JudikaturJustiz3Ob169/23h

3Ob169/23h – OGH Entscheidung

Entscheidung
05. Oktober 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Hon. Prof. Dr. Höllwerth als Vorsitzenden sowie den Hofrat Hon. Prof. Dr. Brenn, die Hofrätinnen Dr. Weixelbraun Mohr und Dr. Kodek und den Hofrat Dr. Stefula als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei K*, vertreten durch Mag. Franz Scharf, Rechtsanwalt in Wien, gegen die beklagte Partei Dr. M*, vertreten durch Rechtsanwälte Gruber Partnerschaft KG in Wien, wegen 486.850,27 EUR sA, über den Revisionsrekurs der beklagten Partei gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Wien als Rekursgericht vom 13. Juli 2023, GZ 11 R 168/23s 21, womit der Beschluss des Landesgerichts für Zivilrechtssachen Wien vom 31. Mai 2023, GZ 65 Cg 84/22h 15, abgeändert wurde, den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass die erstgerichtliche Entscheidung wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der beklagten Partei die mit 3.073,56 EUR (hierin enthalten 512,26 EUR USt) bestimmten Kosten der Rekursbeantwortung und die mit 3.688,98 EUR (hierin enthalten 614,83 EUR USt) bestimmten Kosten des Revisionsrekurses jeweils binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Der Beklagte, ein emeritierter Rechtsanwalt, beantragte innerhalb der Frist zur Erstattung der Klagebeantwortung die Bewilligung der Verfahrenshilfe durch Beigebung eines Rechtsanwalts. Das Erstgericht trug ihm auf, binnen 14 Tagen eine Bestätigung seines Haftpflichtversicherers über die Ablehnung der Deckung im vorliegenden Schadenersatzprozess vorzulegen.

[2] Innerhalb der – vom Erstgericht antragsgemäß verlängerten – Verbesserungsfrist zog der Beklagte, nunmehr vertreten durch einen Rechtsanwalt, seinen Verfahrenshilfeantrag im Hinblick auf die vom Haftpflichtversicherer nun doch erteilte Kostendeckung ausdrücklich „mit Wirkung ex nunc“ zurück und erstattete gleichzeitig eine Klagebeantwortung.

[3] Das Erstgericht wies den vom Kläger gestellten Antrag auf Fällung eines Versäumungsurteils ab. Die Freiheit, sich nach § 28 ZPO selbst zu vertreten, dürfe nach der Rechtsprechung bei der Entscheidung über die Beigebung eines Verfahrenshelfers nicht in eine Verpflichtung umgedeutet werden, unvertreten zu prozessieren. Von einer mutwilligen Stellung des Verfahrenshilfeantrags könne daher entgegen der Ansicht des Klägers keine Rede sein. Erst mit der Deckungszusage des Haftpflichtversicherers sei für den Beklagten aus wirtschaftlicher Sicht die Notwendigkeit weggefallen, die Verfahrenshilfe zu beantragen. Die Rücknahme eines Verfahrenshilfeantrags wirke zwar nach überwiegender Rechtsprechung ex tunc. Vertreten werde allerdings auch die Ansicht, es solle dennoch möglich sein, ausdrücklich die Rücknahme mit Wirkung ex nunc zu erklären, womit in der Sache eine Antragsabweisung vorweg genommen werde, ohne der Partei zusätzliche Nachteile zu bescheren. Ein solcher Fall liege hier vor, weshalb der Beklagte die Frist zur Erstattung der Klagebeantwortung gewahrt habe.

[4] Das Rekursgericht hob infolge R ekurses des Klägers den erstgerichtlichen Beschluss auf und trug dem Erstgericht auf, den Antrag auf Fällung eines Versäumungsurteils unter Abstandnahme vom gebrauchten Abweisungsgrund zu erledigen. Die Rücknahme eines Verfahrenshilfeantrags wirke nach gefestigter höchst-gerichtlicher Rechtsprechung ex tunc, sodass die durch den Antrag ursprünglich bewirkte Unterbrechung wegfalle. Dieser Rechtsprechung liege vor allem die Überlegung zugrunde, dass es die Partei sonst in der Hand hätte, durch die Erhebung und spätere Rücknahme eines Verfahrenshilfeantrags eine verfahrensrechtliche Notfrist zu verlängern. Die auf die Entscheidung 6 Ob 69/14m Bezug nehmende Lehrmeinung von M. Bydlinski , wonach es möglich sein sollte, ausdrücklich eine Rücknahme mit Wirkung ex nunc zu erklären, werde vom Rekursgericht nicht geteilt, weil die der herrschenden Judikatur zugrunde liegende ratio dadurch unterlaufen würde. In der Entscheidung 6 Ob 69/14m habe der Oberste Gerichtshof auch nicht klar ausgesprochen, dass unter bestimmten Voraussetzungen eine ex-nunc-Wirkung einer (gänzlichen oder teilweisen) Rücknahme eines Verfahrenshilfeantrags in Betracht komme. Es sei daher davon auszugehen, dass die durch die Stellung des Antrags auf Verfahrenshilfe bewirkte Fristunterbrechung aufgrund der Zurückziehung des Antrags ex tunc beseitigt worden sei, weshalb der Beklagte die Klagebeantwortung außerhalb der vierwöchigen Frist und somit verspätet erstattet habe.

[5] Das Rekursgericht ließ den ordentlichen Revisionsrekurs zu, weil noch keine höchstgerichtliche Rechtsprechung zur bedeutsamen Rechtsfrage existiere, ob die Partei die Möglichkeit habe, einen innerhalb einer Frist iSd § 73 Abs 2 ZPO gestellten Verfahrenshilfeantrag wirksam mit Wirkung ex nunc zurückzuziehen, insbesondere wenn die fristgebundene Prozesshandlung wie hier gleichzeitig vorgenommen werde.

[6] Mit seinem Revisionsrekurs strebt der Beklagte die „Aufhebung“ der Rekursentscheidung (richtig: die Wiederherstellung des erstgerichtlichen Beschlusses) an.

[7] In seiner Revisionsrekursbeantwortung beantragt der Kläger, dem Revisionsrekurs nicht Folge zu geben.

[8]

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zur Klarstellung der Rechtslage zulässig ; er ist auch berechtigt .

[9] 1. Hat die beklagte Partei vor Ablauf (unter anderem) der Frist, innerhalb deren sie die Klage zu beantworten hätte, die Bewilligung der Verfahrenshilfe einschließlich der Beigebung eines Rechtsanwalts beantragt, so beginnt die Frist zur Einbringung der Klagebeantwortung gemäß § 73 Abs 2 ZPO frühestens mit der Zustellung des Bescheids, mit dem der Rechtsanwalt bestellt wird, bzw mit dem Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses, mit dem die Beigebung eines Rechtsanwalts versagt wird. Von dieser Regelung, die sich gleichlautend insbesondere in § 464 Abs 3 ZPO (Berufungsfrist) findet und gemäß § 505 Abs 2 und § 521 Abs 3 ZPO auch im Revisions und Rekursverfahren anzuwenden ist und aus der von Lehre und Rechtsprechung ein allgemeines Schutzprinzip abgeleitet wird, weshalb eine Unterbrechungswirkung bei sämtlichen einer Notfrist unterliegenden Prozesshandlungen bejaht wird (vgl 1 Ob 9/21m mwN; RS0036250), macht die Rechtsprechung nur insofern eine Ausnahme, als eine Fristunterbrechung im Fall eines prozessual unzulässigen ( also nicht eines bei inhaltlicher Prüfung unberechtigten) Verfahrenshilfeantrags verneint wird (vgl RS0123515). Dies gilt insbesondere im Fall eines infolge bereits bewilligter Verfahrenshilfe überflüssigen neuerlichen Verfahrenshilfeantrags, weil dem Gesetzgeber nicht unterstellt werden kann, eine durch die Unterbrechung einer Rechtsmittelfrist bewirkte Verfahrensverzögerung in Kauf nehmen zu wollen (1 Ob 97/08h mwN), aber auch bei neuerlicher Stellung eines Verfahrenshilfeantrags nach rechtskräftiger Versagung der Verfahrenshilfe, ohne dass eine Änderung der maßgeblichen Umstände behauptet wird (1 Ob 82/08b mwN; 1 Ob 179/15b) .

[10] 2. Das Gesetz trifft keine explizite Regelung für den hier vorliegenden Fall, dass eine Partei den von ihr gestellten – eine Notfrist (wie hier für die Erstattung der Klagebeantwortung) unterbrechenden – Verfahrenshilfeantrag vor der Entscheidung des Gerichts darüber zurückzieht.

3. Die bisherige Rechtsprechung zu diesem Thema:

[11] 3.1. In der Entscheidung 3 Ob 131/98f wurde ( ohne weitere Begründung ) ausgesprochen, dass die Antragsrückziehung den ex tunc wirkenden Wegfall der Unterbrechungswirkung des Verfahrenshilfeantrags bewirke.

[12] 3.2. Diese Ansicht wurde zu 1 Ob 125/08a geteilt und mit dem Argument untermauert, dass es eine Partei andernfalls in der Hand hätte, durch Zurückziehen des Verfahrenshilfeantrags eine verfahrensrechtliche Notfrist zu verlängern.

[13] 3.3. Auch zu 8 Ob 109/09a und zu 4 Ob 158/16p wurde diese Auffassung vertreten.

[14] 3.4. Der Entscheidung 6 Ob 69/14m lag der Sachverhalt zugrunde, dass eine Partei zunächst die Bewilligung der Verfahrenshilfe im vollen Umfang (für die Erhebung eines Rekurses ) beantragt und diesen Antrag in der Folge dahin eingeschränkt hatte , dass lediglich die Verfahrenshilfe im Umfang des § 64 Abs 1 Z 1 lit a bis f ZPO, also nicht auch durch Beigebung eines Rechtsanwalts, begehrt wurde. Der Oberste Gerichtshof sprach aus, dass ab dem Zeitpunkt der Einschränkung des Verfahrenshilfeantrags kein Grund mehr für eine Unterbrechung der Rekursfrist bestanden habe, sodass der erst nach Ablauf von 14 Tagen ab Einschränkung des Antrags erhobene Rekurs zu Recht als verspätet zurückgewiesen worden sei.

[15] 3.5. Zu 1 Ob 224/21d war die Fallkonstellation zu beurteilen, dass ein von der Beklagten innerhalb der Berufungsfrist gestellter Antrag auf Verfahrenshilfe im vollen Umfang vom Erstgericht bewilligt worden war und der bestellte Verfahrenshelfer bereits Berufung gegen das Ersturteil erhoben hatte, als das Rekursgericht den Bewilligungsbeschluss zur neuerlichen Entscheidung nach Verfahrensergänzung durch das Erstgericht aufhob und die Beklagte daraufhin ihren Verfahrenshilfeantrag ohne Begründung zurückzog. Der Oberste Gerichtshof kam zum Ergebnis, dass durch die Rücknahme des Verfahrenshilfeantrags nach (bereits vor ihrer Rechtskraft wirksamer) Bestellung des Verfahrenshelfers zwar die Grundlage für dessen weitere Tätigkeit entfalle, es aber nicht sachgerecht erschiene, würden vom Verfahrenshelfer zunächst wirksam und fristgerecht vorgenommene Prozesshandlungen in diesem Fall nachträglich unwirksam werden bzw verspätet sein. Dies widerspräche auch dem Gedanken des § 68 Abs 4 erster Satz ZPO, wonach der Verfahrenshelfer bis zum Eintritt der Rechtskraft des Beschlusses, mit dem der Partei die Verfahrenshilfe mit Wirkung ex tunc entzogen werde, berechtigt und verpflichtet bleibe , für die Partei zu handeln; daraus ergebe sich, dass von diesem zuvor vorgenommene Verfahrenshandlungen jedenfalls wirksam blieben. Für die hier vertretene Auffassung spreche auch, dass die Partei im Fall der ex tunc wirkenden Entziehung der Verfahrenshilfe gemäß § 68 Abs 4 zweiter Satz ZPO insoweit vor weiteren prozessualen Nachteilen geschützt werde, als mit Zustellung des Beschlusses über die Entziehung der Verfahrenshilfe an den Rechtsanwalt der Lauf der Frist zur Erhebung von Rechtsmitteln gegen andere Entscheidungen des Gerichts bis zum Eintritt der Rechtskraft des genannten Beschlusses gehemmt werde und mit dessen Rechtskraft neu zu laufen beginnen. Dass der Partei aufgrund einer Rücknahme ihres Verfahrenshilfeantrags, aufgrund dessen Bewilligung durch das Erstgericht der Verfahrenshelfer bereits wirksame und aus damaliger Sicht fristgerechte Verfahrenshandlungen gesetzt habe, nachträglich eine Fristversäumnis zur Last gelegt würde, entspräche diesem Schutzgedanken nicht. Warum eine Partei, die ihren Verfahrenshilfeantrag nach Bewilligung durch das Erstgericht und wirksamer Bestellung eines Verfahrenshelfers zurückziehe, weniger schutzwürdig sein sollte, als jene Partei, der die Verfahrenshilfe nach Bewilligung (mit Wirkung ex tunc) entzogen werde, weil die Voraussetzungen dafür bereits von Anfang an nicht vorgelegen seien, sei nicht ersichtlich.

[16] 4. Während sich Pimmer (in Fasching/Konecny 3 § 464 ZPO Rz 19) der Judikatur zur ex-tunc-Wirkung der Rücknahme des Verfahrenshilfeantrags ohne weitere Differenzierung anschließt, vertritt M. Bydlinski (in Fasching/Konecny 3 § 65 ZPO Rz 6) die Auffassung, dass es ungeachtet der Rechtsprechung zur ex-tunc-Wirkung der Rücknahme des Verfahrenshilfeantrags möglich sein sollte, ausdrücklich eine Rücknahme mit ex-nunc-Wirkung zu erklären, womit in der Sache eine Antragsabweisung vorweg genommen werde , ohne der Partei zusätzliche Nachteile zu bescheren; in diesem Sinn sei wohl im Ergebnis auch die Entscheidung 6 Ob 69/14m zu verstehen.

5. Der Senat hat erwogen:

[17] 5.1. Wie bereits dargelegt, beginnt die durch den Verfahrenshilfeantrag unterbrochene Frist (unter anderem) erst mit Rechtskraft des den Antrag abweisenden Beschlusses neu zu laufen. Gleiches gilt gemäß § 68 Abs 4 letzter Satz ZPO sogar im Fall einer Entziehung der bereits bewilligten Verfahrenshilfe, weil nachträglich hervorgekommen ist, dass die seinerzeit angenommenen Voraussetzungen für die Bewilligung der Verfahrenshilfe nicht gegeben waren.

[18] 5.2. Das insbesondere in der Entscheidung 1 Ob 125/08a für die ex-tunc-Wirkung der Antragsrücknahme gebrauchte Argument, die Partei hätte es andernfalls in der Hand, durch Zurückziehen des Verfahrenshilfeantrags eine verfahrensrechtliche Notfrist zu verlängern, trifft zwar grundsätzlich zu. Allerdings ist zu bedenken, dass eine Partei, die in erster Linie danach trachtet, eine Notfrist zu verlängern, anstelle einer Rücknahme des Verfahrenshilfeantrags dessen Abweisung durch das Gericht abwarten (oder sogar noch ein letztlich erfolgloses Rechtsmittel dagegen erheben) kann, weil in diesem Fall die unterbrochene Notfrist erst mit Rechtskraft der Abweisung des Verfahrenshilfeantrags neu zu laufen beginnt .

[19] 5.3. Im Hinblick darauf erscheint es jedenfalls dann, wenn eine Partei – wie hier der Beklagte – den von ihr gestellten (im konkreten Fall entgegen der Ansicht des Klägers aus den schon vom Erstgericht genannten Gründen auch keinesfalls als rechtsmissbräuchlich zu qualifizierenden) Verfahrenshilfeantrag ausdrücklich „mit Wirkung ex nunc“ zurückzieht und gleichzeitig jene Prozesshandlung setzt, deren Frist durch den Verfahrenshilfeantrag unterbrochen worden war, sachgerecht, dass die ursprünglich unterbrochene Notfrist (erst) mit Rücknahme des Antrags – weil ab diesem Zeitpunkt kein Grund mehr für eine Unterbrechung der Frist bestehen kann (so bereits 6 Ob 69/14m) – neu zu laufen beginnt. Es ist nämlich nicht einzusehen, warum die Partei in einem solchen Fall schlechter gestellt sein sollte, als hätte sie sich rein passiv verhalten und die (abweisende) Gerichtsentscheidung abgewartet.

[20] 6. Es ist daher die erstgerichtliche Entscheidung wiederherzustellen.

[21] Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 41, 50 ZPO. Der Beklagte hat im Zwischenstreit über die Versäumung der Klagebeantwortungsfrist obsiegt. Der Erhöhungsbetrag nach § 23a RATG beträgt allerdings auch für den Revisionsrekurs nur 2,60 EUR, weil es sich bei diesem Rechtsmittel nicht um den verfahrenseinleitenden Schriftsatz handelt.