JudikaturJustiz14Os94/12y

14Os94/12y – OGH Entscheidung

Entscheidung
20. November 2012

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 20. November 2012 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Marek, den Hofrat des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer und die Hofrätin des Obersten Gerichtshofs Mag. Fürnkranz in Gegenwart der Richteramtsanwärterin Mag. Fruhmann als Schriftführerin in der Strafsache gegen Christian M***** wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 35 Hv 117/10h des Landesgerichts Salzburg, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 19. März 2012, AZ 10 Bs 13/12a, erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Dr. Ulrich, zu Recht erkannt:

Spruch

Das Urteil des Oberlandesgerichts Linz vom 19. März 2012, AZ 10 Bs 13/12a (ON 74), verletzt § 281 Abs 1 Z 4 StPO (§ 489 Abs 1 StPO) iVm § 55 Abs 1 StPO und § 276a StPO.

Dieses Urteil, das im Übrigen unberührt bleibt, wird im Umfang der Entscheidung über die Berufung des Angeklagten aufgehoben und dem Oberlandesgericht Linz insoweit die Erneuerung des Berufungsverfahrens aufgetragen.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 35 Hv 117/10h des Landesgerichts Salzburg gegen Christian M***** wegen des Vergehens der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB und anderer strafbarer Handlungen begehrte der Angeklagte im zweiten Rechtsgang (vgl ON 20 und 29) mit Schriftsatz vom 25. Februar 2011 (ON 38) neben weiteren Beweisaufnahmen die Vernehmung der Zeugen Sonja R*****, Josef L***** und Nicole F***** (Punkt 4.), wobei er ein Beweisthema nannte und seine Auffassung zu deren Bedeutung für die Beurteilung des Tatverdachts (betreffend die ihm mit Strafantrag der Staatsanwaltschaft Salzburg vom 11. November 2008 [ON 4] zur Last gelegten Vorwürfe) darlegte.

In der Hauptverhandlung vom 17. März 2011 „wiederholte“ er „wie schriftlich den Antrag vom 25. Februar 2011 (1/38)“; der Einzelrichter wies sämtliche in dieser Eingabe gestellten Beweisanträge, darunter auch jenen auf Vernehmung der Zeugen R*****, L***** und F***** (Punkt 4.), mit in der Hauptverhandlung verkündetem Beschluss ab (ON 45 S 20 ff).

Mit Schriftsatz vom 11. April 2011 (ON 46) beantragte der Angeklagte die Vernehmung des Richters des Bezirksgerichts H***** Dr. Christoph K*****, die Beischaffung des Aktes AZ 3 C 53/08g dieses Bezirksgerichts und die (neuerliche) Vernehmung der Zeugen Jürgen S*****, Corina H***** und Bianca B*****, wobei er wiederum jeweils ein Beweisthema nannte und ausführte, weshalb die jeweiligen Beweismittel geeignet sein sollten, das Beweisthema zu klären.

Ein Schriftsatz vom 29. August 2011 (ON 62) enthält neben dem Antrag auf Beischaffung des Aktes AZ 3 C 92/08t des Bezirksgerichts H***** und (neuerlich) der Vernehmung des Richters Dr. Christoph K***** weitere Beweisanträge des Angeklagten, nämlich auf Beischaffung der Akten „30 PG 51/11z“ des Bezirksgerichts M***** und AZ 27 HR 188/11 des Landesgerichts S*****, auf Einvernahme der Zeugen Nevenka M*****, Peter D*****, Peter J*****, Vladimir M***** und Anita Bi***** sowie auf Einholung eines aussagepsychologischen Gutachtens betreffend Nina M*****. Zudem übte der Angeklagte Kritik an der vor dem Amtsgericht T***** im Rechtshilfeweg vorgenommenen Vernehmung des Zeugen Alexander N***** (ON 64) und beantragte deren Wiederholung. Er nannte wiederum jeweils ein Beweisthema und begründete die darauf bezogene aus seiner Sicht gegebene Relevanz dieser Beweismittel.

Nach mehrfacher Fortsetzung und Vertagung der am 17. März 2011 (ON 45) begonnenen Hauptverhandlung (am 21. April 2011, am 26. Mai 2011 und zuletzt am 14. Juli 2011; ON 48, 51 und 56) erging am 6. Oktober 2011 „der Beschluss auf Neudurchführung der Hauptverhandlung wegen Zeitablaufs gemäß § 276a StPO“. Die Beteiligten verzichteten einverständlich auf die Neudurchführung. Mit deren Zustimmung verlas der Einzelrichter das Protokoll über die fortgesetzte Hauptverhandlung (ON 56) und knüpfte an „die“ bis dahin vorliegenden Verhandlungsergebnisse an (ON 66 S 3).

In dieser Verhandlung „beantragte der Verteidiger wie schriftlich im Schriftsatz ON 62 vom 29. August 2011 sowie im Schriftsatz ON 46 vom 11. April 2011“; der Einzelrichter wies sämtliche Beweisanträge ab (ON 66 S 3 f).

Mit Urteil vom selben Tag (ON 67) wurde Christian M***** der Vergehen der Körperverletzung nach § 83 Abs 1 StGB (A./I./), der Nötigung nach § 105 Abs 1 StGB (A./II./) und der gefährlichen Drohung nach § 107 Abs 1 StGB (B./) schuldig erkannt.

Rechtliche Beurteilung

Der dagegen gerichteten Berufung des Angeklagten (ON 68) gab das Oberlandesgericht L***** mit Urteil vom 19. März 2012, AZ 10 Bs 13/12a (ON 74), nur in Ansehung des Strafausspruchs durch Herabsetzung der für eine Probezeit von drei Jahren bedingt nachgesehenen Freiheitsstrafe Folge; im Übrigen gab es ihr nicht Folge.

Zur Verfahrensrüge (§ 281 Abs 1 Z 4 StPO), mit der der Berufungswerber eine Verkürzung seiner Verteidigungsrechte durch Abweisung der mit Schriftsatz vom 25. Februar 2011 (ON 38) formulierten und in der Hauptverhandlung vom 17. März 2011 wiederholten sowie mit den Schriftsätzen vom 11. April 2011 (ON 46) und vom 29. August 2011 (ON 62) postulierten, in der Hauptverhandlung vom 6. Oktober 2011 mündlich vorgetragenen Beweisanträge behauptete, verwies es darauf, dass nur Anträge, welche der Berufungswerber vom Beginn der Hauptverhandlung bis zu deren Schluss gestellt und nicht zurückgenommen habe, im Rahmen der Z 4 beachtlich seien. Anträge in der Anklageschrift, einer schriftlichen Gegenäußerung oder anderen Schriftsätzen seien irrelevant; bei einer Wiederholung der Hauptverhandlung in einer vorangegangenen gestellte würden ihre Gültigkeit verlieren. Als Hauptverhandlung gelte nämlich nur diejenige, die der Urteilsfällung unmittelbar vorangehe, mag auch an verschiedenen Tagen verhandelt worden sein. Halte der Verteidiger in der nach § 276a StPO wiederholten Hauptverhandlung lediglich undifferenziert die bisherigen Beweisanträge aufrecht, so liege keine eindeutige Willenserklärung dahin vor, welche Zeugen tatsächlich noch oder noch einmal vernommen werden sollten (14 Os 129/08i).

Fallkonkret werde mit Blick auf die im unbeanstandet gebliebenen Hauptverhandlungsprotokoll in der Hauptverhandlung vom 6. Oktober 2011 beschlossene Neudurchführung der Hauptverhandlung wegen Zeitablaufs gemäß § 276a StPO eine Antragstellung durch den Verteidiger „wie schriftlich im Schriftsatz ON 62 vom 29. August 2011 sowie im Schriftsatz ON 46 vom 11. April 2011“ dem geschilderten Antragserfordernis nicht gerecht. Vor diesem Hintergrund bleibe unbeachtlich, ob die mit Schriftsatz vom 25. Februar 2011 (ON 38) postulierten Beweisanträge in der Hauptverhandlung vom 17. März 2011 tatsächlich wiederholt, das heißt der Natur eines mündlichen Verfahrens entsprechend mündlich gestellt worden seien. Das auch insoweit unbeanstandet gebliebene Hauptverhandlungsprotokoll lege dies ohnehin nicht nahe, wenn es festhalte: „Der Verteidiger wiederholt den Antrag wie schriftlich vom 25. Februar 2011 (1/38).“

Der Verfahrensrüge sei ein Erfolg zu versagen, weil die „mangels wirksamen Widerrufs der Neudurchführung der Hauptverhandlung gemäß § 276a StPO“ erforderliche Antragswiederholung unterblieben sei.

Das Urteil des Oberlandesgerichts L***** vom 19. März 2012, AZ 10 Bs 13/12a (ON 74) steht wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Der Nichtigkeitsgrund des § 281 Abs 1 Z 4 StPO (iVm § 489 Abs 1 StPO) liegt vor, wenn während der Hauptverhandlung über einen Antrag des Beschwerdeführers nicht erkannt worden ist oder wenn durch einen gegen seinen Antrag oder Widerspruch gefassten Beschluss Gesetze oder Grundsätze des Verfahrens hintangesetzt oder unrichtig angewendet worden sind, deren Beobachtung durch grundrechtliche Vorschriften, insbesondere durch Art 6 MRK oder sonst durch das Wesen eines die Strafverfolgung und die Verteidigung sichernden, fairen Verfahrens geboten ist.

Soweit fallbezogen von Bedeutung, ist unabdingbare Voraussetzung einer Erfolg versprechenden Rüge aus Z 4 ein in der Hauptverhandlung gemäß § 55 Abs 1 StPO gestellter Beweisantrag und ein gemäß § 238 Abs 1 StPO (iVm § 488 Abs 1 StPO) gefasster Beschluss des Gerichts, mit welchem dieser Antrag abgewiesen wurde (vgl Ratz , WK StPO § 281 Rz 302).

Das Antragserfordernis ist nur erfüllt, wenn der Natur eines mündlichen Verfahrens entsprechend das Begehren in der Hauptverhandlung deutlich und bestimmt vorgetragen wird, weil sonst dem Gericht gar nicht klar wird, dass es nach dem Willen des Beteiligten zu einer diesbezüglichen Entscheidung aufgerufen ist ( Ratz , WK StPO § 281 Rz 311).

Der unsubstantiierte „Verweis“ auf einen mehrere Anträge enthaltenden Schriftsatz (RIS Justiz RS0118060 [T2]), die undifferenzierte „Aufrechterhaltung“ vor der Hauptverhandlung schriftlich formulierter Anträge oder der Hinweis, wonach ein Beweisantrag „noch offen“ sei (12 Os 85/08d), genügt ebenso wenig wie die vom Gericht vorgenommene bloße Verlesung früher gestellter Beweisanträge in einer gemäß § 276a StPO wiederholten Hauptverhandlung, zumal als Hauptverhandlung nur diejenige gilt, die der Urteilsfällung unmittelbar vorangegangen ist (vgl RIS Justiz RS0118060 [insb T2], RS0099049 [insb T1, T2]; Ratz , WK StPO § 281 Rz 310, 313).

Ist die Verhandlung, nachdem sie begonnen hatte, vertagt worden (§§ 274 bis 276 StPO), so kann der Vorsitzende gemäß § 276a erster Satz StPO in der späteren Verhandlung die wesentlichen Ergebnisse der früheren nach dem Protokoll und den sonst zu berücksichtigenden Akten mündlich vortragen und die Fortsetzung der Verhandlung daran anknüpfen. Die Verhandlung ist jedoch zu wiederholen, wenn sich die Zusammensetzung des Gerichts geändert hat oder seit der Vertagung mehr als zwei Monate verstrichen sind, es sei denn, dass beide Teile auf die Wiederholung wegen Überschreitung der Frist von zwei Monaten verzichten (§ 276a zweiter Satz StPO).

Eine formelle Beschlussfassung über die nach § 276a StPO vorzunehmende Wiederholung der Verhandlung ist in keinem Fall erforderlich; der Verfügung (§ 35 Abs 2 zweiter Fall StPO) kommt vielmehr nur deklaratorische Bedeutung zu. Allein wesentlich ist die an Hand des Hauptverhandlungsprotokolls zu überprüfende tatsächliche Wiederholung ( Danek , WK StPO § 276a Rz 3).

Entgegen der Rechtsauffassung des Oberlandesgerichts L***** wurde vorliegend dem Erfordernis mündlicher Antragstellung in der Hauptverhandlung entsprochen:

Indem der Verteidiger in der Hauptverhandlung am 17. März 2011 ausdrücklich „den Antrag“ wie im Schriftsatz ON 38 vom 25. Februar 2011 „ wiederholte “ (ON 45 S 20) und in der Hauptverhandlung am 6. Oktober 2011 „ beantragte wie schriftlich im Schriftsatz ON 62 vom 29. August 2011 sowie im Schriftsatz ON 46 vom 11. April 2011“ (ON 66 S 3), hat er nämlich deutlich und bestimmt den (gesamten) Inhalt der von ihm genannten, bereits bei den Akten befindlichen Schriftsätze zum Gegenstand seiner Antragstellung in der Hauptverhandlung gemacht.

Auch die in der Verhandlung am 17. März 2011 vorgetragenen (und an diesem Tag abgewiesenen) Beweisanträge gelten unbeschadet des zwischen den Verhandlungen vom 14. Juli 2011 und vom 6. Oktober 2011 gelegenen Zeitraums von mehr als zwei Monaten als in der der Urteilsfällung unmittelbar vorangehenden Hauptverhandlung gestellt. Soweit das Oberlandesgericht aufgrund des am 6. Oktober 2011 gefassten deklarativen Beschlusses auf Wiederholung der Hauptverhandlung gemäß § 276a StPO das Gegenteil annimmt, übergeht es in den Gründen fälschlicherweise, dass nach dem Inhalt des Bezug habenden Hauptverhandlungsprotokolls ON 66 eine Wiederholung tatsächlich nicht vorgenommen worden ist, sondern der Einzelrichter mit dem Einverständnis der Parteien das Protokoll der vorangegangenen (fortgesetzten) Verhandlung verlesen und an die bis dahin vorliegenden Verhandlungsergebnisse angeknüpft hat (vgl Danek , WK StPO § 276a Rz 3, 8 und 10).

Dadurch, dass das Oberlandesgericht der Verfahrensrüge des Angeklagten (Z 4) dennoch den Erfolg versagte, weil es schon an der erforderlichen Antragstellung in der Hauptverhandlung gemangelt hätte, demzufolge die Auseinandersetzung damit unterließ, ob wie vom Berufungswerber behauptet durch die Abweisung dieser Beweisanträge Verteidigungsrechte verletzt wurden, hat es § 281 Abs 1 Z 4 StPO (iVm § 489 Abs 1 StPO) und § 55 Abs 1 StPO sowie § 276a StPO unrichtig angewendet.

Ein daraus resultierender Nachteil für den Berufungswerber ist mangels Stellungnahme des Berufungsgerichts zu den Kriterien des § 55 Abs 2 StPO nicht auszuschließen. Der Oberste Gerichtshof sah sich daher veranlasst, der Feststellung der Gesetzesverletzung konkrete Wirkung zuzuerkennen (§ 292 letzter Satz StPO).

Im neu durchzuführenden Berufungsverfahren wird das Verschlechterungsverbot des § 290 Abs 2 StPO zu beachten sein ( Ratz , WK StPO § 293 Rz 22).