JudikaturJustiz14Os53/09i

14Os53/09i – OGH Entscheidung

Entscheidung
23. Juni 2009

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 23. Juni 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Philipp als Vorsitzenden, die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Dr. Lässig und Dr. T. Solé sowie die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Mag. Hetlinger und Mag. Fuchs in Gegenwart des Richteramtsanwärters Dr. Schneider als Schriftführer in der Strafsache gegen Thomas L***** wegen des Vergehens der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung, AZ 38 Hv 73/08i des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 5. November 2008, AZ 6 Bs 390/08s (ON 52), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit der Vertreterin der Generalprokuratur, Generalanwältin Mag. Michel, sowie des Verteidigers Dr. Ermacora zu Recht erkannt:

Spruch

Das Urteil des Oberlandesgerichts Innsbruck vom 5. November 2008, AZ 6 Bs 390/08s, verletzt das Gesetz in § 81 Abs 1 Z 1 StGB.

Text

Gründe:

Mit Urteil des Landesgerichts Innsbruck vom 2. April 2008, GZ 38 Hv 73/08i 33, wurde Thomas L***** jeweils des Vergehens der fahrlässigen Tötung unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB und der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 und 3 (§ 81 Abs 1 Z 1) StGB sowie (richtig:) mehrerer Vergehen der Gefährdung der körperlichen Sicherheit nach § 89 (§ 81 Abs 1 Z 1) StGB schuldig erkannt.

Dem Schuldspruch zufolge hat er am 2. März 2007 in St. Leonhard i. P. als verantwortlicher Bergführer einer siebenköpfigen Personengruppe unter besonders gefährlichen Verhältnissen, indem er bei einem Gesamtschneezuwachs (zu ergänzen: in den Tagen vor dem Unfall) von 50 60 cm, einer mittleren Windstärke zwischen 35 und 40 km/h mit Böen bis zu 80 km/h im oberen und 60 km/h im mittleren Höhenbereich aus der Hauptwindrichtung Südwest und West sowie stark wechselndem Temperaturverlauf in den letzten 72 Stunden vor dem Unfall mit der Gruppe einen kritischen Lawinenhang (Nordwand des Grubenkopfs, schattseitig, Hangneigung zwischen 35 und 40 Grad, inhomogener Schneedeckenaufbau) bei diffusem Licht und zu geringen Abständen der einzelnen Gruppenmitglieder beging und dabei mehrfach - für ihn bei gehöriger Aufmerksamkeit und Sorgfalt erkennbare - objektive Hinweise auf die bestehende Lawinengefahr ignorierte, wodurch beim Aufstieg durch die Gruppe eine Lawine ausgelöst wurde, die sämtliche Gruppenmitglieder erfasste, unterschiedlich weit mitriss und verschüttete, fahrlässig den Tod des Stefan P*****, eine Körperverletzung, nämlich eine Halswirbelsäulenzerrung, eine Hyperthermie und eine Verletzung von Ringfinger und kleinem Finger an der linken Hand, des Thorsten G***** und eine Gefahr für das Leben, die Gesundheit oder die körperliche Sicherheit der Claudia S*****, der Anja T*****, des Christian R*****, des Peter E***** und des Alexander S***** herbeigeführt.

Mit Urteil vom 5. November 2008, AZ 6 Bs 390/08s (ON 52), gab das Oberlandesgericht Innsbruck der Berufung des Angeklagten wegen Nichtigkeit (§ 281 Abs 1 Z 10 iVm § 489 Abs 1 StPO) Folge, hob den Schuldspruch in der Annahme der Begehung der Tat unter besonders gefährlichen Verhältnissen nach § 81 Abs 1 Z 1 StGB (und den Strafausspruch) auf und erkannte in der Sache Thomas L***** (lediglich) des Vergehens der fahrlässigen Tötung nach § 80 StGB und des Vergehens der fahrlässigen Körperverletzung nach § 88 Abs 1 StGB schuldig.

Das Erstgericht stellte im Wesentlichen folgenden, vom Berufungsgericht übernommenen (ON 52 S 5 ff) und im vorliegenden Zusammenhang relevanten Sachverhalt fest:

Nach einem markant schneearmen Winter fielen in der Region Innerpitztal, in der sich der Grubenkopf befindet, auf eine äußerst labile, störanfällige Schneedecke zwischen 25. Februar und 2. März 2007 50 bis 60 cm Neuschnee. In diesem Zeitraum herrschte in Hochgebirgslagen eine winterliche Wetterlage mit einer eingeschlossenen Kaltfront, Niederschlägen und stürmischen Winden, mit durchschnittlicher Geschwindigkeit von etwa 40 km/h und Windspitzen bis zu 80 km/h, vor. Der Lawinenlagebericht wies für den Unfallstag wie für die Tage davor durchwegs die Gefahrenstufe „3" (erhebliche Gefahr) aus, bei welcher Skitouren nur eingeschränkt möglich sind und ein lawinenkundliches Beurteilungsvermögen erfordern. Diese Gefahrenstufe zeichnet sich durch eine an vielen Steilhängen schwach bis mäßig verfestigte Schneedecke aus und weist die größte Bandbreite zu erwartender Lawinen auf; an gut abgrenzbaren Steilhängen ist eine Lawinenauslösung bereits durch geringe Zusatzbelastungen, etwa durch einen einzelnen Wintersportler möglich. Speziell im Frühjahr gibt es Zyklen spontaner - während intensiven Neuschneefalls unter Windeinfluss auch häufig großer - Lawinen, die auf den tageszeitlichen Festigkeitsverlust der Schneedecke zurückzuführen sind. Für diese Gefahrenstufe typische Gefahrenzeichen sind Setzungsgeräusche (so genannte „Wumm" Geräusche), die aufgrund äußerer Belastung durch den Kollaps von gebundenen Schneeschichten auf einem hohlraumreichen Schneedeckenfundament entstehen, und Rissbildungen, die häufig als Folge von Strukturbrüchen auftreten.

Der für den 2. März 2007 ausgegebene Lawinenlagebericht lautete ua (AS 600 f/I): „In den übrigen Regionen Tirols (abgesehen von Arlberg und Silvretta) herrscht großteils erhebliche Lawinengefahr. Allgemein gilt heute, dass die meist stark durchfeuchtete Schneedecke unterhalb von 2.200 Metern in allen Hangrichtungen aus sehr steilen Hängen abrutschen bzw auf Wiesenhängen abgleiten kann. Auch für den Wintersportler herrscht heute eine eher kritische Situation. Gefahrenstellen sind hochalpin vermehrt in allen Hangrichtungen insbesondere in Form von frisch eingewehten Steilhängen anzutreffen. Ganz besondere Vorsicht auf ost- und steilen schattseitigen Hängen, wo die Verbindung des seit Anfang der Woche gefallenen Neuschnees mit der Altschneedecke in hochalpinen Lagen unverändert schlecht ist." Zum Schneedeckenaufbau: „Neuerlich hat es in allen Teilen Tirols mit Ausnahme des südlichen Osttirols Neuschneezuwachs gegeben; begleitet war der Schneefall in großen Höhen wiederum durch starken Wind, der zu teilweise großen Verfrachtungen führte. Während die Schneedecke unterhalb von 2.200 Metern weitgehend durchnässt ist, dominiert hochalpin auch aufgrund des starken Windeinflusses eine sehr unregelmäßig verteilte Schneedecke. Allgemein besteht ein ungünstiger Schneedeckenaufbau!"

Der Hang des Grubenkopfs, an dem sich der gegenständliche Unfall ereignete, ist nach den Feststellungen im gesamten Bereich in Nordrichtung exponiert und im Bereich der Lawinensturzbahn leicht kupiert. Der Hangfuß verläuft entlang des Rifflsees auf einer Seehöhe von 2.234 Metern. Auf der Nord- und Ostseite des Grubenkopfes befinden sich mehrere Skipisten, von denen eine (Nr 10) unmittelbar oberhalb des Unfallhangs in östlicher Richtung verläuft. Dieser ist etwa 340 Meter lang und aufgrund seiner Kupierung unterschiedlich - zwischen 25 Grad im unteren bis zu 40 Grad im oberen Bereich - geneigt. Am Unfalltag war die Schneedecke infolge des Neuschneezuwachses von 50 bis 60 cm unter erheblichem Windeinfluss inhomogen; der Hang war unverspurt, sodass vorhandene Störschichten in der Schneedecke nicht durch Befahren entschärft worden waren.

Der Verurteilte, der nach den Feststellungen als geprüfter Berg- und Skiführer mit den gängigen Methoden zur Einschätzung der Lawinengefahr vertraut war (AS 592/I), führte mit seiner Gruppe am Hangfuß eine Schneedeckenuntersuchung und einen so genannten - allerdings nicht den Standards entsprechenden - Rutschblocktest durch. Während sich die Gruppe auf dem Weg zum Rifflsee befand, ging oberhalb der Piste Nr 10 eine Lawine bis zu dieser ab, die einen Rettungseinsatz mit drei Helikoptern und mehreren Pistengeräten zur Folge hatte. Der Verurteilte nahm ebenso wie die Gruppenmitglieder diesen Einsatz, nicht jedoch dessen Ursache (den Lawinenabgang) wahr. Ein Gruppenmitglied machte den Verurteilten überdies darauf aufmerksam, dass ein am Rettungseinsatz beteiligter Polizeibeamter die Gruppe durch Pfeifen, Winken und Rufen warnen und zum Verlassen des Gefahrenbereichs veranlassen wollte. Hierauf beschloss der Verurteilte, die Gruppe zurück zur Hütte zu führen und dabei einen Stück des (Nord )Hangs des Grubenkopfs zu begehen, um den Kursteilnehmern einige Schwünge im Tiefschnee zu ermöglichen. Bei diffusen Lichtverhältnissen stieg die Gruppe ohne Einhaltung von Entlastungsabständen in den Hang unterhalb der Piste Nr 10 ein, wobei sie sich nach Überwindung des flachen unteren Teils infolge der Steilheit des Geländes (dort 33 Grad) in Spitzkehren fortbewegte. Über Anordnung des Verurteilten gingen in weiterer Folge zwei Kursteilnehmer mit Entlastungsabständen von 8 bis 10 Metern voran, während sich der Rest der Gruppe ohne derartige Abstände in einem kompakten Bereich aufhielt, um das Weitergehen abzuwarten. Unmittelbar nachdem ein deutliches Setzungsgeräusch und eine Erschütterung wahrzunehmen waren, löste sich oberhalb der Gruppe ein Schneebrett, das alle Mitglieder erfasste, unterschiedlich weit mit sich riss und teils zur Gänze verschüttete.

Abweichend vom Erstgericht, das die (objektive und subjektive) Sorgfaltswidrigkeit des Verurteilten auch im Hinblick auf die besonders gefährlichen Verhältnisse annahm, verneinte das Berufungsgericht deren Vorliegen im Wesentlichen mit der Begründung, der Neuschneezuwachs unter dem festgestellten Windeinfluss, der wechselnde Temperaturverlauf in den letzten 72 Stunden vor dem Unfall und der inhomogene Schneedeckenaufbau seien allesamt Umstände, die der Lawinenwarnstufe „3" entsprächen; auch die wahrgenommenen Setzungsgeräusche und Rissbildungen seien typisch für diese Gefahrenstufe und dürften gemäß der Mosaiktheorie nicht zusätzlich bei der Beurteilung der Unfallwahrscheinlichkeit ins Treffen geführt werden. Diese sei - zumal der Sachverständige eine große Lawinengefahr iSd Gefahrenstufe „4" für den Unfallhang im speziellen auch unter Berücksichtigung seiner Steilheit und Schattseitigkeit nicht festgestellt habe - eben nicht extrem hoch gewesen; der Sachverständige selbst habe die Gefährdung durch eine Lawine im Unfallhang als „nahezu wahrscheinlich" eingeschätzt (vgl AS 341/I). Aus den diffusen Lichtverhältnissen ergebe sich kein zusätzliches Gefahrenmoment.

Rechtliche Beurteilung

Die auf diese Begründung gestützte Ausschaltung der Qualifikation des § 81 Abs 1 Z 1 StGB steht - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend aufzeigt - mit dem Gesetz nicht in Einklang.

Unter besonders gefährlichen Verhältnissen iSd § 81 Abs 1 Z 1 StGB handelt, wer die Tat unter Umständen begeht, die (vom objektiven Standpunkt eines ex ante Beobachters beurteilt) eine in concreto gegenüber spezifischen Normalfällen qualitativ verschärfte Gefahrenlage im Sinn einer außergewöhnlich hohen Unfallwahrscheinlichkeit begründen, wobei eine umfassende Wertung aller risikoerhöhenden und risikovermindernden Faktoren des Einzelfalls zu erfolgen hat („Mosaiktheorie" - RIS Justiz RS0092542; Burgstaller in WK² § 81 Rz 10 ff; Kienapfel/Schroll BT I § 81 Rz 10 f und 18 ff). Wenngleich die besonders hohe Unfallwahrscheinlichkeit in der Regel aus mehreren risikosteigernden Umständen resultiert, kann eine entsprechende, qualitativ verschärfte Gefahrenlage auch Folge eines einzigen, besonders gewichtigen Umstands sein (RIS Justiz RS0092537).

Indem das Oberlandesgericht Innsbruck die (Tat )Frage nach dem Vorliegen der für die Annahme des § 81 Abs 1 Z 1 StGB geforderten qualifizierten Unfallwahrscheinlichkeit anhand einer isoliert herausgegriffenen Formulierung („nahezu wahrscheinlich" AS 341/I) aus dem Sachverständigengutachten, dem jedoch insgesamt die spezifische Gefahrenlage unzweifelhaft zu entnehmen ist, und einer Zusammenführung sämtlicher risikoerhöhender Faktoren in der - per se kein extrem hohes Risiko zum Ausdruck bringenden - Gefahrenstufe „3" löst, überbewertet es die Funktion eines Lawinenlageberichts als regionale, nicht jedoch auf den Einzelhang bezogene Gefahreneinstufung, die allenfalls Hinweise auf besonders gefährdete Hangbereiche nach generalisierenden Merkmalen enthält (vgl AS 287 und 299/I). Aus diesem Grund kommt entgegen der Berufungsentscheidung (ON 52 S 21) dem Fehlen einer nur auf den Unfallhang bezogenen Bewertung anhand der fünfteiligen Lawinengefahrenstufenskala im Gutachten keinerlei (entlastende) Bedeutung zu. Die nach Lehre und Rechtsprechung geforderte Beurteilung sämtlicher Risikofaktoren im Einzelfall hätte daher in objektiver Hinsicht - neben den in der regionalen Gefahrenstufe erfassten Umständen wie Gesamtschneezuwachs, Windstärken, Temperaturverlauf in den Tagen vor dem Unfall und Inhomogenität des (allgemeinen) Schneedeckenaufbaus - auch auf die spezifische Situation am Ort und im Zeitpunkt des Unfalls abstellen müssen. Dabei fallen die (konstatierte) Steilheit, Schattseitigkeit und fehlende Verspurung des Hangs, die besondere Gefahr von Triebschneeansammlungen infolge dessen Leeseitigkeit und vor allem auch der - vom Berufungsgericht in diesem Zusammenhang unberücksichtigt gebliebene - Umstand, dass ein Großteil der Gruppe unmittelbar vor dem Lawinenabgang in einem über 30 Grad steilen Gelände keine Entlastungsabstände einhielt, ins Gewicht. Auch das diffuse Licht wirkte sich risikosteigernd aus, verminderte es doch zwangsläufig die Erkennbarkeit objektiver Gefahrenzeichen (wie etwa Rissbildungen oder die Steilheit des Hangs).

Die vom Berufungsgericht unter Hinweis auf das Sachverständigengutachten (vgl AS 295/I) als für die Gefahrenstufe „3" typisch bezeichneten Warnhinweise wie Setzungsgeräusche und Rissbildungen erhöhten, ebenso wie die Wahrnehmung des Rettungseinsatzes aufgrund der zuvor abgegangenen Lawine, das Risiko zwar nicht in objektiver Hinsicht, waren aber wesentliche Kriterien für das - vom Erstgericht angesichts des konstatierten Ausbildungsstands (AS 592/I) zutreffend angenommene - Verschulden des Verurteilten auch in Bezug auf die besonders gefährlichen Verhältnisse (vgl Burgstaller in WK² § 81 Rz 22; Kienapfel/Schroll BT I § 81 Rz 36).

Die auf pauschalierender Reduktion auf die Gefahrenstufe „3" und von den konkreten Umständen des Einzelfalls losgelöster Betrachtung basierende Rechtsansicht des Oberlandesgerichts Innsbruck ist daher rechtlich verfehlt.

Da sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung zum Vorteil des Verurteilten auswirkte, hat es mit ihrer Feststellung sein Bewenden.