab. Ein gutgläubiger Erwerb könne in dieser Hinsicht nach dem „Judikat 33 neu“ nicht eingewendet werden. Nach der Rechtsprechung komme ein Regress des Arbeitgebers nach § 1358 ABGB allerdings erst mit Inanspruchnahme des Arbeitgebers durch das Finanzamt in Betracht. Es müsse sich daher um eine vom Arbeitgeber an die Finanzbehörde nachgezahlte Lohnsteuer handeln. Auch dies sei hier nicht der Fall. Eine Umwidmung der irrtümlichen Zahlung auf Kosten durch die Beklagte sei nicht zulässig. Außerdem habe die Finanzbehörde weiterhin die Möglichkeit, die Klägerin hinsichtlich des ausgezahlten Bruttobetrags in Anspruch zu nehmen.

Das Berufungsgericht bestätigte diese Entscheidung. Soweit die Beklagte von einer ungewidmeten Netto Teilzahlung ausgehe, weiche sie vom festgestellten Sachverhalt ab. Richtig sei, dass das IESG sowohl zeitliche als auch betragsmäßige Sicherungsgrenzen normiere. Die Beklagte könne sich aber nicht auf die Judikatur zu Teilzahlungen bei teilweise gesicherten und teilweise nicht gesicherten Ansprüchen berufen, weil eine derartige Anspruchsbegrenzung hier nicht vorliege. Die ordentliche Revision sei nicht zulässig, weil Gründe dafür nicht zu erkennen seien.

Gegen diese Entscheidung richtet sich die Revision der Beklagten, die auf eine Abweisung des Klagebegehrens abzielt.

Mit ihrer vom Obersten Gerichtshof freigestellten Revisionsbeantwortung beantragt die Klägerin, das Rechtsmittel der Gegenseite zurückzuweisen, in eventu, diesem den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist zulässig, weil zur Anrechnung von Teilzahlungen des Arbeitgebers auf nach dem IESG gesicherte Ansprüche eine Klarstellung des Obersten Gerichtshofs geboten erscheint. Die Revision ist aber nicht berechtigt.

1.1 Das Erstgericht hat festgestellt, dass die Arbeitgeberin (spätere Schuldnerin) den Bruttobetrag für die verglichenen Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis (Entgelt, Sonderzahlungen, Kündigungsentschädigung und Urlaubsersatzleistung) an die Klägerin gezahlt hat. Die Beurteilung der Vorinstanzen, dass es sich bei dem geleisteten Auszahlungsbetrag um die irrtümliche Zahlung des Bruttobetrags anstatt des Nettolohns, also um eine irrtümliche Überzahlung der Arbeitgeberin gehandelt hat, stößt auf keine Bedenken.

1.2 Für die vom Erstgericht angestellten Überlegungen zu einem Rückforderungsanspruch des Arbeitgebers gegenüber dem Arbeitnehmer (im Hinblick auf Sozialversicherungsbeiträge und Lohnsteuerbestandteile) bei irrtümlicher Auszahlung von Bruttobeträgen genügt schon das Vorbringen der Beklagten nicht. Dementsprechend führt sie auch in der Revision aus, dass ein Rückforderungsanspruch weder dezidiert behauptet worden sei noch ein solcher bestehe.

2.1 Die Beklagte bestreitet nicht, dass der Anspruch der Klägerin auf Ersatz der verglichenen Prozesskosten aus dem Vorprozess gesichert ist. Sie steht allerdings auf dem Standpunkt, dass Widmungserklärungen des Arbeitgebers im Bereich des IESG unbeachtlich seien und von Amts wegen zu prüfen sei, ob ein geltend gemachter Anspruch aufrecht bestehe, nicht verjährt oder nicht ausgeschlossen sei. Daraus leitet sie ab, dass die irrtümliche Bruttozahlung der Arbeitgeberin auf den Nettoanspruch umzurechnen, die sich daraus ergebende Überzahlung als Teilzahlung zu werten und die Überzahlung daher auf andere Ansprüche (hier Prozesskosten) amtswegig umzuwidmen sei. Sie stützt sich dabei auf die Entscheidung zu 8 ObS 155/01d.

2.2 In der zitierten Entscheidung wird auf die Rechtsprechung verwiesen (RIS Justiz RS0076422; 8 ObS 235/01v; 8 ObS 7/14h), wonach – selbst bei abweichenden Widmungsvereinbarungen – Teilzahlungen des Arbeitgebers zuerst auf den gesicherten Teil der Ansprüche des Arbeitnehmers anzurechnen seien. Diese Rechtsprechung fand ihre Begründung darin, dass der Zweck des IESG darin bestehe, die Arbeitnehmer vom Verlust ihrer Ansprüche zu bewahren, auf die sie zur Bestreitung ihres Lebensunterhalts angewiesen seien. Im Einklang mit diesem Zweck habe der Gesetzgeber bestimmte Ansprüche oder Teile von Ansprüchen aus der Sicherung durch das IESG ausgenommen. Im Fall solcher Ausnahmen sei es daher – ungeachtet abweichender Widmungen – geboten, Teilzahlungen des Arbeitgebers zuerst auf den gesicherten Teil der Ansprüche des Arbeitnehmers anzurechnen, weil es sonst zu einer nicht gerechtfertigten Besserstellung jener Arbeitnehmer käme, die ohnehin einen Teil ihrer Ansprüche vom Arbeitgeber hereinbringen konnten, dennoch aber alle restlichen Ansprüche im Rahmen der Sicherungsmöglichkeiten des IESG ersetzt erhielten. Zudem wird in dieser Entscheidung noch festgehalten, dass es für diese Überlegungen keinen Unterschied mache, ob ein Anspruch aus dem Arbeitsverhältnis generell oder nur in seinem ein bestimmtes Ausmaß übersteigenden Teil nicht gesichert sei. Sie würden jedenfalls dann zutreffen, wenn alle in Betracht kommenden Ansprüche aus dem Arbeitsverhältnis resultierten.

2.3 Der Beklagten ist zuzugestehen, dass diese Entscheidung nach ihren weiten Formulierungen nicht nur den Fall betrifft, dass mehrere der geltend gemachten Ansprüche nur teilweise gesichert sind (vgl § 1 Abs 4 letzter Satz IESG und dazu 8 ObS 235/01v), sondern darüber hinausgeht und auch Konstellationen erfasst, in denen gesicherte und nicht gesicherte Ansprüche aufeinandertreffen. Allerdings ist auch nach dieser Entscheidung erforderlich, dass es sich bei den zusammentreffenden Ansprüchen um solche aus dem Arbeitsverhältnis handelt.

2.4 Ob die Entscheidung 8 ObS 155/01d mit Rücksicht auf die Zielrichtung der ihr zugrunde liegenden Rechtsprechung in dieser Allgemeinheit aufrecht erhalten werden kann, ist zweifelhaft. Die Ausgangsentscheidungen beziehen sich nämlich auf solche Fälle, in denen einzelne geltend gemachte Ansprüche nur teilweise gesichert waren und daher eine Anspruchsbegrenzung der Höhe nach bestand. Letztlich lag diesen Entscheidungen somit eine Konstellation im Sinn des § 1 Abs 4 letzter Satz IESG zugrunde.

So wurde in der Entscheidung 8 ObS 235/01v ausgesprochen, dass nach der gesetzlichen Anordnung in § 1 Abs 4 letzter Satz IESG bei Zusammentreffen mehrerer (teilweise) gesicherter Ansprüche, die aber der Höhe nach beschränkt seien, Teilzahlungen zuerst auf die gesicherten Teile der Ansprüche angerechnet werden müssten. Dies gelte für eine Betragsbeschränkung, aber auch für eine sonstige Anspruchsbegrenzung. Ein solcher Fall liegt hier nicht vor. Die Frage der Anrechnung von Teilzahlungen auf Ansprüche, die bloß teilweise durch das IESG gesichert sind, stellt sich im Anlassfall nicht.

In der Entscheidung 8 ObS 7/14h wurde ausgeführt, dass durch die Anrechnung von Teilzahlungen eine sachlich nicht begründete Besserstellung jener Arbeitnehmer verhindert werden solle, die ohnehin einen Teil ihrer Ansprüche vom Arbeitgeber hereinbringen konnten, dennoch aber die restlichen Teile der Ansprüche im Rahmen der Sicherungsmöglichkeiten des IESG ersetzt erhielten, gegenüber jenen Arbeitnehmern, die mit ihren Ansprüchen zur Gänze auf den Insolvenzfonds angewiesen und höchstens bis zum Grenzbetrag abgesichert seien. Weiters wurde in dieser Entscheidung festgehalten, dass der Anspruch auf Schadenersatz nach § 25 Abs 2 IO der arbeitsrechtlichen Kündigungsentschädigung entspreche. Nach dem für das IESG maßgeblichen sozialversicherungsrechtlichen Entgeltbegriff handle es sich bei einer Kündigungsentschädigung um einen Entgeltanspruch (vgl auch 8 ObS 6/16i und 8 ObS 1/15b). Schließlich wird ausgeführt, dass Entgeltzahlungen für einen datumsmäßig begrenzten Teil eines Entlohnungszeitraums auf den Monatsgrenzbetrag anzurechnen seien, sofern die Ansprüche ohne die Arbeitgeberzahlung der Insolvenzsicherung unterlegen wären.

3. In der Entscheidung 8 ObS 235/01v wurde nun ausdrücklich auch darauf hingewiesen, dass von der Anrechnungsregel des § 1 Abs 4 letzter Satz IESG die Frage zu unterscheiden sei, auf welche von mehreren unterschiedlichen Ansprüchen auf laufendes Entgelt Zahlungen anzurechnen seien. Aufgrund dieser Ergänzung liegt durchaus der Schluss nahe, dass die Anwendung der Grundsätze der zitierten Entscheidung einerseits auf nur teilweise gesicherte Forderungen und andererseits auf Ansprüche derselben Anspruchskategorie beschränkt bleiben soll, andernfalls die ausdrückliche Bezugnahme auf die Kategorie des laufenden Entgelts entbehrlich gewesen wäre.

Die Entscheidung 8 ObS 155/01d betraf eine ungewidmete Teilzahlung des Arbeitgebers auf einen Vergleichsbetrag, der vor allem auch eine (nicht gesicherte) freiwillige Abgangsentschädigung enthielt. Mit der Frage der Anrechnung von Teilzahlungen auf unterschiedliche Kategorien der gesicherten Ansprüche (zB laufendes Entgelt, Schadenersatz) befasste sich diese Entscheidung nicht.

4. Mit der interessierenden Fragestellung hat sich auch der Europäische Gerichtshof bereits befasst. In der Rechtssache C 125/97, Regeling , sprach der Gerichtshof aus, dass im Fall eines Arbeitnehmers, der gegenüber seinem Arbeitgeber Ansprüche für Beschäftigungszeiten hat, die sowohl vor als auch im Sicherungszeitraum liegen, die vom Arbeitgeber während des Sicherungszeitraums geleisteten Arbeitsentgeltzahlungen vorrangig den vorher entstandenen Ansprüchen des Arbeitnehmers zuzurechnen sind. Teilzahlungen sind demnach zuerst auf die nicht gesicherten älteren Ansprüche anzurechnen.

5. Ausgehend von den dargestellten Überlegungen und den unionsrechtlichen Vorgaben gelangt der Oberste Gerichtshof für den Anlassfall zum Ergebnis, dass Teilzahlungen des Arbeitgebers vor Insolvenzeröffnung jedenfalls nur innerhalb der jeweiligen (IESG rechtlichen) Anspruchskategorien der im IESG Verfahren geltend gemachten Ansprüche (nach Maßgabe der übrigen einschlägigen Grundsätze) angerechnet werden können. Eine kategorieübergreifende Anrechnung bzw Umwidmung hat demgegenüber nicht stattzufinden. Zahlt der Arbeitgeber – wie hier – irrtümlich den Bruttobetrag für verglichene Entgeltansprüche an den Arbeitnehmer, so ist die allfällige Überzahlung nicht auf geltend gemachte Kostenersatzansprüche anzurechnen.

6. Der Hinweis der Beklagten, dass gemäß § 3 Abs 1 IESG das Insolvenzentgelt „netto“ gebühre, weshalb „eine Hochrechnung des vom Arbeitgeber bezahlten Nettobetrags auf den Bruttobetrag“ zu erfolgen habe (8 ObS 22/03y), bleibt hier ohne Bedeutung, weil die Klägerin hier ausschließlich Prozesskosten geltend macht. Anders als in der Entscheidung 8 ObS 22/03y hat die Arbeitgeberin hier auch keinen ungewidmeten Betrag an die Klägerin ausgezahlt. Soweit die Beklagte auch in der Revision eine ungewidmete Zahlung der Arbeitgeberin im Anschluss an den Vergleich behauptet, weicht sie neuerlich vom festgestellten Sachverhalt ab. Ausgehend von den Feststellungen ist es keineswegs so, dass der Auszahlungsbetrag „zufällig“ dem Bruttobetrag der verglichenen arbeitsrechtlichen Ansprüche entsprochen hat.

7. Die Entscheidungen der Vorinstanzen stehen mit dem dargestellten Ergebnis im Einklang. Der Revision der Beklagten war daher der Erfolg zu versagen.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 77 Abs 1 Z 2 ASGG.