JudikaturJustiz2Ob200/21g

2Ob200/21g – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. April 2022

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch die Senatspräsidentin Dr. Grohmann als Vorsitzende sowie den Senatspräsidenten Dr. Musger, die Hofrätin Dr. Solé und die Hofräte Dr. Nowotny und MMag. Sloboda als weitere Richter in der Rechtssache der klagenden Partei Fachverband der Versicherungsunternehmen, Wien 3, Schwarzenbergplatz 7, vertreten durch die Krist Bubits Rechtsanwälte OG in Mödling, gegen die beklagten Parteien 1. E*, vertreten durch Mag. Barbara Loipetsberger, Rechtsanwältin in Vöcklabruck, und 2. R* GmbH Co KG, *, vertreten durch die Rechtsanwälte Haberl und Huber GmbH Co KG in Vöcklabruck, wegen 27.167,18 EUR sA und Feststellung (Streitwert 3.000 EUR), über die Revision der zweitbeklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht vom 29. Juli 2021, GZ 3 R 85/21x 54, womit das Urteil des Landesgerichts Wels vom 11. Mai 2021, GZ 5 Cg 43/20b 46, abgeändert wurde, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird Folge gegeben.

Das angefochtene Urteil wird dahin abgeändert, dass in Bezug auf die zweitbeklagte Partei das abweisliche Urteil des Erstgerichts wiederhergestellt wird.

Die klagende Partei ist schuldig, der zweitbeklagten Partei die mit 4.926,86 EUR (darin 566,81 EUR USt und 1.526 EUR Barauslagen) bestimmten Kosten des Rechtsmittelverfahrens binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

[1] Am 13. 10. 2016 ereignete sich in einer auf dem Betriebsgelände des zweitbeklagten Speditionsunternehmens befindlichen Lagerhalle ein Unfall, an welchem ein Lkw Fahrer einer anderen Spedition und der damals bei der Zweitbeklagten als Leasingarbeitskraft beschäftigte Erstbeklagte beteiligt waren.

[2] Beide Speditionsunternehmen sind Mitglieder eines Logistikverband s , zwischen denen kein direktes Vertragsverhältnis besteht. Aufgrund der zentralen geografischen Lage ist die Zweitbeklagte das Hauptumschlaglager in Österreich.

[3] Die Halle der Zweitbeklagten hat ein Innenausmaß von etwa 49 m mal 24 m. An ein er Seite sind 10 Rampen angebracht, an denen die Lkw be und entladen werden. Es besteht keine Sichtbehinderung auf dahinter befindliche oder von der Seite annähernde Personen.

[4] Der Be und Entladevorgang wird jeweils von den Lkw-Fahrern selbst mit einem von der zweitbeklagten Partei zur Verfügung gestellten Elektrohubwagen (sogenannte Ameise) vorgenommen, wobei ihnen auch Staplerfahrer der Zweitbeklagten mit Elektrohubstaplern behilflich sind. Die Lkw-Fahrer bekommen ein Handscangerät zur Verfügung gestellt, mit dem sie die auf den Boxen/Paletten angebrachten Aufkleber samt Strichcode einscannen. Dadurch erfahr en sie den Abstellplatz der Ware in der Halle, der sich auf der den Rampen gegenüberliegenden Seite befindet. Diese Vorgangsweise war dem Verunfallten und dem Erstbeklagten hinreichend bekannt.

[5] Die in der Halle verwendeten Elektrohubstapler haben grundsätzlich vier Geschwindigkeitsstufen. Bei Stufe 1 liegt die erreichbare Höchstgeschwindigkeit bei 8 bis 9 km/h, bei Stufe 4 bei 15 km/h. D ie Stapler der Zweitbeklagten wurden aufgrund der Platzverhältnisse nur mit Stufe 1, somit mit einer Fahrgeschwindigkeit von unter 10 km/h, ausgeliefert. Für eine Änderung der Stufe wäre es notwendig, im Display einen 5 stelligen Code einzugeben. Dieser Code des Herstellers war dem Servicetechniker, a ber keinem Mitarbeiter der Zweitbeklagten bekannt. Die Zweitbeklagte erteilte de m Service unternehmen auch nie den Auftrag, die Geschwindigkeitsstufe der Elektrostapler abzuändern.

[6] Am 13. 10. 2016 kam der verunfallte Lkw Fahrer wie jeden Abend zum Betrieb der Zweitbeklagten, u m seinen Lkw zu entladen. Während des Entladevorgang s fuhr er mit der beladenen Ameise in den Bereich der rechten Begrenzung der „Box 6“ und wollte dort den Strichcode scannen. Zur gleichen Zeit war der Erstbeklagte daneben einem anderen Fahrer behilflich . Ihm war bewusst, dass der später verunfallte Lkw Lenker neben ihm arbeitete. Er hob eine Palette zum Scannen hoch und setzte danach, nach einem – wenn überhaupt – kurzen, nicht sorgfältigen Blick über die linke Schulter, zurück und überfuhr dabei den Fuß des neben ihm ausladenden Lkw Fahrers. Jedenfalls d urch eine Kopfwendung wäre d ie Sicht vom Elektrostapler auf den dahinter befindlichen Lkw Lenker und auch dessen Abladegut möglich gewesen.

[7] Der Kläger begehrt die Zahlung von gesamt 27.167,18 EUR sA für an den Verunfallten geleistete Entschädigungsbeträge, die der Höhe nach nicht mehr strittig sind, und die Feststellung der Haftung der Beklagten für sämtliche von der Klägerin künftig noch zu leistende, aus dem Unfall resultierende Entschädigungsbeträge insbesondere gemäß VOEG. Das Alleinverschulden am Unfall treffe den Erstbeklagten, der beim Rückwärtsfahren mit dem Elektrohubstapler jegliche Sorgfalt außer Acht gelassen und trotz Sicht auf den neben ihm Arbeitenden weder in den Spiegel geschaut noch über die Schulter einen Blick nach hinten geworfen habe. Die Zweitbeklagte hafte als Halterin des eine Bauartgeschwindigkeit von mehr als 10 km/h aufweisenden Elektrohubstaplers.

[8] Der Erstbeklagte bestritt und verwies auf das Allein-, oder zumindest aber überwiegende Mitverschulden des Verunfallten, der sich – ohne Notwendigkeit – direkt hinter dem Elektrohubstapler aufgehalten habe, ohne auf sich aufmerksam zu machen. Er sei im Rückspiegel nicht wahrnehmbar gewesen und habe weder eine Warnweste noch Sicherheitsschuhe getragen.

[9] Die Zweitbeklagte bestritt eine Haftung wegen des Alleinverschuldens des Verunfallten und auch vor dem Hintergrund der Bestimmung des § 2 Abs 2 EKHG sowie des im § 333 ASVG statuierten Dienstgeberhaftungsprivilegs. Der Elektrohubstapler sei ihr mit einer Fahrgeschwindigkeit unter 10 km/h ausgeliefert worden; eine Änderung der Fahrgeschwindigkeit erfordere die Eingabe eines – lediglich der Lieferantin des Elektrohubstaplers bekannten – Codes. Die ihre Lagerhalle aufsuchenden Lkw Fahrer anderer Speditionen würden ihre Lkw „verlassen“ und eingegliedert Tätigkeiten verrichten, die sonst di e Mitarbeiter der Zweitbeklagten übernehmen würden; dabei seien sie der Aufsicht und den Weisungen der Zweitbeklagten unterworfen und würden als Gegenleistung Kaffeegeld erhalten.

[10] D as Erstgericht gab ausgehend von dessen Alleinverschulden dem gegen den Erstbeklagten gerichteten Leistungsbegehren im Umfang von 23.167,18 EUR sA und dem Feststellungsbegehren zur Gänze Folge, und wies das Leistungsmehrbegehren ab. In Bezug auf die Zweitbeklagte wies e s das Klagebegehren zur Gänze ab. Eine Haftung der Zweitbeklagten scheide nach § 2 Abs 2 EKHG aus, weil die Bauartgeschwindigkeit des Elektrohubstaplers 10 km/h nicht überschreite.

[11] Das Berufungsgericht änderte dieses U rtei l dahin ab, dass es – ausgehend von einer Verschuldens- bzw Haftungsteilung im Verhältnis 1 : 3 – die B eklagten zur ungeteilten Hand zur Leistung von 17.375,39 EUR verpflichtete, ihre Haftung für zukünftige von der Klägerin in diesem Zusammenhang zu leistende Entschädigungsbeträge zur ungeteilten Hand zu drei Vierteln feststellte und das jeweilige Mehrbegehren abwies.

[12] In Bezug auf die nur noch am Revisionsverfahren beteiligte Zweitbeklagte sprach es aus, dass nach § 2 Abs 2 EKHG Fahrzeuge dauernd von der Haftung nach dem EKHG befreit seien, die an sich nur einen langsamen Betrieb gestatteten; sie müssten zu diesem Zweck in irgendeiner Weise technisch derart beschaffen sein, dass sie die zu einer größeren Geschwindigkeit nötige Kraft gar nicht entwickeln könnten oder diese ohne menschliches Zutun (automatische Bremsen) vernichtetet werde. Eine durch den Anwender eingestellte Geschwindigkeitsbegrenzung ändere dagegen nichts an der Bauartgeschwindigkeit, die ein vom Hersteller ermittelter Wert sei, der nicht vom Vorhandensein eines veränderbaren Geschwindigkeitsbegrenzers abhängig sein könne. Auf § 333 Abs 1 ASVG könne sich die Zweitbeklagte ebenfalls nicht berufen, weil der Verunfallte nicht bei ihr eingegliedert gewesen sei. Sein Mitverschulden sei mit einem Viertel zu bewerten.

[13] Die ordentliche Revision sei zu zulassen , weil Rechtsprechung zur Frage fehle, ob § 2 Abs 2 EKHG auch Kraftfahrzeuge erfasse, die nach ihrer Bauart und Ausrüstung grundsätzlich die Geschwindigkeit von 10 km/h überschreiten könnten, jedoch aufgrund einer vom Hersteller eingestellten, durch Eingabe eines Codes beseitigbaren Geschwindigkeitsbegrenzung die Geschwindigkeit über 10 km/h konkret nicht erreichten.

[14] G egen den im Bezug auf die Zweitbeklagte stattgebenden Teil dieser Entscheidung richtet sich deren Revision mit dem Abänderungsantrag, insofern die abweisliche erstgerichtliche Entscheidung wiederherzustellen. Hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

[15] Die Klägerin beantragt in ihrer Revisionsbeantwortung , die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

[16] Die Revision ist aus dem vom Berufungsgericht genannten Grund zulässig ; sie ist auch berechtigt .

Rechtliche Beurteilung

[17] 1. Gemäß § 2 Abs 2 Satz 1 EKHG ist der Begriff des Kraftfahrzeugs grundsätzlich im Sinne des Kraftfahrgesetzes 1967, BGBl Nr 267, auszulegen. Nach dessen § 2 Abs 37a ist die Bauartgeschwindigkeit als die Geschwindigkeit definiert, hinsichtlich der aufgrund der Bauart des Fahrzeugs dauernd gewährleistet ist, da ss sie auf gerader, waagrechter Fahrbahn bei Windstille nicht überschritten werden kann.

[18] § 2 Abs 2 Satz 2 EKHG bestimmt, dass das EKHG auf solche Fahrzeuge nicht anzuwenden ist, bei denen nach ihrer Bauart und ihrer Ausrüstung dauernd gewährleistet ist, da ss mit ihnen auf gerader, waagrechter Fahrbahn bei Windstille eine Geschwindigkeit von 10 km in der Stunde nicht überschritten werden kann. Das Gesetz übernahm da bei die Definition des § 1 Abs 2 lit a KFG 1967 idF vor der 4. KFG-Novelle 1977, BGBl 615/1977 , wodurch – ausgehend von der Rechtsansicht, dass die große Geschwindigkeit eine der Hauptgefahren des Betriebs sei – bestimmungsgemäß langsame Fahrzeuge von der strengen Haftpflicht ausgenommen werden sollten ( Danzl EKHG § 2 Rn 6). Der Gesetzgeber ist also davon ausgegangen, dass erst im Geschwindigkeitsbereich darüber die typische Gefährlichkeit des Betriebs eines Kraftfahrzeugs einsetzt.

[19] Gerade diese Gefahr hat sich hier nicht verwirklicht, weil der Hubstapler in der ausgelieferten Form keine Geschwindigkeit von über 10 km/h erreichen konnte.

[20] 2. Nach den Materialien zur Definition in § 1 Abs 2 lit a KFG 1967, ErläutRV 186 BlgNR XI. GP 69 besagen die Worte „nach ihrer Bauart und Ausrüstung dauernd gewährleistet“, dass eine Überschreitung der festgesetzten Höchstgeschwindigkeit bei den angegebenen Prüfbedingungen ohne Veränderung des Fahrzeugs durch technische Eingriffe mit erheblichem Müheaufwand, wie insbesondere Entfernung, Austausch oder Hinzufügen von Bestandteilen, nicht möglich ist.

[21] Die nunmehrige Legaldefinition des § 2 Z 37a KFG 1967 wurde durch die 4. Kraftfahrgesetz Novelle (BGBl Nr 615/1977) eingefügt. Nach deren Materialien (ErläutRV 57 BlgNR 14. GP 29) sollte damit aufgrund der häufigen Verwendung der Begriffe „durch die Bauart und Ausrüstung eines Fahrzeuges dauernd gewährleistete Geschwindigkeit auf gerader waagrechter Fahrbahn bei Windstille“ in den Kraftfahrvorschriften zur leichteren Lesbarkeit der Texte eine Kurzbezeichnung eingeführt werden. Ergänzend wird im AB zu § 2 Z 37a KFG 1967 (649 BlgNR 14. GP 2) die Ansicht vertreten dass durch die neue Definition der „Bauartgeschwindigkeit“ der Anwendungsbereich des § 2 Abs 2 EKHG nicht verändert werde, „da die Ausrüstung eines Fahrzeuges nicht als Kriterium angesehen werden kann, das das Erzielen einer bestimmten höheren Geschwindigkeit ausschließt“.

[22] 3. Mittlerweile hat es der technische Fortschritt aber mit sich gebracht, dass nicht nur mechanische Vorkehrungen die grundsätzlich erreichbare Geschwindigkeit begrenzen können. Auch die elektronische Ausrüstung eines Fahrzeugs kann nunmehr die Überschreitung einer bestimmten Geschwindigkeit, so auch der in § 2 Abs 2 Satz 2 EKHG definierten, dauerhaft verhindern, wenn die Begrenzung nicht ohne erheblichen Aufwand überwunden werden kann. Davon ist auszugehen, wenn – ähnlich wie früher die erforderlichen technischen Eingriffe nur insoweit versierten Personen möglich waren – nun die Überwindung der elektronischen Sperre spezifische, nicht allgemein zugängliche Kenntnisse erfordert.

[23] 4 . Hier wurden die Elektrohubstapler der Zweitbeklagten mit Stufe 1, also einer Fahrgeschwindigkeit von unter 10 km/h, ausgeliefert. Der f ür die Änderung der Stufe und damit der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit notwendige Code war der Zweitbeklagten und ihren Mitarbeitern nicht bekannt. Die Nichtüberschreitung der erreichbaren Höchstgeschwindigkeit war aufgrund der Ausrüstung der Elektrohubstapler zum Unfallszeitpunkt dauernd gewährleistet. Die typische Gefährlichkeit konnte sich damit nicht verwirklichen. Die Ausnahmebestimmung des § 2 Abs 2 Satz 2 EKHG ist anzuwenden und die Halterhaftung der Zweitbeklagten zu verneinen.

[24] Der Revision der Zweitbeklagten war Folge zu geben und insoweit die abweisende erstinstanzliche Entscheidung wiederherzustellen.

[25] 5. Die Kostenentscheidung ist in den §§ 41 Abs 1, 50 Abs 1 ZPO begründet.