JudikaturJustiz4Ob16/51

4Ob16/51 – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. Februar 1951

Kopf

SZ 24/45

Spruch

Unzulässigkeit der Zuteilung eines Richters nur zur Erledigung einer bestimmten Rechtssache an ein anderes Gericht.

Nichtigkeit eines unter Mitwirkung des so zugeteilten Richters gefällten Urteiles.

Entscheidung vom 20. Feber 1951, 4 Ob 16/51.

I. Instanz: Arbeitsgericht Wien; II. Instanz: Landesgericht für Zivilrechtssachen Wien.

Text

Am 11. Juli 1950 fand unter dem Vorsitz des Oberlandesgerichtsrates Dr. Sch. im Beisein der Oberlandesgerichtsräte Dr. Th. und Dr. N., des letzteren als Berichterstatter, und der Laienrichter Dr. Paul P. und Ernst D. in vorliegender Rechtssache eine öffentliche mündliche Berufungsverhandlung statt, bei der die Einvernahme des Zeugen Dr. Ferdinand S. in H. im Requisitionsweg und gleichzeitig Schluß der Verhandlung nach § 193 Abs. 3 ZPO. beschlossen wurde. Das Requisitionsprotokoll Dris. S. langte am 13. November 1950 beim Berufungsgericht ein. Inzwischen war Oberlandesgerichtsrat Dr. Sch. an das Kreisgericht P. versetzt worden. Wie aus dem Akt ersichtlich, legte der nunmehrige Vorsitzende des Senates 44 den Akt dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes Wien im Wege des Präsidiums des Landesgerichtes für ZRS. Wien mit der Bitte vor, Herrn Dr. Sch. zwecks Urteilsfällung in der gegenständlichen Rechtssache dem Senat 44 des Landesgerichtes für ZRS. Wien zuzuteilen. Daraufhin ordnete der Oberlandesgerichtspräsident des Oberlandesgerichtes W. am 22. November 1950, Jv .../50, an, daß er den Rat des Oberlandesgerichtes Dr. Sch. unbeschadet seiner Verwendung beim Kreisgericht P. nach Dienstbedarf dem Landesgericht für ZRS. Wien zur aushilfsweisen Dienstleistung zuteile. Unter dem Vorsitz des Rates des Oberlandesgerichtes Dr. Sch. wurde dann am 1. Dezember 1950 vom Landesgericht für ZRS. Wien das Urteil gefällt, daß der Berufung des Beklagten nicht Folge gegeben werde.

Dieses Urteil wird von der beklagten Partei mit Revision angefochten.

Die Nichtigkeit wird darin erblickt, daß es nicht zulässig sei, einen Richter an einer Urteilsberatung in einem Zeitpunkt teilnehmen zu lassen, in welchem er nicht mehr dem gegenständlichen Berufungssenate angehört. Die Beklagte habe nach dem Gerichtsorganisationsgesetz Anspruch darauf, daß der zuständige Senat in seiner vor Jahresbeginn festgesetzten Zusammensetzung über die gegen die Beklagte gerichtete Klage entscheide. Dabei sei es wohl zulässig, im Laufe des Jahres bei Ausscheiden eines Senatsmitgliedes durch Tod oder Versetzung den Senat umzubilden, wie dies auch beim gegebenen Senat dadurch geschehen sei, daß nach der geänderten Geschäftsverteilung seit Herbst 1950 ein anderer Senatsvorsitzender an Stelle des Vorsitzenden Dr. Sch. trat. Keinesfalls gehe es aber an, daß ein in seiner Zusammensetzung bereits abgeänderter Senat trotz dieser Abänderung einen Vorsitzenden herbeirufe, der nicht mehr diesem Senat angehört, nur um die Wiederholung eines Verfahrens und die Wiedereröffnung einer Verhandlung zu ersparen und ein Urteil kurzerhand beraten zu können. Diese Vorgangsweise bedeute den Nichtigkeitsgrund des § 477 Z. 2 ZPO., insofern das Gericht nicht vorschriftsmäßig besetzt war, wobei auch der Gedanke des Staatsgrundgesetzes, RGBl. 142/67, verletzt werde, daß niemand seinem ordentlichen Richter entzogen werden darf.

Der Oberste Gerichtshof hob das angefochtene Urteil wegen Nichtigkeit auf.

Rechtliche Beurteilung

Aus der Begründung:

Der Oberste Gerichtshof hat zu der in der Revision aufgeworfenen Frage seit dem Bestehen der Zivilprozeßordnung nicht Stellung genommen. In der Literatur wurde dieses Problem in der Festschrift der Österreichischen Richterzeitung zum Österreichischen Richtertag 1927, S. 38 ff., in einem Aufsatz "Zur Frage der Besetzung des Senates" behandelt und im Sinne der Revisionsausführungen entschieden.

Der Oberste Gerichtshof ließ sich bei der Entscheidung von nachstehenden Erwägungen leiten:

Nach § 4 Abs. 2 Gerichtsverfassungsnovelle, BGBl. Nr. 422/1921, wird die Geschäftsverteilung bei den Gerichtshöfen I. Instanz durch den Personalsenat festgesetzt. Nach § 32 Abs. 1 GOG. sind vor Beginn jedes Jahres die Berufungssenate von Personalsenaten zusammenzusetzen. Wenn durch Veränderungen im Personalstande eines Gerichtes der Bestand eines oder mehrerer Senate unmöglich geworden ist, so kann der Personalsenat die unerläßlichen Veränderungen in der Zusammensetzung der Senate für den Rest des Jahres vornehmen. Ebenso kann die Verteilung der Geschäfte zwischen den Senaten geändert werden, wenn dies infolge Wechsels oder dauernder Verhinderung einzelner Mitglieder des Gerichtshofes erforderlich ist (§ 34 Abs. 1 GOG.). Endlich kann der Personalsenat bestimmen, daß in einzelnen Sachen, in welchen bereits eine Verhandlung stattgefunden hat, der Senat auch nach Ablauf des Jahres in seiner früheren Zusammensetzung zu verhandeln und zu entscheiden habe (§ 34 Abs. 2 GOG.). Weitere, über die im Gesetz taxativ aufgezählten Befugnisse stehen dem Personalsenat nicht zu. Der Personalsenat oder gar die Justizverwaltung, der überhaupt kein Einfluß auf die Geschäftsverteilung zusteht, ist daher insbesondere nicht berechtigt, im Falle vorübergehender Behinderung einzelner Senatsmitglieder für die Dauer der Behinderung Vorsorge zu treffen oder gar für einen einzelnen Fall einen Ersatzmann zu bestellen, wie dies im § 67 des deutschen GVG. vorgesehen ist.

Um so weniger kann der Personalsenat oder die Justizverwaltung oder der entscheidende Senat für berechtigt angesehen werden, einen überhaupt nicht dem Gerichtshofe angehörigen Richter zur Dienstleistung in einem Senat heranzuziehen. Daß jedes Ausscheiden eines Richters aus dem Personalstande eines Gerichtes auch das Ausscheiden aus dem Senat zwangsläufig zur Folge hat, ergibt sich aus § 34 GOG., wo von "Veränderungen im Personalstande eines Gerichtes" bzw. vom Wechsel einzelner Mitglieder des Gerichtshofes als Grund für die Abänderung der Senatseinteilung während des Geschäftsjahres angeführt wird. Auch ergibt sich als arg. a contrario aus § 34 Abs. 2 GOG., daß nur bei Abänderung der Senatseinteilung der Senat in der ursprünglichen Besetzung entscheiden kann, nicht aber bei Versetzung oder Pensionierung eines Richters.

Der österreichische Richter wird - von den sogenannten fliegenden Richtern abgesehen - auf einen bestimmten Dienstposten ernannt. Nur soweit er das ihm verliehene Richteramt ausübt, ist er Richter, nicht aber, wenn er sich die Richterbefugnis außerhalb seiner Dienststelle anmaßt. Eine Ausnahme besteht nur insofern, als ein Richter nach § 49 Richterdisziplinargesetz zeitweilig - gegen seinen Willen nur innerhalb des Oberlandesgerichtssprengels und nicht länger als 6 Monate - zur Supplierung und Aushilfsleistung verwendet werden darf. Eine Supplierung und Aushilfsleistung setzt voraus, daß ein Richter während seiner Zuteilung ständig am Zuteilungsort Dienst leistet, nicht bloß in einzelnen bestimmten Sachen. Eine solche Zuteilung wäre mit der Unbeeinflußbarkeit der Gerichte durch die Justizverwaltung unvereinbar, weil sie die Justizverwaltung in die Lage versetzen würde, auf diese Weise fliegende Richter zu schaffen, die nach dem Ermessen der Justizverwaltung überall eingesetzt werden könnten, wo die Justizverwaltung die nach der Geschäftsverteilung berufenen Richter ausschalten will. Die sorgfältig ausgearbeiteten Bestimmungen über die ständige Verteilung der Geschäfte und die Besetzung der Senate, welche die Unabhängigkeit der Gerichte von der Justizverwaltung schützen sollen, wären wertlos, wenn sie durch sogenannte Zuteilungen zur Erledigung einzelner Fälle einfach außer Kraft gesetzt werden könnten. Dazu kommt noch, daß die Zuteilung eines Richters durch die Justizverwaltung den zugeteilten Richter noch nicht dazu ermächtigt, in einem Senat als Richter tätig zu sein; er muß erst durch den Personalsenat dem Senat zugeteilt werden. Wenn aber der versetzte Richter bereits aus dem Gremium ausgeschieden ist und ein anderer vom Personalsenat an seiner Stelle zum Vorsitzenden bestellt wurde, wäre der Personalsenat gar nicht berechtigt, ihn seinem alten Senat zuzuteilen, weil die gesetzlichen Voraussetzungen nach § 34 GOG. nicht gegeben sind. Der Oberste Gerichtshof muß daher den oben angeführten Ausführungen der Revision vollinhaltlich beitreten.

Die sogenannten Abordnungen, die sich in der Dollfußzeit auf Grund der damals beseitigten Unversetzbarkeit der Richter (vgl. § 17 Geo. 1937) und in der deutschen Zeit eingebürgert haben, sind daher rechts- und gesetzwidrig. Die rechtswidrige Heranziehung eines dem Gerichte gar nicht angehörenden Richters ist aber nicht nur normwidrig, sondern hat auch die Nichtigkeit der unter seiner Teilnahme gefällten Entscheidung zur Folge. Es liegt keine Möglichkeit vor, § 477 Z. 2 ZPO. auf den Fall einzuschränken, daß die vorschriftsmäßige Zahl der Richter im Senat nicht vorhanden gewesen ist oder die Senatsmitglieder nicht die erforderliche Qualität für die Ausübung des Richteramtes besessen haben. Wäre das richtig, so könnte z. B. ein Urteil nicht angefochten werden, wenn ein Richter, der in einem anderen Gerichtssprengel ein Richteramt versieht, auf einer Urlaubsreise einem Kollegen aus Gefälligkeit einige Verhandlungen abgenommen und an seiner Statt verhandelt hätte. Die Justizverwaltung könnte für einen hochpolitischen Fall Richter, die bei einem anderen Gericht das Richteramt versehen, "abordnen", um die nach der Geschäftsverteilung berufenen "nicht verläßlichen" Senatsmitglieder auszuschalten usw.

Es ist ohne weiteres zuzugeben, daß im vorliegenden Fall ein Versuch der Justizverwaltung, die Judikatur zu beeinflussen, auszuschließen ist und daß die "Abordnung" des Rates des Oberlandesgerichtes Dr. Sch. nur dem Bestreben entsprungen ist, den Zufall, daß der Rat des Oberlandesgerichtes Dr. Sch. nach P. versetzt wurde, nicht die Parteien entgelten zu lassen und auf diese Weise die Erledigung der Sache im Interesse beider Streitteile zu beschleunigen. Darauf kommt es aber nicht an. Die Bestimmungen der Prozeßordnung, die die Unabhängigkeit und Unbeeinflußbarkeit der Judikatur sichern sollen, müssen absolut und unbedingt eingehalten werden; wenn die Parteien erst im Einzelfall einen Mißbrauch nachweisen müßten, so wären diese gesetzlichen Sicherungsmittel wertlos, weil die Parteien einen solchen Nachweis praktisch nie erbringen könnten. Das Gesetz statuiert daher im § 477 Z. 2 ZPO. die Nichtigkeit und erklärt die Verletzung der Besetzungsvorschriften nicht für eine bloße Mangelhaftigkeit des Verfahrens, weil sie die Einhaltung dieser Vorschriften aus höheren Rücksichten unter allen Umständen gewährleistet haben will, auch auf die Gefahr hin, daß in einem Fall ein Urteil als nichtig aufgehoben wird, das an sich vollkommen unbedenklich ist.

Es mußte demnach der Revision Folge gegeben und das angefochtene Urteil aufgehoben werden.