JudikaturJustiz12Os130/99

12Os130/99 – OGH Entscheidung

Entscheidung
16. Dezember 1999

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 16. Dezember 1999 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofes Dr. Rzeszut als Vorsitzenden und durch die Hofräte des Obersten Gerichtshofes Dr. Schindler, Dr. E. Adamovic, Dr. Holzweber und Dr. Philipp als weitere Richter, in Gegenwart des Richteramtsanwärters Mag. Handler als Schriftführer, in der Strafsache gegen Olaf Harald W***** wegen des Verbrechens des Mordes nach § 75 StGB und einer weiteren strafbaren Handlung über die vom Generalprokurator erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes gegen die Beschlüsse

1. des Landesgerichtes Feldkirch vom 12. Mai 1999, GZ 27 Vr 623/99-6, und 2. des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 29. Juni 1999, AZ 7 Bs 274/99 (= GZ 27 Vr 623/99-11), nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Generalprokurators Dr. Strasser, jedoch in Abwesenheit des Angeklagten zu Recht erkannt:

Spruch

Die Beschlüsse

1. des Untersuchungsrichters vom 12. Mai 1999, GZ 27 Vr 623/99-6, womit der Antrag der Staatsanwaltschaft auf Erlassung eines Haftbefehls gegen den Beschuldigten (einschließlich seiner Ausschreibung zur Verhaftung im Inland und Ausland) sowie auf Verhängung der Untersuchungshaft nach seiner Einlieferung abgelehnt wurde,

2. des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 29. Juni 1999, AZ 7 Bs 274/99 (GZ 27 Vr 623/99-11), mit dem der Beschwerde der Staatsanwaltschaft gegen den zu 1 bezeichneten Beschluss nicht Folge gegeben wurde,

verletzen das Gesetz im § 194 Abs 2 StPO.

Text

Gründe:

Im Verfahren AZ 26 Vr 399/94 des Landesgerichtes Feldkirch, in dem die Hauptverhandlung am 25. März 1996 begann, wurde Olaf Harald W***** mit rechtskräftigem Urteil des Geschworenengerichtes vom 14. November 1996 von der gegen ihn wegen der Verbrechen des Mordes nach § 75 StGB und des schweren Raubes nach §§ 142 Abs 1, 143 zweiter Fall StGB erhobenen Anklage gemäß § 336 StPO freigesprochen und seine Entlassung aus der in diesem Verfahren seit 22. August 1994 andauernden Untersuchungshaft (§ 180 Abs 7 StPO) angeordnet.

Mit Beschluss der Ratskammer des Landesgerichtes Feldkirch vom 27. Oktober 1998, AZ Rk 102/97, bzw der dazu ergangenen Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck vom 12. Mai 1999, AZ 7 Bs 113/99, wurde über Antrag der Staatsanwaltschaft die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen Olaf Harald W***** wegen der in Rede stehenden Verbrechen gemäß § 355 Z 2 StPO angeordnet. Dass dabei in erster Instanz die funktionell unzuständige Ratskammer entschied, konnte dem Beschuldigten fallspezifisch nicht zum Nachteil gereichen, weil sich der gemäß § 357 Abs 2 StPO iVm § 13 Abs 3 StPO zuständige Drei-Richter-Senat des Landesgerichtes Feldkirch im Entscheidungszeitpunkt aus ebendenselben Richtern zusammensetzte.

Die von der Staatsanwaltschaft darüber hinaus gestellten Anträge auf Erlassung eines Haftbefehls gemäß § 175 Abs 2 (iVm § 175 Abs 1 Z 2) StPO, auf Einleitung in- und ausländischer Fahndungsmaßnahmen sowie auf Verhängung der Untersuchungshaft über den Beschuldigten nach seiner Ergreifung gemäß § 180 Abs 7 StPO wies der Untersuchungsrichter des Landesgerichtes Feldkirch mit Beschluss vom 12. Mai 1999, GZ 27 Vr 623/99-6, mit der Begründung ab, dass die (analog zu der zu § 276 StPO entwickelten höchstgerichtlichen Judikatur zu berechnende) gesetzliche "Höchstfrist" des § 194 Abs 2 StPO (im konkreten Fall von zwei Jahren) im Hinblick auf die vom Beschuldigten im vorliegenden Verfahren insgesamt (unter Einbeziehung der ab 25. März 1996 durchgeführten Hauptverhandlung) in Untersuchungshaft zugebrachte Zeit (vom 22. August 1994 bis 14. November 1996) abgelaufen sei, weshalb eine neuerliche Untersuchungshaft nicht mehr in Betracht komme.

Der dagegen von der Anklagebehörde erhobenen Beschwerde versagte das Oberlandesgericht Innsbruck mit Beschluss vom 29. Juni 1999, AZ 7 Bs 274/99 (GZ 27 Vr 623/99-11), den Erfolg. In der zentralen Frage der Einrechnung der vom Beschuldigten im Stadium der Hauptverhandlung zugebrachten Haftzeit in die maximale Haftdauer folgte der Gerichtshof zweiter Instanz im wesentlichen der erstgerichtlichen Argumentation.

Rechtliche Beurteilung

Mit ihrer zur Wahrung des Gesetzes gegen diese Entscheidungen erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde macht die Generalprokuratur zutreffend jeweils eine Verletzung des § 194 Abs 2 StPO geltend, deren Tragweite jedoch noch über jenes Maß hinausgeht, welches in der Beschwerdeargumentation aktualisiert wird:

Mit der Beschwerdeausführung ist zunächst voranzustellen, dass der die (ordentliche) Wiederaufnahme bewilligende Beschluss in ein neues, vom früheren völlig unabhängiges Verfahren (Foregger/Kodek StPO7 Anm II zu § 359) überleitet, das kraft gesetzlicher Anordnung (§ 359 Abs 1 erster Satz StPO) - abgesehen vom hier nicht aktuellen Fall des § 360 StPO - im Stand der Voruntersuchung einsetzt (§ 359 Abs 1 erster Satz StPO). Dass laut § 359 Abs 1 zweiter Satz StPO die für die Einstellung der Voruntersuchung und Versetzung in den Anklagestand geltenden Vorschriften auch hier anzuwenden sind, stellt die - vom früheren Verfahren abgekoppelte - Eigenständigkeit des neuen Verfahrens und seiner von dem früheren unabhängigen Finalisierungsvarianten klar. Damit wird in sachadäquater Weise dem Umstand Rechnung getragen, dass die Beseitigung einer rechtskräftigen Verfahrensbeendigung schon wegen ihres massiven Spannungsverhältnisses zu dem Grundanliegen der Rechtssicherheit nach dem Gesetz regelmäßig und unabdingbar vom Vorliegen neuer Tatsachen oder Beweismittel abhängig gemacht wird, deren nunmehr im Vergleich zur früheren modifizierte Konstellation in einem (neuen) Vorverfahren mit (aus der Sicht aller Prozessparteien) uneingeschränkten Qualitätsanforderungen zu sondieren ist. Davon ausgehend ist den hier bekämpften Gerichtsentscheidungen erster und zweiter Instanz nicht zu folgen, wenn darin die auf die Sicherung des jeweils anhängigen Strafverfahrens ausgerichtete Funktion der Untersuchungshaft im neuen Verfahren nach Bewilligung der Wiederaufnahme im Sinne einer Fortwirkung prozessualer Fakten aus dem rechtskräftig abgeschlossenen Primärverfahren zwingend beschnitten, hier sogar gänzlich ausgeschaltet wird. Der Gesetzesauslegung in Richtung einer nach § 194 Abs 2 StPO relevanten Fortwirkung der im rechtskräftig beendeten Verfahren erlittenen Untersuchungshaft auch im neuen Verfahren nach Bewilligung der Wiederaufnahme, wie sie sowohl den hier bekämpften Gerichtsentscheidungen als auch - wenngleich in eingeschränktem Umfang - der Beschwerdeargumentation der Generalprokuratur zugrundeliegt, setzt sich darüber hinweg, dass die Bestimmungen der Strafprozessordnung - soweit nicht ausdrücklich das Gegenteil normiert ist - grundsätzlich aus der Sicht ein und desselben Verfahrens von seiner Einleitung bis zum rechtskräftigen Abschluss zu verstehen sind. Dies gilt insbesondere auch für den die Untersuchungshaft betreffenden Regelungskomplex, dessen spezifische Verfangenheit mit dem jeweils rechtskräftig beendeten Verfahren zusätzlich durch die gesetzlichen Bestimmungen über eine allfällige Haftentschädigung (StEG) verdeutlicht wird. Das unbestrittene, aus naheliegenden sachlichen Gründen gebotene Verständnis des Verfahrens nach Bewilligung der Wiederaufnahme als neues und vom früheren unabhängiges Verfahren trägt dem Umstand Rechnung, dass ein nach dem Gesetz tauglicher Wiederaufnahmegrund regelmäßig eine einschneidend geänderte Beurteilung der - prozessual rechtskräftig finalisierten - Verdachtsgrundlagen voraussetzt, deren sachdienliche Aufarbeitung in ihren verfahrensrechtlichen Möglichkeiten vorweg auf keinen geringeren Bedarf als im Primärverfahren angewiesen ist.

Die verfahrensrechtliche Eigenständigkeit des wieder aufgenommenen Verfahrens stellt auch jenes Kriterium dar, das im vorliegenden Fall einer Orientierung an der Rechtsprechung zur Haftproblematik bei der im Stadium der Hauptverhandlung ausgesprochenen Verfahrensrückleitung an den Untersuchungsrichter den Boden entzieht. Handelt es sich doch dort - anders als im hier aktuellen Fall eines dem rechtskräftigen Verfahrensabschluss nachfolgenden neuen Verfahrens - um eine prozessuale Maßnahme innerhalb ein und desselben Verfahrens, die keinen wie immer gearteten tragfähigen Zäsuransatz in der Richtung eröffnet, die Zeiten der in demselben Verfahren erlittenen Untersuchungshaft von der Berechnung von deren zulässiger Höchstdauer auszunehmen. Der dazu ins Treffen geführte Literaturhinweis auf Soyer

Die Verneinung einer gemäß § 194 Abs 2 StPO relevanten Fortwirkung der Untersuchunghaft im Primärverfahren gibt auch keinen stichhältigen Anlass für die Sorge, der Neustart der zeitlichen Höchstbegrenzung im wiederaufgenommenen Verfahren könnte das Risiko einer unverhältnismäßigen Vorhaft in unvertretbarer Weise erhöhen. Bleibt doch das in § 193 Abs 2 StPO normierte Regulativ, dessen Tragweite die Mitberücksichtigung offener anrechnungstauglicher (§ 38 StGB) Vorhaften auch aus anderen Verfahren gebietet, ungeschmälert wirksam.

Lediglich vollständigkeitshalber ist hinzuzufügen, dass die in den bekämpften Gerichtsentscheidungen vertretene Auffassung die geradezu absurde Konsequenz nach sich zöge, dass etwa ein entsprechend vorhaftbelasteter, im Primärverfahren zunächst mangels ausreichender Beweise freigesprochener gefährlicher Triebtäter oder Serienmörder trotz in der Folge lückenlos klärender DNA-Analyse und eklatanter Rückfallsgefahr im wiederaufgenommenen Verfahren nicht mehr in Untersuchungshaft genommen werden dürfte.

Aus den dargelegten Erwägungen folgt demnach, dass sowohl die mit dem Hinweis auf die Ausschöpfung der gesetzlichen Höchstdauer der Untersuchungshaft begründete untersuchungsrichterliche Abweisung der von der Staatsanwaltschaft gestellten Anträge auf Erlassung eines Haftbefehls gegen Olaf Harald W***** sowie auf Verhängung der Untersuchungshaft nach seiner Einlieferung als auch die dazu ergangene Beschwerdeentscheidung des Oberlandesgerichtes Innsbruck (noch gravierender als von der Generalprokuratur aufgezeigt) das Gesetz im § 194 Abs 2 StPO verletzen. Ohne dass es nach Lage des Falles eines Eingehens auf die unterschiedlichen Facetten der einerseits in den angefochtenen Gerichtsentscheidungen andererseits in der Beschwerdeargumentation der Generalprokuratur vertretenen Rechtsauffassungen bedarf, war in Stattgebung der zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde spruchgemäß zu erkennen.

Hinzuzufügen ist, dass sich zwar die unterlaufenen Gesetzesverletzungen zum Vorteil des Beschuldigten auswirkten und solcherart der Ausspruch einer im Sinn des § 292 letzter Satz StPO konkreten Wirkung nicht in Betracht kommt. Dass es dessen ungeachtet der Staatsanwaltschaft unbenommen bleibt, die Haftproblematik nach entsprechender Neuprüfung zum Gegenstand einer neuerlichen Antragstellung zu machen, versteht sich von selbst.