JudikaturJustiz11Os74/09f

11Os74/09f – OGH Entscheidung

Entscheidung
08. September 2009

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat am 8. September 2009 durch den Senatspräsidenten des Obersten Gerichtshofs Dr. Zehetner als Vorsitzenden sowie die Hofräte des Obersten Gerichtshofs Hon. Prof. Dr. Kirchbacher, Dr. Schwab, Mag. Lendl und Dr. Bachner Foregger als weitere Richter, in Gegenwart der Rechtspraktikantin Dr. Walcher als Schriftführerin, in der Strafsache gegen Jürgen L***** und andere wegen des Vergehens der Auskundschaftung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses zu Gunsten des Auslands nach § 124 Abs 2 StGB, AZ 30 Ur 281/07x des Landesgerichts Innsbruck, über die von der Generalprokuratur gegen die Beschlüsse dieses Gerichts vom 19. September 2007 (ON 5 der Ur Akten) und des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 25. Oktober 2007, AZ 6 Bs 467/07p (ON 9 der Ur Akten), erhobene Nichtigkeitsbeschwerde zur Wahrung des Gesetzes nach öffentlicher Verhandlung in Anwesenheit des Vertreters der Generalprokuratur, Generalanwalt Mag. Knibbe, und des Privatbeteiligtenvertreters Dr. Hohenauer zu Recht erkannt:

Spruch

In der Strafsache gegen Jürgen L***** und andere wegen des Vergehens der Auskundschaftung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses zu Gunsten des Auslands, AZ 30 Ur 281/07x des Landesgerichts Innsbruck, verletzen die Beschlüsse dieses Gerichts vom 19. September 2007 und des Oberlandesgerichts Innsbruck als Beschwerdegericht vom 25. Oktober 2007, AZ 6 Bs 467/07p, § 124 Abs 2 StGB.

Text

Gründe:

Aufgrund einer Sachverhaltsdarstellung der (in Tirol etablierten) G***** AG (sowie eines Erhebungsberichts des Landespolizeikommandos für Tirol, Landeskriminalamt) beantragte die Staatsanwaltschaft Innsbruck am 18. September 2007 beim Landesgericht Innsbruck die Einleitung der Voruntersuchung gegen Jürgen L*****, Andrea Le***** und Birgit H***** wegen des Verdachts des Vergehens der Auskundschaftung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses zu Gunsten des Auslands nach § 124 Abs 2 StGB sowie gemäß § 97 Abs 1 StPO aF die Erlassung von Hausdurchsuchungs- und Beschlagnahmebefehlen. Verdachtsgegenstand war die pflichtwidrige Preisgabe von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen der zuvor genannten Gesellschaft zur Verwertung und Verwendung an die in Bruneck, Italien, etablierte Tuchfabrik M***** AG.

Der Untersuchungsrichter des Landesgerichts Innsbruck wies diese Anträge mit Beschluss vom 19. September 2007, GZ 30 Ur 281/07x 5, ab.

Dies mit der (hier wesentlichen, auf die Ausführungen von Lewisch in WK² zu § 124 gestützten) Begründung, dass fallaktuell ein Tatverdacht nach § 124 StGB mangels Verwirklichung des Tatbestandsmerkmals „Ausland" nicht bestehe. Diese Bestimmung stehe nämlich im Widerspruch zu den Grundsätzen eines im Rahmen der Europäischen Union statuierten gemeinsamen Wirtschaftsraums; eine unterschiedliche rechtliche Behandlung von Sachverhalten, je nachdem, ob es sich um ein „EU ausländisches" oder österreichisches Geheimnis handle, sei ausgeschlossen. Das grundsätzlich unterschiedliche Schutzniveau des strafrechtlichen Geheimnisschutzes zwischen „EU ausländischen" und inländischen Wirtschaftsgeheimnissen ergäbe sich daraus, dass „EU ausländische" Wirtschaftsgeheimnisse diskriminierungsfreien Strafrechtsschutz bloß unter der Voraussetzung einer österreichischen Niederlassung genießen würden. Bei grenzüberschreitendem Geschäftsverkehr nach Österreich im Sinne der Dienstleistungsfreiheit bestehe demgegenüber Strafrechtsschutz nur gemäß § 123 StGB, nicht jedoch im Hinblick auf die Auswertung im Inland (gemeint: Ausland) gemäß § 124 StGB.

Der dagegen erhobenen Beschwerde der Staatsanwaltschaft gab das Oberlandesgericht Innsbruck als Beschwerdegericht mit Beschluss vom 25. Oktober 2007, AZ 6 Bs 467/07p (ON 9 der Ur Akten), nicht Folge. In Bekräftigung der Rechtsansicht des Erstgerichts führte die Rechtsmittelinstanz dazu aus, dass der Begriff des „Auslandes" in § 124 StGB gemeinschaftsrechtskonform einschränkend dahin auszulegen sei, dass darunter nur Staaten fielen, die keine Mitgliedstaaten der Europäischen Union sind.

Rechtliche Beurteilung

Die genannten Beschlüsse stehen - wie die Generalprokuratur in ihrer zur Wahrung des Gesetzes erhobenen Nichtigkeitsbeschwerde zutreffend ausführt - mit dem Gesetz nicht im Einklang:

Nach dem (hier unstrittigen) gesetzlichen Normverständnis bezeichnet der - auch in anderen Bestimmungen des Strafgesetzbuchs (etwa §§ 60 Abs 2 Z 4, 64 f) verwendete - Begriff „Ausland" in § 124 StGB jeden Ort, der nicht Inland im Sinne des § 62 StGB ist, somit nicht zum Bundesgebiet gehört (statt vieler: Leukauf/Steininger Komm³ § 64 RN 1). § 124 StGB, dessen mit dem Strafrechtsänderungsgesetz 1965 (BGBl 1965/79) eingefügte, im Wesentlichen gleichlautende Vorläuferbestimmung des § 310c StG ausdrücklich als Gegenstück zur Strafbestimmung gegen militärische Ausspähung (§ 67 StG) konzipiert war, pönalisiert nach dem klaren Willen des Gesetzgebers gezielt den sogenannten „wirtschaftlichen Landesverrat" zum Nachteil Österreichs (EBRV zum Strafrechtsänderungsgesetz 1965, 650 BlgNR 10. GP 9; Leukauf/Steininger aaO § 124 RN 1; Schramböck , Der Schutz von Geschäfts- und Betriebsgeheimnissen [2002] 23, 25; Lewisch in WK² § 124 Rz 1). Die in Rede stehende Strafbestimmung ist daher spezifisch auf den Schutz gesamtwirtschaftlicher staatlicher Interessen (auch unter dem Gesichtspunkt der äußeren Sicherheit des Staates) ausgerichtet (EBRV aaO 3, 10; Schmidt in Oehler [Hrsg], Der strafrechtliche Schutz des Geschäfts- und Betriebsgeheimnisses in den Ländern der Europäischen Gemeinschaft sowie in Österreich und der Schweiz II 189, 281, 290; Thiele , SbgK § 124 Rz 5 ff). Folgerichtig ist § 124 StGB ein Offizialdelikt (§ 4 Abs 1 StPO) und im Katalog jener ohne Rücksicht auf die Gesetze des Tatorts zu verfolgenden im Ausland begangenen strafbaren Handlungen enthalten, die gegen besonders wichtige Interessen Österreichs gerichtet sind (§ 64 Abs 1 Z 1 StGB; EBRV aaO 10; Schmidt aaO 235, 284; Höpfel/U. Kathrein in WK² § 64 Rz 3; Schwaighofer , SbgK § 64 Rz 4, 6; Lewisch in WK² § 124 Rz 1).

Entgegen der auf die Ausführungen von Lewisch in WK² § 124 Rz 2 ff gestützten Rechtsansicht der hier befasst gewesenen Gerichte besteht für eine (durch den Grundsatz des Anwendungsvorrangs des Gemeinschaftsrechts bedingte) gemeinschaftsrechtskonforme Auslegung (vgl dazu instruktiv Öhlinger , Verfassungsrecht7 91 f) des § 124 StGB mit dem Ergebnis einer Einschränkung des zuvor dargelegten Begriffsumfangs auf den Bereich „Ausland" außerhalb der EU kein Anlass, weil diese Strafbestimmung nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts fällt (vgl dazu allgemein Öhlinger/Potacs , Gemeinschaftsrecht und staatliches Recht³ 102 f):

Das Gemeinschaftsrecht verpönt Diskriminierungssachverhalte, die der mitgliedstaatlichen Regelungszuständigkeit unterliegen, nur bei einem zumindest indirekten gemeinschaftsrechtlichen Bezug; also dann, wenn die innerstaatliche Rechtsregelung entweder eine Diskriminierung (Art 12 EGV) von (natürlichen und juristischen) Personen mit gemeinschaftsrechtlichem Anspruch auf Gleichbehandlung oder aber eine Beschränkung der gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten (etwa der Niederlassungsfreiheit [Art 43 EGV] oder der Freiheit des Dienstleistungsverkehrs [Art 49 EGV]) bewirkt ( Lewisch in WK² § 124 Rz 6).

Normadressat des § 124 StGB ist ausschließlich der (im Hinblick auf die darin bezeichneten Tathandlungen jeweilige) präsumtive Straftäter, nicht aber - anders als etwa in den vom Europäischen Gerichtshof als diskriminierend beurteilten Fällen der Auferlegung einer aktorischen Kaution (EuGH 2. 10. 1997, C 122/96; vgl dazu Öhlinger/Potacs aaO 102; Lewisch in WK² § 124 Rz 6) - ein innerstaatlich rechtlichen Beschränkungen (vorliegend unter dem Gesichtspunkt der Verfolgung einer Verletzung von Geschäfts- oder Betriebsgeheimnissen) unterworfenes EU Unternehmen. Daher kommt eine Berufung auf das Diskriminierungsverbot oder die Grundfreiheiten des EG Vertrags von vornherein nicht in Frage, weil ein durch § 124 StGB verpöntes strafbares Verhalten keine vom EG Vertrag geschützte legale wirtschaftliche Tätigkeit darstellt (vgl Herzig in Eilmansberger/Herzig [Hrsg], Europarecht Jahrbuch 2008, 85 f, mit Beziehung auf § 217 StGB und 15 Os 32/07f, vgl auch 11 Os 39/08g, EvBl 2008/122, 605). Die (in den gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten ausgedrückten) Grundsätze eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes weisen naturgemäß keinen Strafrechtsbezug auf und schließen damit die Pönalisierung der Auskundschaftung eines Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisses zu Gunsten des (innerhalb der EU gelegenen) Auslands nicht aus (vgl zur gleichgelagerten [qualifizierenden] Strafbestimmung des § 17 Abs 4 Z 2 und 3 dUWG Brammsen , Münch Komm UWG [2006] § 17 RN 130 mwN unter Erwähnung auch gegenteiliger deutscher Literaturmeinungen, denen indes insgesamt lediglich abstrakt programmatische Erwägungen zur „Idee des Binnenmarkts" zu entnehmen sind).

Da somit der Begriffsumfang des „Auslandes" in § 124 StGB nicht auf den Bereich außerhalb der EU (sog Drittstaaten) beschränkt ist (anderer Ansicht ohne über den Verweis auf Lewisch in WK² zu § 124 hinausgehende eigene Begründung Kienapfel/Schroll BT I5 § 124 Rz 1, Bertel/Schwaighofer BT I9 §§ 122 bis 124 Rz 14; indifferent Thiele , SbgK § 124 Rz 33 f), haben die hier befasst gewesenen Gerichte mit Beziehung auf die in Verdacht gestandene Geheimnispreisgabe zur Verwertung oder Verwendung in Italien eine Tatbildverwirklichung nach § 124 Abs 2 StGB - freilich zum Vorteil der Beschuldigten - zu Unrecht verneint.

Die Generalprokuratur führt weiters aus:

§ 124 StGB fällt auch unter dem Gesichtspunkt eines (handlungsobjektbezogenen) „unterschiedlichen Schutzniveaus des strafrechtlichen Geheimnisschutzes zwischen 'EU ausländischen' und inländischen Wirtschaftsgeheimnissen" ( Lewisch aaO § 124 Rz 5) nicht in den Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts:

Zum einen stehen nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs die gemeinschaftsrechtlichen Grundfreiheiten (auch bei grenzüberschreitenden Sachverhalten) nationalen Regelungen nicht entgegen, wenn die dadurch bedingten Auswirkungen auf das (binnenmarktbezogene) Verhalten der Angehörigen von Mitgliedstaaten „zu ungewiss und zu mittelbar" ist, als dass die fragliche nationale Vorschrift als geeignet angesehen werden könnte, die Ausübung der Binnenmarktfreiheiten zwischen den Mitgliedstaaten zu behindern. Dies hat der Europäische Gerichtshof etwa im Fall einer nationalen Vorschrift, die das Mahnverfahren in Fällen, in denen die Zustellung an den Schuldner in einem anderen Mitgliedstaat der Gemeinschaft zu erfolgen hätte, ausschließt, und die daher zur Folge hat, dass für die Wirtschaftsteilnehmer je nach dem unterschiedliche Verfahrensvorschriften gelten, ob sie Waren innerhalb des betroffenen Mitgliedstaates liefern oder sie in andere Mitgliedstaaten ausführen, bejaht (Rechtssache ED Srl gegen Italo Fenocchio , Urteil vom 22. Juni 1999, C 412/97). Es gilt daher umso mehr in der hier vorliegenden Fallkonstellation, in welcher die (gegenüber § 123 StGB) unterschiedliche Behandlung im Bereich der „Rechtsdurchsetzung" (im Anwendungsbereich des § 123 StGB keine amtswegige Verfolgung und - bei Auslandstaten - keine Verfolgbarkeit unabhängig vom Recht des Tatorts [§ 64 StGB]) nur mittelbare Folge einer gar nicht an ein EU Unternehmen gerichteten materiellen Strafnorm (des § 124 StGB) ist. Lewisch selbst konzediert, dass sein Postulat, wonach „jede in einer rechtlichen Ungleichbehandlung begründete materielle Verzerrung der Wettbewerbsbedingungen als Anknüpfungspunkt einer (gemeinschaftsrechtlichen) Diskriminierung ausreiche", „über den derzeitigen Stand der Judikaturentwicklung des Europäischen Gerichtshofs hinaus" reiche (aaO § 124 Rz 6 aE).

Zum anderen aber ist die in Rede stehende Strafbestimmung des § 124 StGB auch unter dem Gesichtspunkt des zuvor dargelegten, wirtschaftsspezifisch „staatsschutz"bezogenen Normzweckes aus dem Aspekt daraus resultierender Kompetenzgrenzen dem Anwendungsbereich des Gemeinschaftsrechts entzogen. § 124 StGB schützt seiner (bereits zuvor dargestellten) Konzeption nach (nur) Geschäfts- oder Betriebsgeheimnisse, die einen spezifischen Inlandsbezug haben, doch ist dieser (denkbar) weit gefasst und liegt immer schon dann vor, wenn ein ausländisches Unternehmen über eine Tochtergesellschaft oder Betriebsstätte bzw eine (im untechnischen und weitesten Sinn verstandene) Niederlassung im Inland verfügt und das Geheimnis damit in Verbindung steht ( Burgstaller , Der strafrechtliche Schutz der Wirtschaft, in: Ruppe [Hrsg], Geheimnisschutz im Wirtschaftsleben [1980], 42 f; Schmidt aaO 197, 291; so auch Lewisch aaO § 124 Rz 2). Solcherart bleiben nur Wirtschaftsgeheimnisse ausländischer Unternehmen im Ausland vom Anwendungsbereich des § 124 StGB ausgeschlossen ( Burgstaller aaO 43). Einer Einbeziehung derartiger Sachverhalte ohne jeglichen Inlandsbezug in den Schutzbereich der genannten Strafbestimmung mit der (gegenüber § 123 StGB grundverschiedenen) Konsequenz der Verfolgbarkeit als Offizialdelikt unabhängig von der Strafbarkeit im Tatort Staat stünde mit Blick auf den bereits dargelegten, § 124 StGB zu Grunde liegenden spezifisch staatsbezogenen Rechtsgüterschutz der die inländische Strafgewalt limitierende Souveränitätsgedanke entgegen (vgl Schmidt aaO 287, 292), demzufolge es nicht Sache Österreichs ist, fremde wirtschaftsbezogene Staatsschutzinteressen wahrzunehmen. Daraus folgt aber, dass eine Antinomie des § 124 StGB gegenüber dem Gemeinschaftsrecht von vornherein nicht in Rede steht. Denn nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs (Rechtssache C 379/92, Peralta ) liegt, wenn sich eine Ungleichbehandlung aus der Beschränkung des Anwendungsbereichs einer Norm ergibt, dennoch keine (gemeinschaftsrechtliche) Diskriminierung vor, wenn der betroffene Mitgliedstaat zu einer weitergehenden Regelung überhaupt nicht befugt ist ( Plötscher , Der Begriff der Diskriminierung im Europäischen Gemeinschaftsrecht, 112).

Der Oberste Gerichtshof sieht sich zu keiner eigenen Stellungnahme zu diesem Problemkreis veranlasst, weil im Gegenstand jedenfalls von einem österreichischen Geschäftsgeheimnis auszugehen ist, sodass sich die Frage der gemeinschaftsrechtlichen Diskriminierung gar nicht stellt.