JudikaturJustiz16Ok47/05

16Ok47/05 – OGH Entscheidung

Entscheidung
17. Oktober 2005

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Rekursgericht in Kartellrechtssachen durch die Vizepräsidentin des Obersten Gerichtshofes Hon. Prof. Dr. Birgit Langer als Vorsitzende, die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Manfred Vogel und Dr. Gerhard Kuras gem § 92 Abs 2 KartG in der Kartellrechtssache der Antragstellerin Bundeswettbewerbsbehörde, 1020 Wien, Praterstraße 31, wider die Antragsgegnerin N***** AG, *****, vertreten durch Prunbauer, Themmer Toth Rechtsanwälte GmbH in Wien, wegen Antrag auf Erteilung von Auskünften gem § 11 Abs 5 WettbG, über den Rekurs der Antragsgegnerin gegen den Beschluss des Oberlandesgerichtes Wien als Kartellgericht vom 8. August 2005, GZ 29 Kt 103/05-7, den Beschluss

gefasst:

Spruch

Dem Rekurs wird Folge gegeben.

Der angefochtene Beschluss wird dahin abgeändert, dass der Antragsgegnerin die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand gegen die Versäumung der Frist zur Einbringung eines Rekurses gegen den Beschluss vom 15. 2. 2005, GZ 29 Kt 103/05-2, bewilligt wird.

Text

Begründung:

Die Antragstellerin beantragte gemäß § 11 Abs 5 WettbG, der Antragsgegnerin das Erteilen von Auskünften binnen angemessener Frist aufzutragen. Das Erstgericht gab dem Antrag mit Beschluss vom 15. 2. 2005 (ON 2) statt und bestimmte eine Frist von 14 Tagen zur Beantwortung. Der Beschluss wurde der Antragsgegnerin am 25. 2. 2005 zu Handen eines Postbevollmächtigten für RSa-Briefe zugestellt. Am 23. 6. 2005 beantragte die Antragstellerin zu 29 Kt 323/05, über die Antragsgegnerin eine angemessene Geldbuße gem § 142 Z 2 lit g KartG zu verhängen, weil sie dem Beschluss zu 29 Kt 103/05 vom 15. 2. 2005 nicht Folge geleistet habe. Dieser Antrag wurde der Antragsgegnerin am 30. 6. 2005 zur Äußerung zugestellt.

Mit am 14. 7. 2005 zur Post gegebenem Schriftsatz (ON 3) beantragt die Antragsgegnerin unter anderem, ihr die Wiedereinsetzung gegen die versäumte Frist zur Einbringung eines Rekurses gegen den Beschluss vom 15. 2. 2005 zu bewilligen und holte zugleich das versäumte Rechtsmittel nach. Zum Wiedereinsetzungsantrag brachte sie vor, erst durch Zustellung des verfahrenseinleitenden Antrags im Verfahren 29 Kt 323/05 sei ihr bekannt geworden, dass im Verfahren 29 Kt 103/05 gegen sie ein Auftrag zur Erteilung von Auskünften gem § 11 Abs 5 WettbG erlassen worden sei. Der im Antrag auf Verhängung einer Geldbuße erwähnte Beschluss vom 15. 2. 2005 sei ihr unbekannt und auch bei intensiver Durchforschung ihrer Akten nicht auffindbar gewesen; ihr Rechtsvertreter habe den Beschluss erst am 8. 7. 2005 beim Kartellgericht behoben und dabei festgestellt, dass er am 25. 2. 2005 zugestellt worden sei.

Die Antragsgegnerin habe für die Zustellung von Schriftstücken ein verlässliches System eingerichtet, durch das bei der Poststelle eingegangene Schriftstücke an die zuständigen Abteilungen und Ansprechpartner verteilt würden. Der gegenständliche Beschluss hätte dem Vorstand vorgelegt werden müssen; es habe sich nicht feststellen lassen, was mit diesem Schriftstück tatsächlich geschehen sei. Die Antragsgegnerin erhalte als größeres Unternehmen im Bereich Lebensmittelerzeugung und -handel immer wieder Schriftstücke verschiedener Behörden und Gerichte; die entsprechend ausgebildeten Mitarbeiter wüssten, wie mit solchen Urkunden zu verfahren sei und hätten sie bisher immer verlässlich behandelt.

Wiedereinsetzungsanträge seien nicht notwendig gewesen. Dass der Beschluss vom 15. 2. 2005 verschwunden und bis heute nicht wieder aufgetaucht sei, sei unerklärlich und wohl auf einen Mitarbeiterfehler im rein manipulativen Bereich irgendwo zwischen Posteingang und Übergabe an den Verantwortlichen bzw an das Vorstandsbüro zurückzuführen. Die Mitarbeiter der Antragsgegnerin, die mit Posteingang und hausinternem Transport beauftragt seien, seien im hohen Maße verlässlich; ein ähnliches Missgeschick sei ihnen noch nicht unterlaufen. Die Antragsgegnerin sei durch ein unvorhersehbares und unabwendbares Ereignis gehindert gewesen, rechtzeitig ein Rechtsmittel gegen den Beschluss zu erheben. Allenfalls liege ein Versehen minderen Grades vor.

Mit Schriftsatz vom 5. 8. 2005 (ON 6) legte die Antragsgegnerin eidesstättige Erklärungen des Vorstandssprechers der Antragsgegnerin und dessen Sekretärin vor, nach dessen Inhalt bislang keine Säumnisse im manipulativen Bereich im Zusammenhang mit behördlichen Schriftstücken vorgekommen seien. Den Beschluss vom 15. 2. 2005 habe die Sekretärin des Vorstandssprechers von der Posteingangsstelle zur Vorlage an den Vorstandssprecher übernommen, ihn aber aus einem unerklärlichen und zuvor noch nie aufgetretenen Versehen nicht an diesen weitergeleitet; möglicherweise sei das Poststück versehentlich falsch abgelegt worden oder in einen anderen Akt „hineingerutscht". Die Antragstellerin und der Bundeskartellanwalt sprachen sich gegen die Bewilligung des Wiedereinsetzungsantrages aus.

Das Erstgericht wies den Antrag ab. Grobe Fahrlässigkeit im Sinne eines Organisationsverschuldens liege dann vor, wenn keine ausreichenden Vorkehrungen dahingehend getroffen worden seien, dass einlangende Poststücke nicht einfach „verschwinden". Die Antragsgegnerin habe zwar vorgebracht, es liege ein taugliches Kontroll- und Überwachungssystem vor, habe aber nicht näher ausgeführt, worin dieses bestehe. Daraus könne somit nur geschlossen werden, dass ein derartiges Kontroll- und Überwachungssystem nicht vorhanden sei. Gerade von einem größeren Unternehmen im sensiblen Bereich von Lebensmittelerzeugung und -handel, das naturgemäß immer wieder amtliche Schriftstücke erhalte, sei zu erwarten, dass entsprechende Organisationsvorkehrungen zur weitgehenden Sicherstellung der Einhaltung von Fristen getroffen würden. Da dies offensichtlich unterlassen worden sei, liege der Antragsgegnerin grobes Verschulden an der gegenständlichen Fristversäumnis zur Last, was zur Abweisung des Wiedereinsetzungsantrags führe. Gegen diesen Beschluss richtet sich der Rekurs der Antragsgegnerin wegen Mangelhaftigkeit des Verfahrens und unrichtiger rechtlicher Beurteilung mit dem Antrag, die Wiedereinsetzung zu bewilligen; hilfsweise wird ein Aufhebungsantrag gestellt.

Die Amtsparteien haben auf eine Rechtsmittelgegenschrift verzichtet.

Rechtliche Beurteilung

Der Rekurs ist berechtigt.

Vorauszuschicken ist, dass sich das Erstgericht in seiner Entscheidung ausdrücklich auf die vorgelegten eidesstättigen Erklärungen bezieht und aufgrund deren Inhalt erkennbar für bescheinigt hält, dass bei der Antragsgegnerin bis zum gegenständlichen Vorfall kein behördliches Schriftstück verschwunden ist („Dies [gemeint: bislang seien keine Säumnisse im manipulativen Bereich vorgelegen] wurde [...] in eidesstättlichen Erklärungen [...] bekräftigt.") In der Unterlassung der Einvernahme der zu diesem Thema beantragten Auskunftsperson liegt demnach kein Verfahrensmangel. Nach dem im kartellgerichtlichen Verfahren maßgeblichen § 21 AußStrG nF (vgl § 43 KartG) sind die Bestimmungen der ZPO über die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand - von einer hier nicht in Betracht kommenden Ausnahme abgesehen - sinngemäß anzuwenden.

§ 146 Abs 1 ZPO ordnet die Bewilligung der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand ua dann an, wenn eine Partei durch ein unvorhergesehenes oder unabwendbares Ereignis - so dadurch, dass sie von einer Zustellung ohne ihr Verschulden keine Kenntnis erlangt hat, - an der rechtzeitigen Vornahme einer befristeten Prozesshandlung verhindert wurde, und die dadurch verursachte Versäumung für die Partei den Rechtsnachteil des Ausschlusses von der vorzunehmenden Prozesshandlung zur Folge hatte. Dass der Partei ein Verschulden an der Versäumung zur Last liegt, hindert die Bewilligung der Wiedereinsetzung nicht, wenn es sich nur um einen minderen Grad des Versehens handelt.

Lehre und Rechtsprechung stimmen weitgehend darin überein, dass grundsätzlich auf das eigene Verschulden der Partei abzustellen ist, das nach ihren persönlichen Verhältnissen zu bestimmen ist. Eine Zurechnung fremden Verschuldens über den gesetzlichen Vertreter der Partei, dessen Prozessbevollmächtigen und allenfalls dessen Subbevollmächtigten hinaus kommt nicht in Betracht (Nachweise bei Deixler-Hübner in Fasching, ZPO² § 146 Rz 50 ff). Erfolgt demnach die Zustellung eines fristauslösenden Schriftstücks an einen Ersatzempfänger zwar rechtmäßig, hat die Partei das Schriftstück jedoch ohne ihr Verschulden oder leicht fahrlässig zu spät vom Übernehmer erhalten, liegt für sie ein unvorhergesehenes Ereignis vor, das zur Bewilligung der Wiedereinsetzung führt (Fink, Die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand im Zivilprozessrecht, 82). Ein Eigenverschulden der Partei kann im Einzelfall allerdings darin liegen, dass sie Hilfskräfte mangelhaft ausgewählt, ausgebildet oder überwacht oder ihnen Aufgaben übertragen hat, die sie wegen ihrer Schwierigkeit und Bedeutung selbst hätte erledigen müssen. Ob grobes Verschulden vorliegt, hängt insbesondere davon ab, wie lange schon und wie zuverlässig der konkrete Mitarbeiter bisher gearbeitet hat (Gitschthaler in Rechberger, ZPO² § 146 Rz 18 mwN). Ein Verschulden eines Mitarbeiters steht der Bewilligung der Wiedereinsetzung dann nicht entgegen, wenn es sich um ein einmaliges Versehen handelt, das angesichts der bisherigen Verlässlichkeit und Bewährung des Mitarbeiters nicht zu erwarten war und der Partei nicht die Verletzung der von ihr zu erwartenden Sorgfalts-, Organisations- und Kontrollpflichten vorgeworfen werden muss (vgl RIS-Justiz RS0036813 [T1, T5].

Das Erstgericht legt der Antragsgegnerin ein grobes Organisationsverschulden zur Last, weil sie es unterlassen habe, ein taugliches Kontroll- und Überwachungssystem bei der Behandlung behördlicher Schriftstücke einzurichten. Dieser Vorwurf ist aber von vornherein unbegründet, wenn das Erstgericht zugleich als bescheinigt annimmt, dass bei der Antragsgegnerin - einem größeren Unternehmen der Lebensmittelbranche, bei dem Behördenkontakte nahezu alltäglich sind - bis zum gegenständlichen Vorfall kein behördliches Schriftstück jemals verschwunden ist.

Bei dieser Sachlage durfte sich die Antragsgegnerin nämlich darauf verlassen, dass das von ihr eingerichtete System der Postbearbeitung und -weiterleitung fehlerfrei funktioniert, gab es doch für sie bis zu diesem Zeitpunkt keinerlei Anhaltspunkte, dass die von ihr für diese Aufgabe eingesetzten Mitarbeiter mangelhaft ausgewählt, ausgebildet oder überwacht wären. Die erstmalige Fehlleistung einer bislang fehlerfrei arbeitenden Vorstandssekretärin (vgl Beil ./5 und ./6), die aus ihr unerklärlichen Gründen ein behördliches Schriftstück nicht dem vorgesehenen Empfänger ausgehändigt hat, ist demnach nicht als (grobes) Verschulden der Partei zu beurteilen, die bis dahin keine Veranlassung zu einer intensiven Überwachung ihrer Mitarbeiter gehabt hat.

Dem Rekurs ist Folge zu geben und die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bewilligen.