JudikaturJustiz1Ob111/21m

1Ob111/21m – OGH Entscheidung

Entscheidung
22. Juni 2021

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat durch den Senatspräsidenten Univ. Prof. Dr. Bydlinski als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätin Mag. Wurzer, Mag. Dr. Wurdinger, Dr. Hofer-Zeni-Rennhofer und Dr. Parzmayr als weitere Richter in der Pflegschaftssache der mj P*****, geboren am ***** 2015, *****, über den Revisionsrekurs des Vaters M*****, vertreten durch Mag. Dr. Astrid Wagner, Rechtsanwältin in Wien, gegen den Beschluss des Landesgerichts St. Pölten als Rekursgericht vom 29. April 2021, GZ 23 R 158/21i 142, mit dem der Beschluss des Bezirksgerichts Purkersdorf vom 9. März 2021, GZ 1 Ps 203/17y 138, bestätigt wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Der außerordentliche Revisionsrekurs wird mangels der Voraussetzungen des § 62 Abs 1 AußStrG zurückgewiesen.

Begründung:

Rechtliche Beurteilung

[1] 1. Seit dem KindNamRÄG 2013 soll die Obsorge beider Elternteile eher der Regelfall sein (RIS Justiz RS0128811 [T1]). Eine sinnvolle Ausübung der Obsorge beider Elternteile setzt jedoch ein gewisses Mindestmaß an Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit zwischen ihnen voraus. Um Entscheidungen gemeinsam im Sinn des Kindeswohls treffen zu können, ist es erforderlich, in entsprechend sachlicher Form Informationen auszutauschen und einen Entschluss zu fassen. Es ist daher vom Gericht zu beurteilen, ob eine entsprechende Gesprächsbasis zwischen den Eltern vorhanden oder in absehbarer Zeit mit einer solchen zu rechnen ist (RS0128812). Diese Beurteilung kann nur nach den Umständen des Einzelfalls erfolgen und begründet typischerweise keine Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 62 Abs 1 AußStrG (RS0128812 [T5, T15, T19]). Eine solche vermag der Revisionsrekurswerber nicht aufzuzeigen.

[2] 2. Nach den erstinstanzlichen Feststellungen besteht zwischen den – nur per SMS kommunizierenden – Eltern seit ihrer Trennung im Jahr 2017 keine entsprechende Gesprächsbasis und keine ziel oder lösungsorientierte Gesprächskultur, was sich beispielsweise daran zeigt, dass sie sich auch über ganz alltägliche Dinge – etwa wieviel das Kind naschen darf oder wann es eine Haube tragen soll – nicht einigen können (soweit der Revisionswerber dies als „Kleinigkeiten“ darstellt, ist ihm zu entgegnen, dass eine Einigung bei wichtigeren Entscheidungen dann umso weniger vorstellbar ist). Die Gesprächsgrundlage verbesserte sich zwar im Frühjahr 2020, sie verschlechterte sich aber ab Juli 2020 wieder deutlich. Der Grund für die mangelnde Kommunikations- und Kooperationsbereitschaft der Eltern liegt auf Seiten der Mutter – die Anfang 2020 jeden Kontakt mit dem Vater verweigerte – darin, dass sie aufgrund vergangener Vorfälle im Umgang mit ihm „massiv verunsichert“ ist. Der Vater ist der Meinung, dass sämtliche Personen im Umfeld des Kindes gegen ihn eingestellt sind. Er weist keine (Selbst )Kritikfähigkeit auf und besitzt ein „ausgesprochen aufbrausendes Wesen“, das sich etwa darin äußert, dass er die Mutter bei (vor Gericht geführten) Gesprächen über sein Kontaktrecht zum Kind zunächst nur mit persönlichen Vorwürfen konfrontierte, ohne auf die inhaltliche Thematik einzugehen. Das Erstgericht ging davon aus, dass die Gefahr bestehe, dass der Vater bei Meinungsverschiedenheiten mit der Mutter solange auf seiner Meinung beharrt, „bis die Situation eskaliert“.

[3] 3. Dass die Vorinstanzen auf dieser Grundlage die für die gemeinsame Obsorge erforderliche Kommunikationsbasis und Kooperationsbereitschaft der Eltern verneinten, bedarf keiner Korrektur. Entgegen der Ansicht des Revisionsrekurswerbers bezweckt die gemeinsame Obsorge nicht, die Kommunikationsbasis der Eltern (erst) zu verbessern. Soweit er auf die Judikatur Bezug nimmt, wonach der die alleinige Obsorge (bzw deren Beibehaltung) anstrebende Elternteil (hier die Mutter) die Kooperation und

Kommunikation mit dem anderen Teil nicht schuldhaft verweigern oder erschweren darf, weil er es sonst in der Hand hätte, die Belassung bzw Anordnung der beiderseitigen

Obsorge einseitig zu verhindern (RS0128812 [T11]), übergeht er, dass er für die mangelnde Kooperation und Kommunikation mit der Mutter (mit )verantwortlich ist. Seinem Argument, er habe „in konstruktiver Weise“ mehrfach eine Erziehungsberatung in Anspruch genommen, ist die erstinstanzliche Feststellung entgegenzuhalten, wonach dies keine nachhaltige Verbesserung der Gesprächsbasis mit der Mutter bewirkte. Entgegen dem Standpunkt des Revisionsrekurswerbers kommt eine gemeinsame Obsorge nicht schon dann in Betracht, wenn ein zukünftiges Mindestmaß an Kooperations und Kommunikationsfähigkeit „nicht völlig aussichtslos“ ist, sondern erst, wenn mit einer entsprechenden Gesprächsbasis in absehbarer Zeit gerechnet werden kann, was nach den Feststellungen aber nicht der Fall ist.