JudikaturJustiz2Ob199/03h

2Ob199/03h – OGH Entscheidung

Entscheidung
25. September 2003

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter in der Pflegschaftssache des mj Marcel S*****, Deutschland, vertreten durch das Kreisjugendamt Berchtesgadener Land, dieses vertreten durch das Stadtjugendamt Salzburg, St. Julienstraße 20, 5024 Salzburg, infolge ordentlichen Revisionsrekurses des Kindes gegen den Beschluss des Landesgerichtes Salzburg als Rekursgericht vom 25. Juni 2003, GZ 21 R 212/03b 5, womit der Beschluss des Bezirksgerichtes Salzburg vom 30. April 2003, GZ 2 P 140/03t 2, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Revisionsrekurs wird Folge gegeben.

Die Entscheidungen der Vorinstanzen werden aufgehoben. Dem Erstgericht wird die Durchführung des Verfahrens über den Antrag unter Abstandnahme vom gebrauchten Zurückweisungsgrund aufgetragen.

Text

Begründung:

Der Antragsteller ist deutscher Staatsbürger und lebt bei seiner Mutter in Deutschland. Der in Salzburg wohnhafte Vater wurde mit Beschluss des Amtsgerichtes Laufen zur Zahlung eines monatlichen Unterhaltsbetrages von EUR 176,40 verpflichtet.

Mit seinem an das Erstgericht gerichteten Antrag begehrte der Antragsteller Unterhaltsvorschüsse nach den §§ 3, 4 Z 1 UVG in Höhe von monatlich EUR 65,40. Ihm sei in Deutschland für die Zeit vom 1. 1. 2002 bis 31. 8. 2006 ein monatlicher Unterhaltsvorschuss von EUR 111, und für die Zeit vom 1. 9. 2006 bis 31. 10. 2006 ein solcher von monatlich EUR 151, - gewährt worden. Nach der Judikatur des EuGH habe er als in Deutschland aufhältiger Minderjähriger mit deutscher Staatsangehörigkeit einen Anspruch auf Unterhaltsvorschussleistung der Republik Österreich, weil sein Vater in Österreich lebe. Eine gegen ihn geführte Fahrnisekekution samt Exekution zur Sicherstellung sei erfolglos gewesen; eine Forderungsexekution auf das dem Vater gewährte Arbeitslosengeld wäre aussichtslos. Der geltend gemachte Unterhaltsanspruch stelle die Differenz zwischen dem festgesetzten Kindesunterhalt und den in Deutschland bezogenen Unterhaltsvorschüssen dar.

Das Erstgericht wies den Antrag wegen fehlender inländischer Gerichtsbarkeit zurück, weil der Minderjährige deutscher Staatsbürger sei und seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe.

Das Rekursgericht bestätigte diese Entscheidung. Nach § 110 JN sei die inländische Gerichtsbarkeit dann gegeben, wenn es sich bei dem Minderjährigen oder sonstigen Pflegebefohlenen um einen österreichischen Staatsbürger handle oder wenn er seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich habe. Fehlten sowohl österreichische Staatsangehörigkeit als auch der gewöhnliche Aufenthalt in Österreich, so bestehe grundsätzlich keine inländische Gerichtsbarkeit, es sei denn, es handle sich a) um eine dringende Maßnahme, die aber zumindest den Aufenthalt des Minderjährigen im Inland voraussetze, oder b) um eine Maßnahme, die in Österreich befindliches Vermögen des Minderjährigen betreffe. Keiner dieser Anknüpfungspunkte sei im vorliegenden Fall gegeben. Auch in bi und multilateralen Abkommen fänden sich soweit überblickbar keine Sondervorschriften, die eine staatsvertragliche Verpflichtung Österreichs zur Ausübung der Gerichtsbarkeit in Unterhaltsvorschusssachen für Minderjährige, die weder österreichische Staatsbürger seien, noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in Österreich hätten, statuieren würden. Die Verordnung Nr 44/2001 des Rates vom 22. 12. 2000 über die gerichtliche Zuständigkeit und die Anerkennung von Entscheidungen in Zivil und Handelssachen (Brüssel I VO) regle die inländische Gerichtsbarkeit für das Erkenntnis und Provisorialverfahren und zwar auch zwischen Unterhaltspflichtigen und Unterhaltsberechtigten, wozu das Unterhaltsvorschussverfahren nicht gezählt werden könne. Eine Gesetzeslücke liege nicht vor. Mangels inländischer Gerichtsbarkeit sei nicht zu prüfen, ob die materiellen Voraussetzungen für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen vorlägen. Der Revisionsrekurs sei zulässig, weil zu den relevierten Rechtsfragen höchstgerichtliche Rechtsprechung fehle.

Dagegen richtet sich der ordentliche Revisionsrekurs des Kindes mit dem Antrag auf Abänderung der angefochtenen Beschlüsse dahingehend, dass dem Antragsteller Unterhaltsvorschüsse von monatlich EUR 65,40 gewährt würden.

Rechtliche Beurteilung

Der Revisionsrekurs ist zulässig und auch berechtigt.

Der Oberste Gerichtshof hat zu 1 Ob 199/03a bei einem vergleichbaren Sachverhalt (ein in Deutschland lebendes Kind macht Unterhaltsvorschüsse in Österreich geltend; der berufstätige Vater lebt in Salzburg) folgendes ausgeführt:

"Der Oberste Gerichtshof hat im Anschluss an die Entscheidungen des EuGH (C 85/99 - Offermanns; C 255/99 - Humer) wiederholt ausgesprochen, die Regelung des § 2 Abs 1 UVG, die den Kreis der vorschussberechtigten Personen bestimme, sei im Verhältnis zu den Bestimmungen der Wanderarbeitnehmerverordnung (Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. 6. 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbstständige sowie der Familienangehörigen, die innerhalb der Gemeinschaft zu und abwandern) unvollständig. Die Art 73 und 74 dieser - auch im innerstaatlichen Rechtsbereich unmittelbar anzuwendenden - Verordnung seien so auszulegen, dass ein mj Kind, das zusammen mit dem sorgeberechtigten Elternteil in einem anderen als dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat wohnt und dessen anderer, zu Unterhaltszahlungen verpflichteter Elternteil in dem die Leistung erbringenden Mitgliedstaat tätiger oder arbeitsloser Arbeitnehmer ist, Anspruch auf eine Familienleistung wie den Unterhaltsvorschuss nach dem UVG habe (1 Ob 86/01f = ÖA 2001, 314; 7 Ob 39/02i, RIS Justiz RS0115509). Ein unterhaltsberechtigter Minderjähriger habe nach diesen Normen des Gemeinschaftsrechtes trotz Fehlens des gewöhnlichen Aufenthaltes in Österreich entgegen § 2 Abs 1 UVG Anspruch auf Gewährung von Unterhaltsvorschüssen, sofern sein Vater in Österreich berufstätig oder aber arbeitslos ist und Arbeitslosengeld bezieht. Voraussetzung ist nicht eine berufliche Tätigkeit oder Beschäftigungslosigkeit des in einen Mitgliedstaat der Gemeinschaft verzogenen obsorgeberechtigten Elternteiles, vielmehr genüge es, dass der im Inland verbleibende andere Elternteil berufstätig oder beschäftigungslos ist. Ob die Eltern verheiratet sind oder waren, ist nicht entscheidungswesentlich (1 Ob 289/01h, zur Frage der Einstellung gewährter Unterhaltsvorschüsse).

Zutreffend verweist der Revisionsrekurswerber nun darauf, dass das Einräumen materieller Ansprüche nach dem UVG auch die inländische Gerichtsbarkeit nach sich ziehen müsse. Auch wenn in Österreich ungeachtet der neueren Judikatur des EuGH zum Kreis der Anspruchsberechtigten weder die Bestimmungen des UVG noch jene der Verfahrensgesetze entsprechend angepasst worden seien, müssten bestehende Gesetzeslücken in der Weise gefüllt werden, dass die Gerichte im Hinblick auf die materiell rechtliche Lage in den fraglichen Fällen die inländische Gerichtsbarkeit als gegeben betrachten.

Aus den verfahrensrechtlichen Bestimmungen des UVG ist abzuleiten, dass der Gesetzgeber davon ausgeht, über Anträge auf nach dem österreichischen UVG zu gewährende Unterhaltsvorschüsse sei von österreichischen Gerichten zu erkennen (vgl §§ 10, 34 UVG); auch die dem Präsidenten des Oberlandesgerichtes eingeräumte verfahrensrechtliche Stellung (vgl §§ 14, 15 Abs 1, 32 UVG) setzt ein Verfahren vor einem österreichischen Gericht voraus, zumal auch die Auszahlung der Vorschüsse durch den Präsidenten des Oberlandesgerichtes zu verfügen ist (§ 13 Abs 1 Z 3, § 17 Abs 1 UVG). Es erschiene daher problematisch, den Antragsteller darauf zu verweisen, Unterhaltsvorschüsse nach den Bestimmungen des österreichischen UVG in einem Verfahren vor dem (ausländischen) Pflegschaftsgericht seines Wohnsitzes zu begehren.

Darüber hinaus ist nicht zu übersehen, dass § 110 Abs 1 JN das Vorliegen der österreichischen inländischen Gerichtsbarkeit nicht ausschließlich von der (österreichischen) Staatsbürgerschaft bzw den Aufenthalt des Pflegebefohlenen im Inland abhängig macht. Nach § 110 Abs 1 Z 3 JN liegt die inländische Gerichtsbarkeit auch dann vor, wenn der Pflegebefohlene Vermögen im Inland hat, soweit es um dieses Vermögen betreffende Maßnahmen geht. Nach den - durch Vorlage entsprechender Urkunden bescheinigten - Behauptungen des Antragstellers besitzt er einen Unterhaltsanspruch von monatlich EUR 176,40 gegen seinen in Salzburg wohnhaften (berufstätigen) Vater. Damit ist die Voraussetzung des inländischen Vermögens erfüllt, weil bei Forderungen der Wohnsitz oder der gewöhnliche Aufenthalt des Schuldners als der Ort gilt, an welchem sich das Vermögen befindet (§ 99 Abs 2 Satz 1 JN). Da § 1 UVG bestimmt, dass der Bund auf den gesetzlichen Unterhalt minderjähriger Kinder Unterhaltsvorschüsse zu gewähren hat, kann - jedenfalls bei auch den europarechtlichen Aspekt einschließender verfassungskonformer Interpretation durchaus gesagt werden, dass die Geltendmachung von Unterhaltsvorschüssen eine Maßnahme darstellt, die das im Unterhaltsanspruch bestehende Vermögen des Minderjährigen betrifft.

Da somit die Tatbestandsvoraussetzungen des § 110 Abs 1 Z 3 JN erfüllt sind, ist die inländische Gerichtsbarkeit gegeben."

Der erkennende Senat schließt sich diesen Ausführungen an. Im hier zu beurteilenden Fall ist der in Salzburg lebende Vater zwar arbeitslos, bezieht aber in Österreich Arbeitslosengeld. Da der Bezug von Arbeitslosengeld für die Gewährung von Unterhaltsvorschüssen kein Hinderungsgrund ist (1 Ob 289/01h), ist daher auch im vorliegenden Fall die inländische Gerichtsbarkeit gegeben.

Das Erstgericht wird daher den Antrag meritorisch zu behandeln haben.