JudikaturJustiz6Nc1/21f

6Nc1/21f – OGH Entscheidung

Entscheidung
08. März 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Dr. Schramm als Vorsitzenden, den Hofrat Hon. Prof. Dr. Gitschthaler und die Hofrätin Dr. Faber als weitere Richter in der Pflegschaftssache des minderjährigen M*****, geboren am ***** 2005, *****, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die mit Beschluss des Bezirksgerichts Wels vom 6. September 2020, GZ 17 Ps 27/20p 36, gemäß § 111 JN verfügte Übertragung der Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache an das Bezirksgericht Baden wird genehmigt.

Text

Begründung:

[1] M*****, geboren am ***** 2005, und J*****, geboren am ***** 2003, sind die Kinder von S***** und M*****, die seit dem Jahr 2006 getrennt leben. Nach einem Antrag des Vaters auf Übertragung der (alleinigen) Obsorge für M***** schlossen die Eltern am 29. 8. 2019 vor dem Bezirksgericht Wels eine bis 30. 6. 2020 befristete Vereinbarung, nach der die gemeinsame Obsorge für M***** aufrecht bleibe und er hauptsächlich im Haushalt des Vaters betreut werde. Seit Juli 2019 lebt M***** beim Vater in P***** (Sprengel des Bezirksgerichts Baden). Seine Schwester J***** lebt weiterhin bei der Mutter in W*****.

[2] Mit Beschluss vom 27. 7. 2020 sprach das Bezirksgericht Wels aus, dass die gemeinsame Obsorge der Eltern für M***** aufrecht bleibe und er hauptsächlich im Haushalt des Vaters betreut werde.

[3] Mit Beschluss vom 6. 10. 2020 übertrug das Bezirksgericht Wels von Amts wegen gemäß § 111 JN die Zuständigkeit zur Besorgung der Pflegschaftssache betreffend M***** an das Bezirksgericht Baden. Das Bezirksgericht Baden lehnte die Übernahme ab, weil die Aufsplitterung von Pflegschaftsverfahren bei mehreren vollbürtigen Geschwistern verhindert werden solle und die Weiterführung der Pflegschaftssache durch das bisher damit betraute Bezirksgericht Wels zweckmäßiger erscheine.

[4] Der Übertragungsbeschluss wurde den Parteien zugestellt und erwuchs in Rechtskraft.

[5] Das Bezirksgericht Wels legte den Akt gemäß § 111 Abs 2 JN dem Obersten Gerichtshof vor.

Rechtliche Beurteilung

[6] Die Übertragung ist zu genehmigen.

[7] Nach § 111 Abs 1 JN kann das zur Besorgung der pflegschaftsgerichtlichen Geschäfte zuständige Gericht, wenn dies im Interesse eines Minderjährigen gelegen erscheint, insbesondere wenn dadurch die wirksame Handhabung des pflegschaftsgerichtlichen Schutzes voraussichtlich gefördert wird, seine Zuständigkeit einem anderen Gericht übertragen. Nach herrschender Auffassung ist ein örtliches Naheverhältnis zwischen dem Pflegschaftsgericht und dem Minderjährigen regelmäßig zweckmäßig und von wesentlicher Bedeutung. Besteht daher dieses Naheverhältnis zwischen dem ursprünglich zuständigen Gericht und dem Minderjährigen nicht mehr, verlegt dieser also insbesondere den Mittelpunkt seiner gesamten Lebensführung (stabil) in einen anderen Gerichtssprengel, so kann die Zuständigkeit übertragen werden (vgl nur 6 Ob 6/20i mwN; Fucik in Fasching/Konecny ³ I [2013] § 111 JN Rz 3; Mayr in Rechberger/Klicka , ZPO 5 [2019] § 111 JN Rz 2; Gitschthaler in Gitschthaler/Höllwerth , AußStrG² [2019] § 111 JN Rz 11 – alle mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung). Diese Voraussetzungen sind hier gegeben.

[8] Eine Teilübertragung der Zuständigkeit bei Pflegschaftsverfahren mehrerer Kinder, die aus derselben Ehe oder Lebensgemeinschaft entstammen, ist zwar in der Regel nicht zweckmäßig (RS0129854), sie ist aber auch nicht ausgeschlossen (RS0129854 [T3] = 6 Nc 6/20i). So bestätigte der Oberste Gerichtshof jüngst die Übertragung der Pflegschaftssache hinsichtlich (nur) eines Kindes in einer Konstellation, in der den Eltern für beide Geschwister die gemeinsame Obsorge zukam, aber jeweils ein Kind hauptsächlich im Haushalt der Mutter, eines hauptsächlich im Haushalt des Vaters betreut wurde (6 Nc 6/20i).

[9] Hier liegt ein vergleichbarer Fall vor, da M***** bereits seit über eineinhalb Jahren im Haushalt seines Vaters in P***** betreut wird, während seine Schwester J***** im Haushalt der Mutter in W***** verblieb.

[10] Dass dem übertragenden Gericht eine besondere Sachkenntnis zukommt, steht einer Übertragung grundsätzlich nicht entgegen; der besonderen Sachkenntnis kann vielmehr nur dann Bedeutung zukommen, wenn noch über einen offenen Sachantrag zu entscheiden ist (RS0047032 [T37]; 6 Nc 6/20i).

[11] Offene Anträge liegen im vorliegenden Fall nicht vor. Auch sonst sind keine Gründe ersichtlich, aus denen eine Weiterführung der Pflegschaftssache durch das bisherige Gericht trotz der räumlichen Entfernung dem Kindeswohl besser entsprechen sollte.