JudikaturJustiz15Os23/23f

15Os23/23f – OGH Entscheidung

Entscheidung
19. April 2023

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 19. April 2023 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher als Vorsitzenden, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Mag. Lendl und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Michel Kwapinski, Mag. Fürnkranz und Dr. Mann in Gegenwart der Mag. Gigl als Schriftführerin in der Strafsache des Privatanklägers N* L* gegen * N* wegen des Vergehens der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB, AZ 24 Hv 105/21m des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. Juni 2022, AZ 6 Bs 122/22z, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Holzleithner, des Vertreters des Privatanklägers Mag. Donner Reichstädter LL.M. zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache des Privatanklägers N* L* gegen * N* wegen des Vergehens der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB, AZ 24 Hv 105/21m des Landesgerichts Innsbruck, verletzt das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht vom 29. Juni 2022, AZ 6 Bs 122/22z, § 115 Abs 3 StGB.

Dieses Urteil wird ebenso wie der gemeinsam mit dem Urteil verkündete Beschluss nach § 494a Abs 1 Z 2 StPO aufgehoben und es wird in der Sache selbst zu Recht erkannt:

Der Berufung des Privatanklägers wird nicht Folge gegeben.

Dem Privatankläger N* L* wird der Ersatz der durch seine ganz erfolglos gebliebene Berufung verursachten Verfahrenskosten aufgetragen.

Text

Gründe:

[1] Mit Urteil d er Einzelrichterin des Landesgerichts Innsbruck vom 16. März 2022, GZ 24 Hv 105/21m 37, wurde * N* von der von N* L* gegen ihn erhobenen Privatanklage,

er habe in * durch seine Äußerung vom 24. März 2021 auf der öffentlichen Facebook Seite der * P* mit dem Wortlaut „So [ein] eine Missgeburt, echt !! Die Arme hatte sicher mega angst vor ihm !!“, mit welcher er den von P* veröffentlichten Zeitungsartikel der K* vom 24. März 2021 betreffend den Mord an der zweifachen Mutter D* L* durch den Privatankläger kommentierte, N* L* öffentlich beschimpft,

gemäß § 259 Z 3 StPO freigesprochen.

Dazu traf das Erstgericht im Wesentlichen folgende Feststellungen (US 4 ff):

[2] Am 24. März 2021 veröffentlichte * P* auf ihrem öffentlich zugänglichen Facebook-Profil einen Link zu einem Artikel der K*, der ab diesem Tag online abrufbar war; dieser hatte die Überschrift „Mutter getötet – 'Wieso haben die Behörden nicht eingegriffen?'“ und war mit zwei Lichtbildern versehen. Darin wurde über den Mord an der zweifachen Mutter D* L. berichtet. Der mutmaßliche Mörder und Ehemann, der Serbe N* L., hätte seine Frau wegen eines aufrechten Kontakt- und Besuchsverbots gar nicht sehen dürfen .

[3] Der im Artikel genannte „N* L . “, der Privatankläger, wurde zwischenzeitig rechtskräftig des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB schuldig erkannt, weil er seine Ehefrau D* L* – trotz eines aufrechten Kontakt- und Besuchsverbots – in ihrer Wohnung, in der sich auch deren zwei gemeinsame Kinder im Alter von einem Jahr und drei Jahren befunden hatten, aufgesucht, ihr mit einem Keramikmesser mit einer Klingenlänge von ca 10 cm fünf Stiche in ihren rechten Halsbereich versetzt und sodann mit einem Küchenmesser mit einer Klingenlänge von ca 20 cm drei Mal auf ihren Brustkorb eingestochen hatte, was ein Verbluten der D* L* zur Folge hatte.

[4] * N* klickte den von P* gesetzten Link zu dem oben festgestellten Artikel an und las den Bericht durch. Die dem L* in dem Artikel vorgeworfene Tat ging dem Angeklagten sehr nahe, zumal die Geburt seines Sohnes unmittelbar bevorstand und ihm „generell derartige Dinge, wenn es also um Kinder geht, sehr nahe und ans Herz gehen“. Der Angeklagte geriet daher aufgrund des Lesens des Zeitungsartikels in eine „allgemein begreifliche und heftige“ Entrüstung, er empörte sich insbesondere darüber, dass es sich dem Artikel zufolge beim Opfer um die Mutter zweier kleiner Kinder handelte und die Tat vom Ehegatten des Opfers und Vater der Kinder sowie zudem in unmittelbarer Nähe der Kinder, welche sich ebenfalls in der Wohnung befunden hatten, begangen worden war.

[5] Diese starke Entrüstung wurde durch das Verhalten des L* beim Angeklagten hervorgerufen, sie entstand nicht etwa aufgrund des Charakters oder eines Charaktermangels des Angeklagten, und sie wurde verstärkt durch die unmittelbar bevorstehende Niederkunft der Lebensgefährtin des Angeklagten mit seinem ersten Kind.

[6] Aus dieser starken Entrüstung heraus reagierte der Angeklagte unmittelbar, nachdem er den Artikel zu Ende gelesen hatte, indem er auf der öffentlichen Facebook-Seite der P* folgenden Post als Kommentierung des Zeitungsartikels veröffentlichte: „So [ein] eine Missgeburt, echt !! Die Arme hatte sicher mega angst vor ihm !!“.

[7] In der rechtlichen Beurteilung kam die Erstrichterin zu dem Ergebnis, dass der Angeklagte den Tatbestand der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB in objektiver wie subjektiver Hinsicht erfüllt habe, er jedoch infolge Vorliegens der Voraussetzungen für den Entschuldigungsgrund des § 115 Abs 3 StGB freizusprechen gewesen sei (s US 9 f).

[8] Der gegen den Freispruch gerichteten Berufung des Privatanklägers wegen Nichtigkeit (ON 39) gab das Oberlandesgericht Innsbruck als Berufungsgericht mit Urteil vom 29. Juni 2022, AZ 6 Bs 122/22z (ON 46 des Hv Aktes), Folge, hob das angefochtene Urteil auf und erkannte in der Sache selbst dahin zu Recht, dass * N* durch die inkriminierte Äußerung N* L* öffentlich beschimpft habe. Für das dadurch verwirklichte Vergehen der Beleidigung nach § 115 Abs 1 StGB verurteilte es * N* zu einer Geldstrafe. Mit zugleich gefasstem Beschluss gemäß § 494a Abs 1 Z 2 StPO wurde vom Widerruf zweier bedingter Entlassungen abgesehen.

[9] Auf Basis der vom Erstgericht übernommenen Feststellungen (US 11 f) führte das Oberlandesgericht in der rechtlichen Beurteilung aus, d er vom Privatankläger begangene Mord sei an sich zweifelsfrei geeignet, in einem rechtstreuen Menschen massive Entrüstung hervorzurufen. Unberücksichtigt sei jedoch der Umstand geblieben, dass der Angeklagte den Privatankläger nicht etwa nach unmittelbarer Wahrnehmung dieses Verhaltens beleidigte, sondern nach dem Lesen eines „reißerischen“ Zeitungsartikels über diese Tat, der auf der Facebook-Seite der ihm persönlich nicht bekannten P* verlinkt war. Bei gebotener Mitberücksichtigung dieses Umstands sei eine dem Angeklagten durchaus zuzugestehende Entrüstung nach dem Lesen des Artikels nicht mehr allgemein begreiflich im Sinne des § 115 Abs 3 StGB.

[10] Im Übrigen spreche auch der Umstand, dass der Angeklagte nach Veröffentlichung seiner beleidigenden Äußerung nichts dazu unternahm, diese wieder zu entfernen, gegen die Annahme, er habe sich nur durch Entrüstung über das Verhalten des Privatanklägers zu der Beleidigung hinreißen lassen (US 13 f).

Rechtliche Beurteilung

[11] Das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck als Berufungsgericht verletzt – wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt – das Gesetz .

[12] Gemäß § 115 Abs 3 StGB ist entschuldigt, wer sich nur durch Entrüstung über das Verhalten eines anderen dazu hinreißen lässt, ihn in einer den Umständen nach entschuldbaren Weise (hier:) zu beschimpfen, wenn seine Entrüstung, insbesondere auch im Hinblick auf die seit ihrem Anlass verstrichene Zeit, allgemein begreiflich ist.

[13] Die als Moment der Entschuldigung angesprochene Entrüstung über das Verhalten eines anderen stellt – als naturgemäß subjektives Kriterium – stets auf dessen Wahrnehmung durch den Entrüsteten ab, die – lege non distinguente – durch unmittelbare eigene Perzeption oder aber mediatisiert durch Erfassung fremder Berichterstattung erfolgen kann (Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB Update 2020 [2020] § 115 Rz 21; Lambauer/Unger , SbgK § 115 Rz 42 ff).

[14] Die allgemeine Begreiflichkeit der Entrüstung liegt dann vor, wenn sie für einen Durchschnittsmenschen in dem Sinn verständlich ist, dass auch er sich vorstellen kann, er geriete unter den gegebenen besonderen Umständen in eine solche Gemütsverfassung. Die allgemeine Verständlichkeit ist somit von einem objektiven Standpunkt aus zu beurteilen, wobei alle Tatumstände und die psychologischen Zusammenhänge zu berücksichtigen sind. Es kommt darauf an, dass dem Täter kein Vorwurf gemacht werden kann, dass er sich hinreißen ließ, weil die Ursache dafür nicht in seinem Charakter, sondern in den äußeren Umständen zu suchen ist. Zudem muss die Beschimpfung als Reaktion auf das Verhalten des Betroffenen in einer nach den Umständen entschuldbaren Weise erfolgen, dh anlassadäquat sein; eine unangemessene Überreaktion ist nicht entschuldigt (RIS Justiz RS0093430; Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB Update 2020 [2020] § 115 Rz 20 und 22; Fabrizy/Michel Kwapinski/Oshidari , StGB 14 § 115 Rz 6).

[15] Nach den maßgeblichen, dem Berufungsurteil zugrundegelegten Feststellungen „entrüstete“ sich der Angeklagte über das in dem (verlinkten) Zeitungsartikel wahrheitsgemäß beschriebene Verhalten des Privatanklägers, also den diesem zugeschriebenen Mord, wobei er sich insbesondere darüber empörte, dass das Opfer die Ehefrau und Mutter zweier kleiner gemeinsamer Kinder des Privatanklägers war und die Tat in deren unmittelbaren Nähe begangen wurde. Die dem Privatankläger vorgeworfene Tat ging dem Angeklagten „sehr nahe“, weil die Geburt seines (ersten) Kindes unmittelbar bevorstand und „ihm generell derartige Dinge, wenn es also um Kinder geht, sehr nahe und ans Herz gehen“. Aus dieser starken Entrüstung heraus reagierte der Angeklagte unmittelbar, nachdem er den Zeitungsartikel zu Ende gelesen hatte, indem er das inkriminierte Posting veröffentlichte ( Ersturteil U S 5 f).

[16] Demnach lag ein situativer Kontext vor, in dem die inkriminierte Beschimpfung eine unmittelbare Reaktion auf eine Handlung des Privatanklägers darstellte, mag dieses die Ehrverletzung auslösende (tatsächlich drei Tage zuvor gesetzte) Verhalten des Beleidigten dem Angeklagten auch erst später – durch Studium des Zeitungsartikels – bekannt geworden sein. Denn für die Eignung eines Verhaltens, eine als allgemein begreiflich beurteilbare Entrüstung auszulösen – wie im Übrigen auch für das Vorliegen der erforderlichen Spontanität hinsichtlich des Tatbestandselements des Sich Hinreißenlassens ( Lambauer/Unger , SbgK § 115 Rz 42; Rami in WK 2 StGB § 115 Rz 16) –, kommt es per se nicht auf den Zeitpunkt des die Entrüstung auslösenden Verhaltens des Beleidigten an, sondern auf dessen Kenntnisnahme durch den Täter (vgl Fabrizy/Michel-Kwapinski/Oshidari , StGB 14 § 115 Rz 6, sowie Leukauf/Steininger/ Tipold , StGB Update 2020 [2020] § 115 Rz 21 mwN; Birklbauer ua , StGB § 115 Rz 17).

[17] Der vom Berufungsgericht dem Sinn nach eingenommene Standpunkt, wonach der Umstand, dass der Angeklagte das Verhalten des Privatanklägers nicht unmittelbar selbst wahrnahm, sondern ihm dieses erst durch Studium des (auf einer fremden Facebook Seite verlinkten) Zeitungsartikels bekannt wurde, der Entrüstung deren allgemeine Begreiflichkeit nehme, lässt sich aus § 115 Abs 3 StGB nicht ableiten und entspricht auch nicht dem Telos des in Rede stehenden Entschuldigungsgrundes.

[18] Gerade auch mit Blick auf die Besonderheit der gegenständlichen Facebook-Kommunikation, nämlich einer primär an dritte Personen gerichteten Äußerung in einem niederschwelligen Internetmedium, kann eine ehrverletzende Reaktion auf das Verhalten eines Beleidigten sehr wohl auf einer (auch) allgemein begreiflichen Entrüstung gründen und somit gemäß § 115 Abs 3 StGB entschuldigt sein (vgl 15 Os 128/16m sowie Lambauer/Unger , SbgK § 115 Rz 43b).

[19] Das vom Berufungsgericht zur Infragestellung der Entrüstung relevierte Nachtatverhalten des Angeklagten ist im Übrigen für die Beurteilung des allein maßgeblichen Vorliegens des Affekts im Handlungszeitpunkt (vgl dazu Birklbauer in WK² StGB § 76 Rz 53) rechtlich ohne Belang.

[20] Die Verneinung der allgemeinen Begreiflichkeit einer durch mediale Kenntnisnahme des Verhaltens eines anderen ausgelösten Entrüstung durch das Berufungsgericht verletzte daher § 115 Abs 3 StGB. Diese Gesetzesverletzung war festzustellen.

[21] Da sich die Gesetzesverletzung zum Nachteil des Verurteilten ausgewirkt hat, sah sich der Oberste Gerichtshof veranlasst, deren Feststellung mit konkreter, aus dem Spruch ersichtlicher Wirkung zu verknüpfen.

[22] Die Kostenentscheidung gründet sich auf § 390a Abs 1 zweiter Satz StPO.

Rechtssätze
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