JudikaturJustiz4Ob201/19s

4Ob201/19s – OGH Entscheidung

Entscheidung
28. Januar 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsrekursgericht durch den Senatspräsidenten Dr. Vogel als Vorsitzenden und die Hofräte Dr. Schwarzenbacher, Hon. Prof. Dr. Brenn, Priv. Doz. Dr. Rassi und MMag. Matzka als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj J***** P*****, geboren am *****, wohnhaft bei seiner Mutter M***** P*****, diese vertreten durch MMag. Clemens Rainer Theurl, Rechtsanwalt in Innsbruck, über den außerordentlichen Revisionsrekurs der Mutter gegen den Beschluss des Landesgerichts Innsbruck als Rekursgericht vom 10. September 2019, GZ 51 R 38/19s 92, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Innsbruck vom 18. März 2019, GZ 48 Ps 383/14i 82, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Beschlüsse der Vorinstanzen, die hinsichtlich des Auftrags an die Mutter zur monatlichen Übermittlung eines Drogenscreenings (Teil 2 von Spruchpunkt 2.1 des erstgerichtlichen Beschlusses) sowie zur Absolvierung der ambulanten Betreuung (Spruchpunkt 2.3) und zur Ermöglichung des Kindergartenbesuchs (Spruchpunkt 2.4) als unbekämpft unberührt bleiben, werden im Übrigen dahin abgeändert, dass der gerichtliche Auftrag an die Mutter zur monatlichen Übermittlung eines Alkoholscreenings mittels ETA/ETG (Harnabgabe unter Sicht) im Spruchpunkt 2.1 des erstgerichtlichen Beschlusses sowie der gerichtliche Auftrag an die Mutter im Spruchpunkt 2.2 des erstgerichtlichen Beschlusses zur Gänze (Übermittlung entweder eines Harntests einmal wöchentlich oder eines Alkomattests zweimal wöchentlich) zu entfallen haben.

Text

Begründung:

Der vierjährige J***** ist das außer der Ehe geborene Kind der M***** P*****, geboren am *****, und des im Herbst ***** verstorbenen A***** Z*****; die Obsorge über das Kind steht der Mutter zu. Sie hat noch die 16 jährige Tochter A***** (Halbschwester von J*****), für die ebenfalls ein Pflegschaftsverfahren geführt wird.

Die Mutter ist mit Einschränkungen erziehungsfähig. Bei ihrem Sohn handelt es sich um ein aufgewecktes, psychisch unauffälliges Kind. Zwischen ihm und seiner Mutter besteht eine sichere Bindung und ein inniges Verhältnis. Die Mutter geht feinfühlig auf die Bedürfnisse des Kindes ein.

Die Mutter leidet an einer Opiatabhängigkeit bei Substitution mit Methadon. Zuletzt war sie psychisch deutlich belastet, ihr Zustand ist im Allgemeinen aber stabil. Sie trinkt manchmal am Abend Alkohol (zweimal wöchentlich zwei Gläser Wein).

Bisher war die Mutter verpflichtet, sich einer ambulanten Betreuung im Ausmaß von vier Stunden wöchentlich (mit J***** zwei Stunden wöchentlich) zu unterziehen. Zudem hatte sie dem Kinder- und Jugendhilfeträger alle vier Wochen ein Alkohol- und Drogenscreening mittels ETA/ETG und einen CDT Test zu übermitteln sowie einmal wöchentlich psychotherapeutische Gespräche wahrzunehmen. Die ambulante Betreuung nahm sie seit Sommer 2017 regelmäßig in Anspruch. Die Drogenscreenings übermittelte sie jedoch nur unregelmäßig.

Am 23. 10. 2017 stellte der Kinder- und Jugendhilfeträger den Antrag, die Obsorge über das Kind J***** im Teilbereich Pflege und Erziehung der Mutter zu entziehen und diese auf den Kinder- und Jugendhilfeträger zu übertragen. Die Mutter halte die ihr erteilten Auflagen nur unzureichend ein.

Das Erstgericht wies den Antrag des Kinder- und Jugendhilfeträgers ab (Spruchpunkt 1.) und erteilte der Mutter folgende Auflagen (Spruchpunkt 2.):

1. Monatliche Übermittlung eines Alkohol- und Drogenscreenings mittels ETA/ETG (Harnabgabe unter Sicht),

2. Übermittlung entweder eines Harntests einmal wöchentlich (unter Sicht im Hinblick auf Alkoholparameter) oder eines Alkomattests unter Sicht zweimal wöchentlich,

3. Unterziehung einer ambulanten Betreuung für das Kind J***** im Ausmaß von zwei Stunden wöchentlich,

4. Ermöglichung des Kindergartenbesuchs für J*****.

§ 181 ABGB setze eine offenkundige Gefährdung des Kindeswohls voraus und ermögliche in einem solchen Fall auch die Erteilung von Aufträgen an den Obsorgeberechtigten. Bei Einhaltung der ihr erteilten Auflage sei die Mutter erziehungsfähig. Ohne die Auflagen bestünde jedoch die Gefahr eines unbemerkten Rückfalls in die Drogen- oder Alkoholsucht.

Das Rekursgericht gab dem Rekurs der Mutter, die gerichtlichen Aufträge zur Vornahme der Alkoholtestungen entfallen zu lassen, nicht Folge und bestätigte dementsprechend die angefochtene Entscheidung. Die in § 107 Abs 3 AußStrG aufgezählten Maßnahmen seien bereits dann anzuordnen, wenn sie bloß der Förderung des Kindeswohls dienten und ein geeignetes Mittel zur Erreichung dieser Zielsetzung bildeten. Diese Voraussetzungen seien gegeben. Die angeordneten Alkoholkontrollen seien erforderlich, um die Mutter stabil von einem Alkoholrückfall abhalten zu können oder einen solchen rechtzeitig zu entdecken. Der ordentliche Revisionsrekurs sei mangels erheblicher Rechtsfrage nicht zulässig.

Gegen diese Entscheidung richtet sich der außerordentliche Revisionsrekurs der Mutter mit dem Antrag, die angefochtenen Beschlüsse dahin abzuändern, dass die gerichtlichen Aufträge zur Vornahme von Alkoholtestungen zu entfallen haben.

Mit seiner – vom Obersten Gerichtshof freigestellten – Revisionsrekursbeantwortung beantragt der Kinder- und Jugendhilfeträger, dem Revisionsrekurs der Mutter den Erfolg zu versagen.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist entgegen dem – den Obersten Gerichtshof nicht bindenden – Ausspruch des Rekursgerichts zulässig, weil die Entscheidung der Vorinstanzen einer Korrektur durch den Obersten Gerichtshof bedarf. Dementsprechend ist der Revisionsrekurs auch berechtigt.

Mit ihrem Revisionsrekurs wendet sich die Mutter gegen die gerichtlichen Aufträge, sich regelmäßigen Alkoholtestungen zu unterziehen. Dazu vertritt sie die Ansicht, dass für die ihr erteilten Auflagen eine Kindeswohlgefährdung iSd § 181 ABGB vorliegen müsse. Für Maßnahmen zur Sicherung des Kindeswohls nach § 107 Abs 3 AußStrG sei bei verfassungskonformer Interpretation des Art 8 EMRK zu verlangen, dass entweder ein zeitlich verhältnismäßiger Konnex zu einer Kindeswohlgefährdung in der Vergangenheit oder ein aktuelles Suchtverhalten, das eine Gefährdung des Kindeswohls wahrscheinlich mache, vorliege. Bei den vorgeschriebenen Alkoholtestungen handle es sich um Zwangsuntersuchungen, die unverhältnismäßig seien.

Diesen Ausführungen kommt im Ergebnis Berechtigung zu.

1.1 Das Rekursgericht hat – anders als das Erstgericht – die von der Mutter bekämpften Auflagen auf § 107 Abs 3 AußStrG als Rechtsgrundlage gestützt.

Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht zur Sicherung des Kindeswohls die erforderlichen Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht Interessen einer Partei, deren Schutz das Verfahren dient, oder Belange der übrigen Parteien unzumutbar beeinträchtigt werden. Die Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG sind besondere Verfahrensregelungen zur Sicherung des Kindeswohls. Nach dem eindeutigen Gesetzeswortlaut setzen sie nur die Erforderlichkeit ihrer Anordnung zur Sicherung des Kindeswohls, aber keine Kindeswohlgefährdung iSd § 181 Abs 1 ABGB voraus (10 Ob 34/18z; 5 Ob 54/19f). Im Hinblick auf Art 8 EMRK muss die angeordnete Maßnahme zur Sicherung des Kindeswohls erforderlich und geeignet sein; der damit verbundene Eingriff in das Privatleben der betroffenen Person darf nicht außer Verhältnis zu der damit intendierten Förderung der Interessen des Kindes stehen (RIS Justiz RS0129701).

1.2 Richtig ist, dass in der Entscheidung zu 5 Ob 53/18g Folgendes ausgeführt wird: „Mit § 107 Abs 3 AußStrG wurde der Katalog der dem Pflegschaftsgericht zur Sicherung des Kindeswohls zur Verfügung stehenden Maßnahmen nicht nur klargestellt, sondern deutlich erweitert (RV 2004 BlgNR 24. GP 38). Nach dem Willen des Gesetzgebers sollen bei inhaltlich unverändertem § 176 Abs 1 ABGB aF, nunmehr § 181 Abs 1 ABGB nF, mit einer – verfahrensrechtlichen – Norm, nämlich § 107 Abs 3 AußStrG, (auch) materiell-rechtlich wirkende Eingriffe in die Persönlichkeits- und Obsorgerechte der Eltern ermöglicht werden.“

Der erwähnte Hinweis auf § 181 ABGB bedeutet allerdings nicht, dass die materiell-rechtliche Grundlage für die verfahrensrechtlichen Eingriffe nach § 107 Abs 3 AußStrG allein in § 181 ABGB zu finden und dafür eine Gefährdung des Kindeswohls erforderlich sei. Vielmehr bedeutet die zitierte Aussage nur, dass die Voraussetzungen zur (gänzlichen oder teilweisen) Entziehung der Obsorge mit § 181 ABGB inhaltlich unverändert geblieben sind, dem Pflegschaftsgericht in § 107 Abs 3 AußStrG aber nunmehr (auch) ein gesetzlicher Katalog an Unterstützungs- und Sicherungsmaßnahmen zur Verfügung steht, (auch) um – als gelindere Mittel – Entziehungsmaßnahmen nach § 181 ABGB zu verhindern (vgl dazu Einberger in Schneider/Verweijen , AußStrG § 107 Rz 21). Dementsprechend wird in der Entscheidung zu 5 Ob 83/18g klargestellt, dass die in § 107 Abs 3 AußStrG geregelten Maßnahmen nur die Erforderlichkeit zur Sicherung des Kindeswohls, aber keine Kindeswohlgefährdung iSd § 181 Abs 1 ABGB voraussetzen (siehe dazu RS0129700).

Dies bedeutet konkret, dass Maßnahmen nach § 107 Abs 3 AußStrG keine Kindeswohlgefährdung voraussetzen, bei Vorliegen einer Kindeswohlgefährdung aber auch solche Maßnahmen (neben anderen Maßnahmen) als gelindere Mittel iSd § 181 Abs 1 ABGB in Betracht kommen.

1.3 Nach § 107 Abs 3 AußStrG hat das Gericht – im Zusammenhang mit einem Obsorge- oder Kontaktrechtsverfahren (RS0131142) – zunächst die zur Sicherung des Kindeswohls erforderlichen unterstützenden Maßnahmen anzuordnen, soweit dadurch nicht rücksichtswürdige Interessen einer Partei unzumutbar beeinträchtigt werden. Als derartige Maßnahmen kommen insbesondere

1. der verpflichtende Besuch einer Familien-, Eltern- oder Erziehungsberatung,

2. die Teilnahme an einem Erstgespräch über Mediation oder über ein Schlichtungsverfahren,

3. die Teilnahme an einer Beratung oder Schulung zum Umgang mit Gewalt und Aggression,

4. das Verbot der Ausreise mit dem Kind, oder

5. die Abnahme der Reisedokumente des Kindes in Betracht.

Die Aufzählung dieser unterstützenden Maßnahmen ist zwar demonstrativ. Es entspricht aber der Rechtsprechung, dass andere geeignete Maßnahmen sowohl nach ihrer Art und in ihrem Umfang, aber auch in ihrer Qualität den gesetzlich angeordneten Maßnahmen gleichwertig sein müssen. Die gesetzlichen Maßnahmen betreffen demnach solche, die im weiteren Sinn der Beratung bzw Schulung, der Streitschlichtung oder der Verhinderung einer unzulässigen Verbringung des Kindes in das Ausland dienen sollen (4 Ob 83/18m).

Demgegenüber kann eine (Zwangs-)Mediation der Eltern oder eine verpflichtende psychotherapeutische Behandlung des Kindes oder eine Familientherapie oder eine regelmäßig therapeutisch ambulante Familienbetreuung nicht nach § 107 Abs 3 AußStrG angeordnet werden (RS0129658; 4 Ob 83/18m mwN). Gleiches gilt für einen Auftrag, sich in das Mutter Kind Haus zu begeben oder das Kind in die Obhut von Dauerpflegeeltern zu übergeben (vgl 5 Ob 53/18g).

1.4 Nach den dargelegten Grundsätzen fällt die Anordnung, sich Alkoholtestungen zu unterziehen, schon ihrer Art nach aus dem Maßnahmenkatalog des § 107 Abs 3 AußStrG heraus. Dabei handelt es sich nämlich um Kontrollmaßnahmen, die (jedenfalls im Fall der Harnabgabe) mit medizinischen Untersuchungen vergleichbar sind. Alkomattests sind Maßnahmen zur Überprüfung des Atemalkoholgehalts und insoweit ebenfalls Untersuchungsmaßnahmen. Derartige Maßnahmen dienen der Überprüfung vor allem des Bewusstseinszustands einer Person und haben keinen Beratungs- oder Schulungszweck. Davon abgesehen zielt § 107 Abs 3 AußStrG auf anlassbezogene und in dieser Hinsicht zeitlich angemessen begrenzte Maßnahmen ab. Vorsorgliche Dauerkontrollen, um eine nachteilige Verhaltensänderung des Obsorgeberechtigten aufzudecken, sind von dieser Rechtsgrundlage ebenfalls nicht erfasst.

1.5 Die vom Rekursgericht herangezogene Rechtsgrundlage des § 107 Abs 3 AußStrG steht für die angeordneten und von der Mutter angefochten regelmäßigen Alkoholtestungen somit nicht zur Verfügung.

2.1 Nach der vom Erstgericht herangezogenen Bestimmung des § 181 Abs 1 ABGB kann das Gericht, wenn die Eltern durch ihr Verhalten das Kindeswohl gefährden, die Obsorge dem bisherigen Berechtigten ganz oder teilweise entziehen und an den Kinder- und Jugendhilfeträger übertragen (§ 211 ABGB) oder – als gelindere Mittel – sonst zur Sicherung des Kindeswohls geeignete unterstützende Maßnahmen treffen (4 Ob 83/18m). Auf dieser Grundlage kommen auch weitergehende Anordnungen als jene nach § 107 Abs 3 AußStrG in Betracht. So kann das Gericht etwa den Auftrag erteilen, mit dem Kind ärztliche Termine wahrzunehmen bzw mit ihm bestimmte Untersuchungen oder Therapien zu absolvieren oder mit dem Kinder- und Jugendhilfeträger in einer bestimmten Art und Weise in Kontakt zu bleiben (vgl Einberger in Schneider/Verweijen , AußStrG § 107 Rz 21).

2.2 Im Anlassfall trägt auch § 181 Abs 1 ABGB die von der Mutter angefochtenen Aufträge zur Vornahme von regelmäßigen Alkoholkontrollen nicht. Für eine Maßnahme nach dieser Bestimmung bedarf es nämlich einer offenkundigen Kindeswohlgefährdung. Eine Gefährdung des Kindeswohls ist dann gegeben, wenn die Obsorgeberechtigten ihre Pflichten objektiv nicht erfüllen oder diese subjektiv gröblich vernachlässigen und durch ihr Verhalten schutzwürdige Interessen des Kindes, wie die physische oder psychische Gesundheit, die altersgemäße Entwicklung und Entfaltungsmöglichkeit, die soziale Integration oder die wirtschaftliche Sphäre des Kindes, konkret gefährden (RS0048633; 4 Ob 83/18m mwN).

Nach dem vom Erstgericht ermittelten Sachverhalt liegt eine Kindeswohlgefährdung mit Rücksicht auf die aktuelle Betreuungssituation des Kindes und des damit im Zusammenhang stehenden Verhaltens der Mutter nicht vor. Es steht nicht einmal eine Alkoholabhängigkeit oder ein Alkoholmissbrauch der Mutter in der Vergangenheit fest. Für eine naheliegende Gefahr eines konkret zu befürchtenden Alkoholrückfalls und eine dadurch bedingte Gefährdung des Kindeswohls bestehen keine Anhaltspunkte.

3. Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die von den Vorinstanzen angeordneten und von der Mutter bekämpften vorsorglichen Kontrollen ihres Alkoholkonsums zur Vermeidung eines Rückfalls weder in § 107 Abs 3 AußStrG noch in § 181 Abs 1 ABGB eine geeignete Rechtsgrundlage finden.

Dem Revisionsrekurs der Mutter war daher dahin Folge zu geben, dass die ihr erteilten gerichtlichen Aufträge, sich regelmäßigen Alkoholtestungen zu unterziehen, zu entfallen haben.

Rechtssätze
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