JudikaturJustiz12Os22/00

12Os22/00 – OGH Entscheidung

Entscheidung
04. Mai 2000

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 4. Mai 2000 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden sowie durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler, Dr. E. Adamovic, Dr. Holzweber und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Graf als Schriftführer, in der Strafsache gegen Carmelo S***** wegen des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB und weiterer strafbarer Handlungen, AZ 15 Vr 165/99, Hv 14/99 des Landesgerichtes Klagenfurt, über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Graz vom 19. August 1999, AZ 9 Bs 328/99 (= ON 15) und 9 Bs 347/99 (= ON 16), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters des Generalprokurators, Generalanwalt Dr. Raunig, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten und seines Verteidigers zu Recht erkannt:

Spruch

Im Verfahren des Landesgerichtes Klagenfurt, AZ 15 Vr 165/99, Hv 14/99, verletzen die jeweiligen Beschlüsse des Oberlandesgerichtes Graz vom 19. August 1999, womit

1. der Einspruch des Carmelo S***** gegen die Anklageschrift (ON 15 = AZ 9 Bs 328/99) und

2. die Beschwerde des Genannten gegen den Beschluss des Landesgerichtes Klagenfurt über die Bestimmung der Sachverständigengebühren vom 16. Juni 1999, GZ 10 Vr 165/99-10 (ON 16 = 9 Bs 347/99) als unzulässig zurückgewiesen wurden, das Gesetz im § 1 und § 3 Abs 1 EWR-RAG.

Text

Gründe:

Carmelo S***** wurde mit dem Urteil des Landesgerichtes Klagenfurt als Schöffengericht vom 4. November 1999, GZ 15 Vr 165/99-33, des Verbrechens des sexuellen Missbrauchs von Unmündigen nach § 207 Abs 1 StGB sowie der Vergehen des Missbrauchs eines Autoritätsverhältnisses nach § 212 Abs 1 StGB und der versuchten Nötigung nach §§ 15, 105 Abs 1 StGB schuldig erkannt und zu einer Freiheitsstrafe verurteilt. Die gegen dieses Urteil gerichtete Nichtigkeitsbeschwerde und Berufung des Angeklagten sind Gegenstand des zum AZ 12 Os 14/00 beim Obersten Gerichtshof anhängigen Verfahrens.

Im Vorverfahren hatte der zu dieser Zeit in die Bundesrepublik Deutschland verzogene Beschuldigte zunächst die beim Landesgericht Würzburg und beim Oberlandesgericht Bamberg zugelassenen deutschen Rechtsanwälte Hans-Günther Deubel und Thorsten Leimeister mit seiner Vertretung beauftragt. Sie erhoben rechtzeitig Einspruch gegen die Anklageschrift vom 31. Mai 1999 (ON 9 und ON 11) sowie Beschwerde gegen den Beschluss vom 16. Juni 1999 (ON 10), mit dem die Gebühren der Sachverständigen Dr. Heide D***** bestimmt worden waren (ON 13). Das Oberlandesgericht Graz wies jeweils mit Beschluss vom 19. August 1999 sowohl den Anklageeinspruch (ON 15) als auch die Kostenbeschwerde (ON 16) aus dem Grunde mangelnder Vertretungsbefugnis der betreffenden Rechtsanwälte zurück. Dabei ging es davon aus, dass es diesen an der hiefür gemäß § 39 Abs 1 StPO erforderlichen Eintragung in die Verteidigerliste eines inländischen Gerichtshofes zweiter Instanz fehle und dieses Zulassungserfordernis auch nach dem Beitritt der Republik Österreich zur Europäischen Union unverändert aufrecht sei. Denn nach Art 3 Abs 1 der Richtlinie des Europäischen Parlamentes und des Rates vom 16. Februar 1998 zur Erleichterung der ständigen Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als in dem, in dem die Qualifikation erworben wurde (98/5 EG), hätte sich jeder Rechtsanwalt im Falle der Ausübung seines Berufes in einem anderen Mitgliedstaat bei der dort zuständigen Stelle eintragen zu lassen.

Zutreffend macht die Generalprokuratur gemäß § 33 StPO geltend, dass diese Rechtsauffassung mit dem Gesetz nicht in Einklang steht.

Rechtliche Beurteilung

Regelungsinhalt der vom Gerichtshof zweiter Instanz herangezogenen Niederlassungs-Richtlinie (98/5 EG) ist ausschließlich die - im konkreten Fall nicht zur Debatte stehende - ständige Ausübung des Rechtsanwaltsberufes in einem anderen Mitgliedstaat als in dem, in dem die Berufsqualifikation erworben wurde (Art 1 Abs 1 und 18). Demgegenüber ist rechtliche Basis der hier allein in Betracht kommenden grenzüberschreitenden rechtsanwaltlichen Tätigkeit durch Erbringung von Dienstleistungen die Richtlinie des Rates der Europäischen Gemeinschaft vom 22. März 1977, 77/249/EWG, zur Erleichterung der tatsächlichen Ausübung des freien Dienstverkehrs der Rechtsanwälte (Dienstleistungs-Richtlinie), welche (ebenso wie die Niederlassungs-Richtlinie) durch das zum selben Zeitpunkt wie das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum, BGBl 1993/909, am 1. Jänner 1993 in Kraft getretene Bundesgesetz über die Ausübung des freien Dienstleistungsverkehrs und die Niederlassung von Rechtsanwälten aus dem Europäischen Wirtschaftsraum (EWR-RAG 1992, BGBl 1993/21) in den inländischen Rechtsbereich transformiert wurde. Inhalt und Geltung dieses Gesetzes blieben durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union am 1. Jänner 1995 unberührt (Hempel, Die rechtsberatenden Berufe im Europarecht, 82). Darnach bedürfen nur solche Rechtsanwälte aus dem Europäischen Wirtschaftsraum, die sich zur Ausübung der Rechtsanwaltschaft in der Republik Österreich niederlassen, nach erfolgreicher Ablegung einer Eignungsprüfung im Inland, einer Eintragung in die Liste der Rechtsanwälte der zuständigen österreichischen Rechtsanwaltskammer (§ 8 Abs 1 EWR-RAG). Hingegen sind ausländische Anwälte bei Ausübung einer bloß vorübergehenden rechtsanwaltlichen Tätigkeit den österreichischen Rechtsanwälten grundsätzlich gleichgestellt, wobei sie - ohne sonstigen Formvorschriften wie jener des § 39 Abs 1 StPO zu unterliegen - vor der erstmaligen Ausübung einer derartigen Tätigkeit im Inland bloß die zuständige Rechtsanwaltskammer, deren Aufsicht ihre inländische Tätigkeit unterliegt, schriftlich zu verständigen haben (§§ 1, 3 Abs 1 und 6 Abs 1 EWR-RAG). Lediglich für Verfahren, in denen sich die Partei durch einen Rechtsanwalt vertreten lassen oder ein Verteidiger beigezogen werden muss (Anwaltszwang), sieht § 4 Abs 1 EWR-RAG insoferne eine Einschränkung der Vertretungsbefugnis vor, als der ausländische Rechtsanwalt in diesem Fall nur im Einvernehmen mit einem in die Liste einer österreichischen Rechtsanwaltskammer eingetragenen Rechtsanwalt (Einvernehmensrechtsanwalt) handeln darf.

Im konkreten Fall galt ein Verteidigerzwang nur für die Hauptverhandlung und das Rechtsmittelverfahren (§ 41 Abs 1 Z 1 und 4 StPO), weshalb die erwähnten deutschen Rechtsanwälte zur Vornahme der hier aktuellen Prozesshandlungen für den Angeklagten sehr wohl befugt waren. Die Zurückweisung des Anklageeinspruches und der erwähnten Beschwerde aus dem Grunde mangelnder Vertretungsbefugnis dieser Parteienvertreter war demnach rechtlich verfehlt.

Richtigerweise wäre über den Anklageeinspruch, und zwar trotz des Umstandes, dass dieser in keiner Weise begründet wurde (Mayerhofer StPO4 § 210 E 8), meritorisch zu entscheiden und - in Ermangelung der in § 5 EWR-RAG geforderten Namhaftmachung eines inländischen Zustellbevollmächtigten - § 10 ZustG, BGBl 200/1982 in der geltenden Fassung, anzuwenden gewesen.

Die Beschwerde gegen den Gebührenbeschluss wurde wegen des Fehlens jedweder Substantiierung, inwieweit die detailliert zugesprochenen Gebühren unberechtigt oder überhöht sein sollten, im Ergebnis allerdings zu Recht zurückgewiesen (Krammer-Schmidt, Sachverständigen- und DolmetscherG, GebührenanspruchsG2 § 41, E 45). Auch in Ansehung der Einspruchserledigung wirkte sich die aufgezeigte Gesetzesverletzung nach Lage des Falles nicht zum Nachteil des Angeklagten aus:

Nicht nur, dass die verfahrensgegenständliche Anklage keinerlei Fehlbeurteilung, vor allem nicht hinsichtlich der Verdachtslage und der inländischen Zuständigkeit, aufweist, die das Oberlandesgericht bei ihrer amtswegigen Überprüfung - ein Einspruchsvorbringen wurde nicht erstattet - berechtigterweise hätte aufgreifen können, wurde der Angeklagte, wie eine Überprüfung der Aktenlage durch den Obersten Gerichtshof im Rahmen des Verfahrens über die von Carmelo S***** erhobene Nichtigkeitsbeschwerde ergab, durch das erkennende Gericht, das an die Einspruchserledigung zudem weder in tatsächlicher noch in rechtlicher Hinsicht gebunden war, an der weiteren umfassenden Wahrnehmung seiner Verteidigungsrechte in der Hauptverhandlung in keiner wie immer gearteten Weise beeinträchtigt. Bei dieser Sachlage fehlt jeder denkbare Konnex zwischen der Gesetzesverletzung und der Sachentscheidung, womit fallbezogen unzweifelhaft erkennbar ist, dass Erstere keinen dem Angeklagten nachteiligen Einfluss üben konnte (§ 281 Abs 3 StPO).

Demnach konnte es insgesamt mit der Feststellung der Gesetzesverletzung sein Bewenden haben.