JudikaturJustiz13Os77/19a

13Os77/19a – OGH Entscheidung

Entscheidung
09. Oktober 2019

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 9. Oktober 2019 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Prof. Dr. Lässig als Vorsitzenden sowie die Hofräte und die Hofrätinnen des Obersten Gerichtshofs Dr. Nordmeyer, Mag. Michel, Dr. Oberressl und Dr. Brenner in Gegenwart der Schriftführerin Mag. Jukic in der Maßnahmenvollzugssache des Heinrich H*****, AZ 2 BE 169/17v des Landesgerichts für Strafsachen Graz, über die von der Generalprokuratur gegen den Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 22. Mai 2018, AZ 8 Bs 78/18h (ON 21 der BE Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Schneider, zu Recht erkannt:

Spruch

Der Beschluss des Oberlandesgerichts Graz als Beschwerdegericht vom 22. Mai 2018, AZ 8 Bs 78/18h, verletzt § 179a Abs 2 StVG und § 330a ASVG.

Gründe:

Rechtliche Beurteilung

Mit Beschluss des Landesgerichts Salzburg als Vollzugsgericht vom 27. Juni 2017, GZ 42 BE 15/17s-14, wurde Heinrich H***** zum 5. Juli 2017 gemäß § 47 Abs 1 StGB aus einer Anstalt für geistig abnorme Rechtsbrecher unter Bestimmung einer Probezeit von zehn Jahren bedingt entlassen. Gleichzeitig wurde ihm gemäß §§ 50, 51 StGB die Weisung zur Wohnsitznahme in der sozialtherapeutischen Wohneinrichtung S***** erteilt.

Mit Beschluss vom 5. Februar 2018, GZ 2 BE 169/17v 15, sprach das (inzwischen gemäß § 179 Abs 1 StVG zuständig gewordene) Landesgericht für Strafsachen Graz als Vollzugsgericht aus, dass die Kosten des (weisungsgemäßen) „vollzeitbetreuten Wohnens“ des bedingt Entlassenen „anteilig“ (gemeint teilweise) vom Bund übernommen werden, und zwar der Höhe nach bis zu dem Ausmaß, in dem die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter für die Kosten aufkommen könnte, wenn der Entlassene in der Krankenversicherung öffentlich Bediensteter versichert wäre,

„unter gesetzlich zwingender Anrechnung von“ (gemeint bei gleichzeitigem Übergang des Anspruchs auf höchstens bis zu) jeweils 80 % der „laufenden Pension“ und des „laufenden Pflegegeldes nach § 324 Abs 4 ASVG“ sowie

„unter Anrechnung“ (gemeint abzüglich) des Vermögens des bedingt Entlassenen, nämlich (des Rückkaufswerts) einer Lebensversicherung und des Erlöses aus dem Verkauf zweier in seinem Eigentum stehender Liegenschaften.

Einer dagegen erhobenen Beschwerde des Sachwalters des bedingt Entlassenen (ON 18) gab das Oberlandesgericht Graz als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 22. Mai 2018, AZ 8 Bs 78/18h (ON 21), Folge und hob den angefochtenen Beschluss im Ausspruch der „Anrechnung“ des Vermögens des bedingt Entlassenen (nämlich der Lebensversicherung und des Erlöses aus Liegenschaftsverkauf) ersatzlos auf. Begründend führte das Beschwerdegericht aus, zufolge der am 1. Jänner 2018 (BGBl I 2017/125) in Kraft getretenen Verfassungsbestimmung des § 330a ASVG (Verbot des Pflegeregresses) sei ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten unzulässig (BS 3). Diese Bestimmung finde „über die Regelung des § 324 Abs 4 ASVG auch auf die Fälle des § 179a StVG sinngemäß Anwendung“, sodass ein Rückgriff auf Vermögen des weisungsgemäß „in einem vollzeitbetreuten Wohnen aufgenommenen“ bedingt Entlassenen zur Abdeckung der Kosten „ohne Differenzierung, wann diese entstanden sind“, unzulässig sei (BS 4).

Wie die Generalprokuratur in ihrer gemäß § 23 StPO erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes zutreffend ausführt, steht dieser Beschluss mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Die mit der Erfüllung einer Weisung einhergehenden Kosten hat der Rechtsbrecher grundsätzlich selbst zu tragen ( Schroll in WK 2 StGB § 51 Rz 48; Pieber in WK 2 StVG § 179a Rz 3; Drexler/Weger , StVG 4 § 179a Rz 2).

Ist jedoch einem bedingt Entlassenen – außer in den Fällen des § 179a Abs 1 StVG – (hier relevant) die Weisung (§ 51 Abs 2 StGB) erteilt worden, in einer sozialtherapeutischen Wohneinrichtung Aufenthalt zu nehmen, so hat der Bund die Kosten des Aufenthalts ganz oder teilweise – grundsätzlich aber nur bis zu dem Betrag, für den die Versicherungsanstalt öffentlich Bediensteter aufkommen könnte, wenn der bedingt Entlassene in der Krankenversicherung öffentlich Bediensteter versichert wäre – zu übernehmen, wenn der Rechtsbrecher keinen Anspruch auf entsprechende Leistungen aus einer Krankenversicherung hat und durch die Verpflichtung zur Zahlung der Behandlungskosten sein Fortkommen erschwert würde (§ 179a Abs 2 StVG).

§ 324 Abs 3 ASVG statuiert eine Legalzession für bestimmte (zeitlich kongruente) monatliche Geldleistungsansprüche zugunsten jenes Trägers der Sozialhilfe oder Jugendwohlfahrt oder jenes Landes (im Rahmen der Behindertenhilfe), auf dessen Kosten der betreffende Pensions- oder Rentenberechtigte in einem Heim oder in einer ähnlichen Einrichtung „verpflegt“ wird (RIS Justiz RS0066396; Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil , Der SV Komm § 324 ASVG Rz 11 ff). Diese Regelung gilt nach Abs 4 leg cit sinngemäß auch für den Fall, dass ein Rechtsbrecher nach § 179a StVG auf Kosten des – dann als Legalzessionar vorgesehenen – Bundes in einer Anstalt oder Einrichtung untergebracht ist (RIS Justiz RS0084938; Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil , Der SV-Komm § 324 ASVG Rz 2, 26).

Gemäß (der Verfassungsbestimmung des) § 330a ASVG ist ein Zugriff auf das Vermögen von in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommenen Personen im Rahmen der Sozialhilfe zur Abdeckung der Pflegekosten unzulässig.

Nach dem klaren Wortlaut dieser Bestimmung beschränkt sich das damit normierte Verbot des Vermögenszugriffs (zur Abdeckung der Pflegekosten) auf den Bereich der Sozialhilfe – der nach dem Begriffsverständnis des Verfassungsgerichtshofs (VfGH 12. 3. 2019, G 276/2018) neben der Sozialhilfe im Sinn des „Armenwesens“ (Art 12 Abs 1 Z 1 B VG) auch die in Gesetzgebung und Vollziehung in den Kompetenzbereich der Länder (Art 15 Abs 1 B-VG) fallende Behindertenhilfe umfasst.

Seine analoge Anwendung auf die Abdeckung von Kosten nachsorgender Präventivmaßnahmen im Sinn des § 179a StVG (Art 10 Abs 1 Z 6 B VG: „Strafrechtswesen“ sowie „Einrichtungen zum Schutz der Gesellschaft gegen verbrecherische oder sonstige gefährliche Personen“; vgl Drexler/Weger , StVG 4 § 179a Rz 1) würde eine Gesetzeslücke voraussetzen.

Eine solche Lücke ist dort anzunehmen, wo das Gesetz, gemessen an seiner eigenen Absicht und immanenten Teleologie, planwidrig unvollständig ist. Sie liegt vor, wenn die – mit Hilfe der Interpretationsregeln ermittelte – ratio legis in Verbindung mit dem Gleichheitsgrundsatz die Erstreckung der Rechtsfolgenanordnung (der Werttendenz) einer gesetzlichen Norm (oder auch mehrerer Vorschriften) auf den gesetzlich nicht unmittelbar geregelten Fall fordert (RIS Justiz RS0008866 [T17]).

Indem Abs 4 des § 324 ASVG auf dessen Abs 3 verweist, stellt er die Fälle der Unterbringung Renten oder Pensionsberechtigter in Anstalten oder Einrichtungen nach § 21 Abs 1 StGB oder nach § 179a StVG auf Kosten des Bundes jenen der Verpflegung solcher Personen in stationären Einrichtungen auf Kosten der in § 324 Abs 3 ASVG genannten Träger nur in Bezug auf die Einräumung unmittelbaren Zugriffs (der Fürsorgeträger [Abs 3] oder des Bundes [Abs 4]) auf Geldleistungen an den Verpflegten aus gesetzlicher Sozialversicherung gleich (vgl Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV Komm § 324 ASVG Rz 26).

Ein Erfordernis der Gleichstellung dieser Fallgruppen (auch) hinsichtlich des Zugriffs der Leistungserbringer (Bund oder Fürsorgeträger) auf Vermögensbestandteile des Verpflegten lässt sich daraus nicht ableiten. Beschränkt sich doch § 324 Abs 3 ASVG auf die Begründung einer Legalzession zu Gunsten des Fürsorgeträgers und deren Deckelung, ohne jene fürsorgerechtlichen Vorschriften zu tangieren, die das Begehren des Fürsorgeträgers auf Verpflegskostenersatz (in dem durch die Legalzession nicht gedeckten Ausmaß) gegenüber dem Pflegling betreffen (RIS Justiz RS0060135).

Der Regelungszweck des § 324 Abs 3 und 4 ASVG liegt vielmehr darin, die Subsidiarität sowohl der Leistungen der in Abs 3 genannten Träger als auch des Kostenersatzes durch den Bund gegenüber sozialversicherungsrechtlichen Geldleistungen abzusichern (vgl Pfeil in Mosler/Müller/Pfeil, Der SV Komm § 324 ASVG Rz 11 f). Damit steht das in § 330a ASVG normierte Verbot des Zugriffs auf das Vermögen in stationären Pflegeeinrichtungen aufgenommener Personen (sowie deren Angehöriger, Erben und Geschenknehmer) zur Abdeckung der Pflegekosten im Rahmen der Sozialhilfe in keinem inneren Zusammenhang.

Das Verbot des „Pflegeregresses“ wiederum wurde in den Gesetzesmaterialien (AA-225, 25. GP 3) damit begründet, dass durch den bisherigen Zugriff auf das Vermögen die „im Rahmen des österreichischen Pflegevorsorgesystems intendierte Wahlmöglichkeit“ insofern „eingeschränkt“ worden sei, als „ein allfällig sachlich gebotener oder von der betroffenen Person gewünschter Umzug in eine stationäre Pflegeeinrichtung oftmals“ nicht in Betracht gekommen sei. Dieser – den Zweck der Regelung des § 330a ASVG bildende (vgl 9 Ob 68/18t) – Aspekt der freien Wahlmöglichkeit (vgl auch Pfeil/Wetsch , Kein „Pflegeregress“ mehr – was heißt das? in Jahrbuch Öffentliches Recht 2018, 119 [131]) steht bei einer auf gerichtlicher Weisung (vgl § 51 Abs 1 und 2 StGB sowie § 54 Abs 2 StGB) beruhenden Wohnsitznahme in einer therapeutischen Wohneinrichtung gerade nicht in Rede.

Schließlich legt der Umstand, dass § 324 Abs 4 ASVG auch Fälle stationärer Versorgung (zur Hintanhaltung der Gefährlichkeit eines Rechtsbrechers – §§ 50 f StGB) nach bedingter Entlassung aus einer Anhaltung wegen schuldhaften Verhaltens umfasst, eine bewusste Differenzierung zwischen der in Abs 3 und der in Abs 4 des § 324 ASVG bedachten Fallgruppe durch den Bundesgesetzgeber nahe.

Somit kommt – mangels planwidriger Unvollständigkeit – (auch) keine analoge Anwendung des § 330a ASVG in Betracht (vgl OLG Graz 10 Bs 289/18b, RIS Justiz RG0000168).

Indem das Beschwerdegericht bei der Entscheidung über die Übernahme der Kosten nach § 179a Abs 2 StVG dennoch § 330a ASVG insofern anwendete, als es Vermögen des bedingt Entlassenen bei der (nach § 179a Abs 2 erster Satz StVG gebotenen) Beurteilung, ob durch die Verpflichtung zur Zahlung der Behandlungskosten dessen Fortkommen erschwert würde, nicht in Anschlag brachte (BS 4), verstieß es daher gegen beide Bestimmungen.

Da die aufgezeigte Gesetzesverletzung dem bedingt Entlassenen zum Vorteil gereicht, hat es mit ihrer Feststellung sein Bewenden (§ 292 vorletzter Satz StPO).