JudikaturJustiz7Ob9/80

7Ob9/80 – OGH Entscheidung

Entscheidung
10. April 1980

Kopf

SZ 53/55

Spruch

Die vorsätzliche Verletzung der Obliegenheit zur sofortigen Meldung eines Unfalls mit Personenschaden ist ausnahmsweise zu verneinen, wenn der Geschädigte zu erkennen gab, daß aus einer offensichtlich minimalen Verletzung Versicherungsansprüche nicht zu erwarten seien

OGH 10. April 1980, 7 Ob 9/80 (LGZ Graz 4 R 234/79; BGZ Graz 28 C 1317/78)

Text

Die Klägerin macht aus der Haftpflichtversicherung eines PKW des Beklagten Regreßansprüche nach § 158f VersVG wegen Verletzung der Obliegenheit der sofortigen Unfallsmeldung nach Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB geltend.

Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab. Nach seinen Feststellungen kamen bei dem Begegnungsunfall der Motorradlenker Josef L sen. und sein Sohn Josef L jun. zum Sturz, wobei beide leichte Verletzungen erlitten. Während beim Sohn nur leichte Hautabschürfungen an den Fingern sichtbar waren, die auch nur geringfügig bluteten, waren beim Vater äußerlich keine blutenden Verletzungen erkennbar (nach den Ausführungen zur Beweiswürdigung nur Hautabschürfungen); auch verspürte er an der Unfallstelle keine erheblichen Schmerzen. Das Anbot des Beklagten, die Gendarmerie zu verständigen, wurde von beiden mit dem Hinweis abgelehnt, daß ohnehin niemand verletzt worden sei. Auch die Beiziehung eines Arztes oder die Verständigung der Rettung wurde von Josef L sen. abgelehnt, weil er dies auf Grund der minimalen Hautabschürfungen für überflüssig und entbehrlich hielt. Im Haus der Verletzten, wohin diese anschließend mit ihrem Motorrad fuhren, wurden die Versicherungsdaten ausgetauscht. Erst am nächsten Tag (Samstag) spürte Josef L sen. beim Auftreten Schmerzen im rechten Bein und suchte einen Arzt auf, der ihn ins Krankenhaus verwies. Davon erfuhr der Beklagte am Abend des übernächsten Tages (Sonntag), worauf er am Montag die Unfallsanzeige bei der Gendarmerie erstattete. Nach der Rechtsansicht des Erstrichters liege eine vorsätzliche oder auch nur grob fahrlässige Obliegenheitsverletzung nicht vor, zumal die Obliegenheit den Versicherer wohl im berechtigten Ausmaß schützen, ihm aber nicht wegen unschädlicher Vernachlässigung von Förmlichkeiten Vorteile gewähren solle.

Das Berufungsgericht gab der Berufung der klagenden Partei Folge und hob das Ersturteil unter Rechtskraftvorbehalt auf. Es hielt die anscheinende Geringfügigkeit der Verletzung für ebensowenig rechtserheblich wie den Verzicht der Unfallsbeteiligten auf die Gendarmerieanzeige und bejahte auch die Vorsätzlichkeit der Obliegenheitsverletzung. In diesem Fall sei deren Kausalität nicht zu prüfen. Das Berufungsgericht erachtete aber das Verfahren zur Höhe der Klagsansprüche für ergänzungsbedürftig.

Der Oberste Gerichtshof gab den Rekursen beider Parteien Folge und trug dem Berufungsgericht eine neue Entscheidung auf.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Der Beklagte bekämpft die Rechtsansicht des Berufungsgerichtes zum Anspruchsgrund im Ergebnis mit Recht. Es entspricht allerdings der ständigen Rechtsprechung des OGH, daß die Anzeigepflicht nach Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB in jedem Fall einer wahrgenommenen Verletzung eines Dritten ohne jede Rücksicht auf die anscheinende Geringfügigkeit dieses Schadens besteht (SZ 47/80 u. a.). Der Hinweis des Beklagten auf angebliche besondere Umstände des vorliegenden Falles kann daran nichts ändern. Auch wenn der Geschädigte seine Verletzungen an der Unfallstelle vollkommen bagatellisierte und die Verständigung der Gendarmerie ablehnte, blieb die in der Straßenverkehrsordnung ebenso enthaltene Verpflichtung objektiv bestehen, den Unfall mit Personenverletzung sofort bei der nächsten Polizei- oder Gendarmeriedienststelle zu melden (§ 4 Abs. 2 StVO). Auch die öffentlich-rechtliche Verpflichtung ist vom Grad der Verletzung unabhängig; sie besteht auch bei "nicht nennenswerten" Verletzungen (ZVR 1976/36; VwGH ZVR 1965/22). Die Behauptung des Beklagten, daß im vorliegenden Fall der Verletzte die Verständigung der Gendarmerie gar unter Androhung von Handgreiflichkeiten verweigert habe, geht über das erstinstanzliche Vorbringen hinaus und ist deshalb als unzulässige Neuerung unbeachtlich. Überdies hätte selbst ein derartiges Verhalten des Verletzten am Unfallsort den Beklagten nicht hindern können, die vorgeschriebene Anzeige gleich nach dem privaten Austausch der Versicherungsdaten zu erstatten.

Zur Vorsätzlichkeit dieser Obliegenheitsverletzung genügt nach der soweit zutreffenden Ansicht des Berufungsgerichtes das allgemeine Bewußtsein, daß ein Haftpflichtversicherter bei der Aufklärung des Sachverhaltes nach besten Kräften aktiv mitwirken muß (SZ 47/89 u. v. a.), ohne daß es auf die Kenntnis der einzelnen Normen ankommt (ZVR 1976/238). Nur der Nachweis besonderer entschuldigender Umstände durch den Versicherungsnehmer kann diese Vorsätzlichkeit in Frage stellen (ZVR 1974/71 u. a.). Auch hiefür reicht die Geringfügigkeit einer erkannten Verletzung regelmäßig nicht aus (SZ 47/89 u. a.).

Die vom OGH bisher entschiedenen Fälle einer scheinbaren Geringfügigkeit des durch den Unfall entstandenen Personenschadens waren aber dadurch charakterisiert, daß die erkannte Verletzung Haftpflichtansprüche des Geschädigten aus diesem Titel immerhin nahelegte. So hatte im Fall der Entscheidung SZ 43/214 die gestreifte Fußgängerin ausdrücklich erklärt, sie sei verletzt und habe Schmerzen; im Fall der Entscheidung SZ 47/89 konnte der Haftpflichtversicherte das Bluten des Verletzten noch nach ein- bis eineinhalb Stunden keineswegs mit einem harmlosen Nasenbluten verwechseln; die Entscheidung ZVR 1976/36 betraf einen Fall, in dem die Verletzte in Anwesenheit des Haftpflichtversicherten ihren Arbeitgeber telefonisch ersuchen mußte, sie mit dem Wagen heimzubringen; und auch im Fall der Entscheidung ZVR 1976/238 mußte dem Versicherungsnehmer spätestens in dem Augenblick, als die Schmerzen des Verletzten ärger geworden waren, dieser nicht mehr richtig auftreten konnte und dessen Vater die Fahrt ins Krankenhaus für notwendig fand, klar sein, daß eine (ernstere) Verletzung vorlag.

In solchen Fällen kann auch der Verzicht des Verletzten auf die sofortige Verständigung der nächsten Polizei- oder Gendarmeriedienststelle die Vorsätzlichkeit der Obliegenheitsverletzung nicht ausschließen, weil hier nicht nur eine elementare und bei jedem Kraftfahrzeuglenker als bekannt vorauszusetzende Verhaltensnorm unzweifelhaft verletzt wurde, sondern darüber hinaus das Aufklärungsinteresse des Versicherers wegen der erkennbaren Wahrscheinlichkeit der Geltendmachung von Haftpflichtansprüchen aus dem eingetretenen Personenschaden auf der Hand lag (vgl. Prölss - Martin, VVG[21], 877). Andererseits erfordert besonders die unbeschränkte Geltung des Alles- oder Nichts-Prinzips bei vorsätzlicher Verletzung der Meldepflicht nach Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB gemäß § 6 Abs. 3 VersVG die Möglichkeit des Beweises, daß es am Vorsatz der Obliegenheitsverletzung trotz der Verwirklichung des äußeren Tatbestandes fehle (vgl. Migsch, ZVR 1978, 307). In diesem Sinne hat auch der OGH bereits (ZVR 1976/36) entsprechend der Meinung Wahles (VersR 1965, 628) darauf abgestellt, ob eine vorgeschriebene Anzeige etwa deshalb zunächst unterlassen wurde, weil der Versicherte bei verständiger, von einem besonnenen Menschen zu erwartender Erwägung aller Umstände mit einem die Entschädigungspflicht begrundenden Schaden nicht ernstlich zu rechnen brauchte. Da sich die Verständigungspflicht nach Art. 8 Abs. 1 Z. 1 AKHB auf die Fälle eingetretener Personenverletzung beschränkt, kommt hiefür unbeschadet der Frage der Strafbarkeit des Verhaltens nach der StVO nur die Kenntnis einer Verletzung in Betracht, aus der die Entstehung von Haftpflichtansprüchen wenigstens droht. In diesem Sinne wird der Vorsatz des Haftpflichtversicherten trotz objektiver Verletzung der Obliegenheit vom Tatsachenrichter verneint werden können, wenn zu dem Verzicht des Geschädigten auf Beiziehung der Sicherheitsbehörde die objektive Erkennbarkeit hinzutritt, daß es sich offensichtlich um eine minimale Verletzung handelt, und der Verletzte außerdem zu erkennen gibt, daß selbst er mit Haftpflichtansprüchen aus dieser Verletzung nicht rechnet. Unter diesen Voraussetzungen wird nämlich, vom Beweis des Gegenteils abgesehen, regelmäßig das Bewußtsein des Haftpflichtversicherten und damit sein für die Leistungsfreiheit des Versicherers maßgeblicher auch nur bedingter böser Vorsatz fehlen, durch die Unterlassung der in der StVO vorgeschriebenen Meldung zugleich auch das Aufklärungsinteresse des Versicherers zu verletzen.

Ausgehend von dieser rechtlichen Beurteilung würden die für den Beklagten günstigen Feststellungen des Erstrichters für die Verneinung seines Vorsatzes ausreichen, und die Beweisrüge der klägerischen Berufung, womit weitere Feststellungen zu Lasten des Beklagten begehrt wurden, kommt zum Tragen. Bliebe es nämlich bei der Feststellung des Erstrichters, daß beide anderen Unfallsbeteiligten die Verständigung der Gendarmerie mit dem Hinweis ablehnten, es sei durch den Unfall "ohnehin niemand verletzt worden", so wäre die Verneinung der Vorsätzlichkeit der Obliegenheitsverletzung des Beklagten durch den Erstrichter rechtlich nicht zu beanstanden, weil dem Beklagten zugute gehalten werden konnte, daß er mit Haftpflichtansprüchen aus einem Personenschaden nicht zu rechnen brauchte. Dann wäre auch die festgestellte Meldung bei der Gendarmerie am folgenden Montag, nachdem der Beklagte erst am Abend des vorangegangenen Tages von der Spitalsbehandlung des Motorradlenkers erfahren hatte, als rechtzeitig anzusehen, zumal jetzt, drei Tage nach dem Unfall, ein Zuwarten um einige Stunden die Interessen des Versicherers nicht mehr beeinträchtigen konnte.

Das Berufungsgericht wird daher zunächst auf die Beweisrüge der Klägerin einzugehen haben. Im Falle der Übernahme der Feststellungen des Erstgerichtes ist die Rechtssache im Sinne der Bestätigung des Ersturteils spruchreif, zumal der Rechtsgrund der Versäumung der Deckungsklage nach § 12 Abs. 3 VersVG im Rechtsmittelverfahren nicht mehr aufrecht erhalten wurde. Sollte hingegen das Berufungsgericht im Wege einer Beweiswiederholung zu Feststellungen gelangen, die im Sinne der obigen Ausführungen die Annahme einer vorsätzlichen Obliegenheitsverletzung des Beklagten rechtfertigen, dann ist die Sache entgegen der Ansicht der zweiten Instanz ebenfalls bereits spruchreif, und zwar diesfalls im Sinne einer gänzlichen Abänderung des Ersturteils, weil es der vom Berufungsgericht angeordneten Ergänzung des Verfahrens zur Klagshöhe nicht bedarf.

Die Klägerin bekämpft nämlich mit Recht die Meinung der zweiten Instanz, daß das Ausmaß der Regreßpflicht des Beklagten noch nicht genügend geprüft sei. Richtig ist zwar, daß der Beklagte nur ein Mitverschulden am Unfall außer Streit gestellt hat. Dies würde im Regelfall die Ansicht des Berufungsgerichtes rechtfertigen, daß eine volle Regreßpflicht für die an den Geschädigten erbrachten Haftpflichtleistungen vom Ausmaß des Mitverschuldens des anderen Lenkers abhänge, weil der Haftpflichtversicherer nur nach diesem Anteil regressieren könne. Das Berufungsgericht hat jedoch übersehen, daß im vorliegenden Fall die Klägerin schon in der Klage dargestellt hat, daß sie infolge erfolgreicher Einwendung eines Mitverschuldens des anderen Fahrzeuglenkers eine vergleichsweise Bereinigung seiner Ansprüche herbeiführen konnte. Wenn bei dieser Sachlage der Beklagte die von seinem Haftpflichtversicherer tatsächlich erbrachten Leistungen für Reparaturkosten und Schmerzengeld der Höhe nach außer Streit stellte und im übrigen auch keinerlei konkrete Einwendungen über das (weitere Maß des) Mitverschulden(s) des anderen Unfallbeteiligten machte, so kann dies nur als Zugeständnis verstanden werden, daß der Regreßanspruch in diesem Umfang auch unter Berücksichtigung eines eigenen bloßen Mitverschuldens berechtigt sei, sofern Leistungsfreiheit überhaupt vorliege. Zu einer weiteren Anleitung des Beklagten in der gegenteiligen Richtung bestand kein Anlaß. Die Vertretungskosten für die Privatbeteiligung des Geschädigten im Strafverfahren und für die Erhebung des zivilrechtlichen Anspruches beim Versicherer wurden hingegen vom Erstgericht unbekämpft entsprechend dem Klagsvorbringen festgestellt.