JudikaturJustiz2Ob129/00k

2Ob129/00k – OGH Entscheidung

Entscheidung
26. April 2001

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Niederreiter als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schinko, Dr. Tittel, Dr. Baumann und Hon. Prof. Dr. Danzl als weitere Richter, in der Rechtssache der klagenden Partei Martina P*****, vertreten durch Dr. Peter Rudeck und Dr. Gerhard Schlager, Rechtsanwälte in Wien, gegen die beklagte Partei ***** Versicherungs AG, ***** vertreten durch Dr. Herbert Salficky, Rechtsanwalt in Wien, wegen S 150.000, sA und Feststellung (Streitwert S 30.000, ), über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichtes Wien als Berufungsgericht vom 4. Februar 2000, GZ 12 R 152/99g 17, womit infolge Berufung der beklagten Partei das Urteil des Landesgerichtes für Zivilrechtssachen Wien vom 11. Mai 1999, GZ 11 Cg 177/98z 13, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung zu Recht erkannt:

Spruch

Der Revision wird nicht Folge gegeben.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit S 6.086,40 (darin enthalten S 1.014,40 Umsatzsteuer) bestimmten Kosten der Revisionsbeantwortung binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Entscheidungsgründe:

Am 4. 7. 1997 ereignete sich gegen 20,30 Uhr auf der A 22 Donauuferautobahn Richtungsfahrbahn Wien auf Höhe Kilometer 13.336 ein Verkehrsunfall im dritten Fahrstreifen von rechts, an welchem die Klägerin als Fußgängerin, ein bei der beklagten Partei haftpflichtversicherter PKW Passat und ein weiterer PKW Saab, gelenkt vom später tödlich verunglückten Otto H***** beteiligt waren. Die Fahrbahn war nass; es befand sich eine starke Wasserfläche vor der Unfallstelle auf der Fahrbahn. Der Lenker des PKWs Saab war in Fahrtrichtung Wien unterwegs, als sein Fahrzeug ins Schleudern geriet, gegen die Mittelleitschiene stieß und gegen die Fahrtrichtung auf dem dritten Fahrstreifen zum Stillstand kam. Der weitgehend unverletzt gebliebene Lenker des PKWs Saab rief nach dem Unfall die freiwillige Feuerwehr in Korneuburg an und ersuchte, sein Fahrzeug abzuschleppen. Die Klägerin näherte sich der Unfallstelle mit ihrem PKW Renault 11. Sie fuhr auf dem Pannenstreifen, auf welchem sich bereits ein weiteres Fahrzeug befand und zwei Personen auf dem Pannenstreifen standen. Diese teilten ihr mit, dass der Lenker des PKW Saab durch den Unfall nicht verletzt worden sei und fuhren anschließend weiter. Der Lenker des PKW Saab stand zu diesem Zeitpunkt zwischen der Mittelleitschiene und seinem Fahrzeug, in seinem Bereich war auch ein Pannendreieck. Sonst war die Unfallstelle nicht abgesichert. Die Klägerin "sprach über die Autobahn" kurz mit dem Lenker und forderte diesen auf, zu ihr auf den Pannenstreifen zu kommen und da zu warten. Sie war der Meinung, dass es gefährlich sei, wenn der PKW Lenker weiter im dritten Fahrstreifen bei seinem verunfallten PKW bleibt. Der PKW Lenker reagierte seltsam, war sehr verwirrt; die Klägerin hatte den Eindruck, dass er unter Schock stand. Da der PKW Lenker ihrem Rat nicht folgte, entschloss sie sich über die Fahrbahn zu ihm zu gehen. Bevor sie die Überquerung der Fahrbahn begann, blickte sie nach links und sah noch kein Fahrzeug sich der Unfallstelle nähern. Die Gehstrecke vom Pannenstreifen bis zum späteren Unfallort betrug 10 m, wofür mit normaler Gehgeschwindigkeit eine Zeit von 7,2 Sekunden benötigt wird.

Der bei der beklagten Partei haftpflichtversicherte Lenker des PKW Passat fuhr im zweiten Fahrstreifen in Fahrtrichtung Wien mit einer Geschwindigkeit von 130 bis 140 km/h, als er eine starke Wasserfläche auf der Fahrbahn bemerkte und im dritten Fahrstreifen den PKW Saab stehen sah. Er ging vom Gas weg, leitete eine Notbremsung ein und kam ins Schleudern, wodurch er mit dem rechten Fronteck gegen die Mittelleitschiene stieß und dann mit der linken Heckseite mit 86 km/h gegen die Front des PKW Saab. Der Saab wurde dadurch auf den Pannenstreifen geschleudert und kam dort zum Stillstand. Der Lenker des PKW Saab wurde getötet, die Klägerin durch den wegschleudernden PKW Saab getroffen und schwer verletzt. Die Klägerin befand sich zum Unfallszeitpunkt bereits hinter dem PKW Saab. Es konnte nicht festgestellt werden, wielange sie sich bereits hinter dem PKW befand, bevor es zum Anstoß durch den PKW Passat kam.

Die Klägerin begehrt Schmerzengeld in Höhe von S 150.000, - sowie die Feststellung der Haftung der beklagten Partei für zukünftige und Spätfolgen. Das Alleinverschulden treffe den bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Lenker des PKW Passat, der im Straßenverkehr die notwendige Sorgfalt außer Acht gelassen und eine im Hinblick auf die Fahrbahnverhältnisse und das verunfallte Fahrzeug relativ überhöhte Fahrgeschwindigkeit von 130 bis 140 km/h eingehalten und verkehrstechnisch falsch reagiert habe.

Die beklagte Partei beantragte die Abweisung des Klagebegehrens. Die Klägerin habe sich ohne Notwendigkeit einer Selbstgefährdung ausgesetzt. Sie hätte als Fußgängerin die Autobahn nicht betreten oder auf dieser verweilen dürfen.

Das Erstgericht gab dem Klagebegehren statt.

Es beurteilte den eingangs wiedergegebenen Sachverhalt dahin, dass den Lenker des bei der beklagten Partei haftpflichtversicherten Fahrzeuges durch Außerachtlassung der im Straßenverkehr notwendigen Sorgfalt und Einhaltung einer im Hinblick auf die Fahrbahnverhältnisse und das verunfallte Fahrzeug bei weitem relativ überhöhten Geschwindigkeit sowie einer unrichtigen Reaktion das Alleinverschulden treffe. Die Klägerin treffe kein Mitverschulden, weil sie verpflichtet gewesen sei, einem verunfallten Lenker Hilfe zu leisten.

Das Berufungsgericht gab der nur gegen die Stattgebung eines S 75.000 sA übersteigenden Betrages und die Stattgebung des Feststellungsbegehrens im Umfang der 50 % übersteigenden Haftung gerichteten Berufung der beklagten Partei nicht Folge und sprach aus, dass die ordentliche Revision zulässig sei.

Es teilte die Rechtsmeinung des Erstgerichtes, dass die Klägerin eine Kürzung ihrer Ansprüche infolge Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten nicht hinnehmen müsse. Beim Betreten der Autobahn bei einem Verkehrsunfall oder einer Fahrzeugpanne handle es sich um keinen nach § 46 Abs 1 StVO verbotenen Fußgängerverkehr. Die Hilfeleistungspflicht des § 95 StGB sei eine allgemeine, ohne dass es einer Garantenstellung nach § 2 StGB bedürfte. Das Tatbetandsmerkmal der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung könne sich auch aus der Möglichkeit eines Folgeunfalles ergeben. Danach sei die Klägerin zur Hilfeleistung verpflichtet gewesen, habe sich doch das von ihr vorhergesehene Risiko des Verbleibs des verunglückten Lenkers im dritten Fahrstreifen danach tatsächlich verwirklicht. Sie sei daher berechtigt gewesen, zum Lenker des PKW Saab zu gehen und damit die Autobahn zu überqueren, um ihn zu bewegen, die Fahrbahn zu verlassen. Die Revision sei zulässig, weil ein ähnlich gelagerter Fall noch nicht entschieden worden sei.

Dagegen richtet sich die Revision der beklagten Partei mit dem Antrag, die Entscheidungen der Vorinstanzen dahin abzuändern, dass der Klägerin nur der halbe Klagebetrag zugesprochen und das Feststellungsbegehren nur im Ausmaß von 50 % für berechtigt erkannt werde.

Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen, hilfsweise ihr nicht Folge zu geben.

Rechtliche Beurteilung

Die Revision ist nicht berechtigt.

Nach § 95 StGB macht sich strafbar, wer es bei einem Unglücksfall oder einer Gemeingefahr unterlässt, die zur Rettung eines Menschen aus der Gefahr des Todes oder einer beträchtlichen Körperverletzung oder Gesundheitsschädigung offensichtlich erforderliche Hilfe zu leisten, es sei denn, dass die Hilfeleistung dem Täter nicht zuzumuten ist. Die Hilfeleistung ist nach Abs 2 leg cit insbesondere dann nicht zuzumuten, wenn sie nur unter Gefahr für Leib oder Leben oder unter Verletzung anderer ins Gewicht fallender Interessen möglich wäre. Unzumutbarkeit liegt bereits dann vor, wenn der Hilfeleistungspflichtige Gefahr läuft, selbst, wenn auch nur leicht, verletzt zu werden (Kienapfel, Grundriss des österreichischen Strafrechts I4 Rz 9 zu § 95 StGB).

Da das Betreten der Autobahn durch die Klägerin eine Gefährdung darstellte, die sie nicht auf sich nehmen musste, bestand daher für sie eine "Rettungspflicht" im strafrechtlichen Sinne nicht. Aus dieser Bestimmung ist daher für die Beurteilung dieses Falles nichts zu gewinnen. Aber auch bei bestehender Rettungspflicht kann sorglos gehandelt werden. Zu prüfen ist daher, ob der Klägerin bei ihrem Versuch, einem zwar nur leicht verletzten, aber einen verwirrten Eindruck vermittelnden Lenker von der Autobahn zu holen, eine zu berücksichtigende "Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten" zum Vorwurf gemacht werden kann. Dies ist zu verneinen.

Der Oberste Gerichtshof hatte sich wiederholt mit dem Verhalten von Fußgängern auf Autobahnen zu beschäftigen.

In den Entscheidungen ZVR 1973/217 und ZVR 1989/136 wurde ausgesprochen, dass es sich bei Betreten der Autobahn, um bei einem Verkehrsunfall Hilfe zu leisten, nicht um einen Fußgängerverkehr im Sinn des § 46 Abs 1 StVO handelt. In dem in ZVR 1989/136 zu beurteilenden Fall wurde ein auf dem fahrbahnentfernten Rand des Pannenstreifens gehender Straßenarbeiter, der den entgegenkommenden Verkehr warnen wollte, durch einen infolge überhöhter Geschwindigkeit ins Schleudern geratenen PKW getötet; dem Getöteten wurde dabei eine Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten nicht angelastet.

In der Entscheidung ZVR 1988/149 wurde das Verhalten eines bei einem Verkehrsunfall leicht verletzten (alkoholisierten) Klägers, der in der Mitte des zweiten Fahrstreifens der Autobahn einem PKW entgegenlief, um den Nachfolgeverkehr zu warnen und von ihm Hilfe zu erlangen, als grob verkehrswidrig beurteilt; ein derart unfallsträchtiges Verhalten vermöge auch durch die Absicht, dadurch einen weiteren Unfall zu verhindern, nicht entschuldigt werden und begründe ein Mitverschulden des Verletzten von zwei Drittel.

Schließlich wurde in der unveröffentlichten Entscheidung 2 Ob 154/88 einem Verkehrsteilnehmer, der zwecks Hilfeleistung nach einem anderen Verkehrsunfall die Fahrbahn überquerte und dabei getötet wurde, eine Mithaftung von 50 % auferlegt, weil er die Fahrbahn ohne die erforderliche Aufmerksamkeit überquert hatte. Zuletzt wurde zu 2 Ob 48/01z eine außerordentliche Revision zurückgewiesen, in welcher eine Haftungsteilung von 1 : 1 vorgenommen wurde. Dem lag der Sachverhalt zugrunde, dass ein LKW Lenker, der bemerkt hatte, dass ein PKW ins Schleudern geraten war, seinen LKW nicht zur Gänze auf dem Pannenstreifen abstellte und dann ohne Notwendigkeit innerhalb des ersten Fahrstreifens der Autobahn gehend dem mittlerweile auf dem Pannenstreifen abgestellten PKW zu Hilfe eilen wollte.

All diese Sachverhalte lassen sich mit dem vorliegenden nicht vergleichen.

Die Klägerin hatte zunächst den zwar nur leicht verletzten, aber ihrer Meinung nach unter Schock stehenden Lenker des PKW Saab aufgefordert, zu ihr auf den Pannenstreifen zu kommen, weil sie die Gefährlichkeit der Situation erkannte. Erst als dieser nicht reagierte, ging sie unter ordnungsgemäßer Beobachtung des Verkehrs auf den dritten Fahrstreifen und ist dort auch unversehrt angekommen. Sie befand sich bereits in Fahrtrichtung des später schleudernden PKWs hinter dem verunfallten PKW Saab und war dadurch vom Verkehr gedeckt. Der Lenker des PKW Saab stand zwischen der Mittelleitschiene und seinem Fahrzeug und war ebenfalls nicht unmittelbar gefährdet. Zwar konnte nicht festgestellt werden, wie lange die Klägerin bereits hinter dem verunfallten Fahrzeug stand, als sich der Unfall ereignete, doch ist zu ihren Gunsten lediglich von einer kurzen Zeitspanne auszugehen; Gegenteiliges konnte nicht unter Beweis gestellt werden. In dieser Situation konnte die Klägerin aber nicht vorhersehen, dass ein Fahrzeug infolge überhöhter Geschwindigkeit ebenfalls ins Schleudern geraten wird, dadurch gegen den verunfallten PKW prallt und diesen bis auf den Pannenstreifen schleudert. Die Klägerin hat daher zusammenfassend die Autobahn vorsichtig zu Hilfezwecken überquert, und sich gedeckt hinter dem verunfallten Fahrzeug, wenn auch auf der Fahrbahn aufgehalten. Eine allenfalls darin liegende Sorglosigkeit in eigenen Angelegenheiten fällt gegenüber dem gefährlichen Fahrverhalten des nachkommenden PKW Lenkers nicht messbar ins Gewicht und hat daher außer Betracht zu bleiben.

Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 41, 50 ZPO.