JudikaturJustiz10ObS108/20k

10ObS108/20k – OGH Entscheidung

Entscheidung
24. November 2020

Kopf

Der Oberste Gerichtshof hat als Revisionsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen durch den Vizepräsidenten Univ. Prof. Dr. Neumayr als Vorsitzenden, die Hofrätin Dr. Fichtenau und den Hofrat Mag. Ziegelbauer sowie die fachkundigen Laienrichter Dr. Martin Gleitsmann (aus dem Kreis der Arbeitgeber) und Mag. Werner Pletzenauer (aus dem Kreis der Arbeitnehmer) als weitere Richter in der Sozialrechtssache der klagenden Partei B*, vertreten durch Puttinger Vogl Rechtsanwälte OG in Ried im Innkreis, gegen die beklagte Partei Österreichische Gesundheitskasse, 1030 Wien, Haidingergasse 1, vertreten durch Dr. Haymo Modelhart, Dr. Elisabeth Humer Rieger und Mag. Katrin Riesenhuber, Rechtsanwälte in Linz, wegen Feststellung, über die Revision der beklagten Partei gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Linz als Berufungsgericht in Arbeits und Sozialrechtssachen vom 27. Mai 2020, GZ 12 Rs 32/20t 28, womit infolge Berufung der klagenden Partei das Urteil des Landesgerichts Ried im Innkreis als Arbeits und Sozialgericht vom 25. Februar 2020, GZ 31 Cgs 102/19p 22, abgeändert wurde, in nichtöffentlicher Sitzung den

Beschluss

gefasst:

Spruch

Die Revision wird zurückgewiesen.

Die beklagte Partei ist schuldig, der klagenden Partei die mit 418,78 EUR bestimmten Kosten des Revisionsverfahrens (darin enthalten 69,80 EUR USt) binnen 14 Tagen zu ersetzen.

Text

Begründung:

[1] Die im Jahr 1944 geborene Klägerin war bis 30. 4. 2004 in Deutschland beschäftigt. Sie pendelte täglich zwischen ihrem Wohnsitz in Österreich und ihrer Arbeitsstelle in Deutschland. Seit 1. 5. 2004 bezieht die Klägerin eine deutsche Altersrente für schwer behinderte Menschen. Seit 16. 2. 2019 bezieht die Klägerin eine Hinterbliebenenpension aus der österreichischen Pensionsversicherung.

[2] Die Klägerin begehrt gegenüber der Beklagten die Feststellung, dass sie Anspruch auf Gewährung von Sachleistungen gemäß Art 28 Abs 2 der Verordnung (EG) Nr 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (in der Folge: VO 883/2004) hat.

[3] Die Beklagte bestreitet nicht, der für Leistungen aus der Krankenversicherung für die Klägerin zuständige Träger zu sein. Sie hält dem von der Klägerin geltend gemachten Anspruch auch in der Revision entgegen, dass der Bezug einer Hinterbliebenenpension in Österreich keine Anspruchsberechtigung gemäß Art 28 Abs 2 VO 883/2004 auslöst. Vielmehr habe die Klägerin durch den Bezug der österreichischen Hinterbliebenenpension ihren Anspruch als Grenzgängerin in Rente gemäß Art 28 Abs 2 VO 883/2004 verloren.

[4] Das Erstgericht wies das Klagebegehren ab.

[5] Das von der Klägerin angerufene Berufungsgericht gab ihrem Feststellungsbegehren statt. Die Klägerin habe in den letzten fünf Jahren vor Antritt ihrer deutschen Altersrente unstrittig mindestens zwei Jahre als Grenzgängerin gearbeitet und daher die Anspruchsvoraussetzungen des Art 28 Abs 2 VO 883/2004 erfüllt. Der Umstand, dass der Antritt der deutschen Altersrente vor dem Inkrafttreten der VO 883/2004 mit 1. 5. 2010 erfolgt sei, schade nicht, weil es sich dabei um ein Ereignis handle, das gemäß den Übergangsvorschriften dieser Verordnung für einen nach ihrem Inkrafttreten entstandenen Leistungsanspruch zu berücksichtigen sei. Mit Art 28 VO 883/2004 sei eine Regelung geschaffen worden, die eine Besserstellung der Grenzgänger bezwecke. Der spätere Bezug einer Hinterbliebenenpension nach österreichischem Recht schade dem bereits entstandenen Anspruch nach Art 28 Abs 2 VO 883/2004 nicht. Die Beklagte habe den Anspruch der Klägerin bestritten, was ein ausreichendes Feststellungsinteresse begründe. Die Revision sei zulässig, weil Rechtsprechung zum gebotenen Verständnis des Art 28 Abs 2 VO 883/2004 fehle.

[6] Gegen diese Entscheidung richtet sich die von der Klägerin beantwortete Revision der beklagten Österreichischen Gesundheitskasse, mit der diese die Abweisung des Klagebegehrens anstrebt.

Rechtliche Beurteilung

[7] Die Revision ist entgegen dem Zulassungsausspruch des Berufungsgerichts unzulässig. Denn eine erhebliche Rechtsfrage liegt trotz Fehlens höchstgerichtlicher Rechtsprechung nicht vor, wenn das Gesetz (hier die VO 883/2004 ) selbst eine eindeutige Regelung trifft (RIS Justiz RS0042656) und (daher) wegen Fehlens jedes Auslegungszweifels ( „acte clair“ ) auch keine Vorlagepflicht nach Art 267 AEUV besteht (RS0082949; Lovrek in Fasching/Konecny³ § 502 ZPO Rz 58 f). Das trifft hier zu:

[8] 1.1 Die Klägerin war bis zum Beginn des Bezugs ihrer deutschen Altersrente mit 1. 5. 2004 unstrittig Grenzgängerin gemäß Art 1 lit b der damals noch anwendbaren Verordnung (EWG) Nr 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu und abwandern (in der Folge: VO 1408/71; nunmehr: Art 1 lit f VO 883/2004).

[9] 1.2 Ebenso unstrittig blieb für die Klägerin als Bezieherin einer deutschen Rente weiterhin Deutschland der zuständige Staat für die Gewährung von Sachleistungen bei Krankheit, solange die Klägerin keinen Anspruch auf Sachleistungen nach den österreichischen Rechtsvorschriften hatte (Art 28 VO 1408/71; nunmehr Art 24 VO 883/2004).

[10] 1.3 Als die Klägerin am 16. 2. 2019, daher bereits im zeitlichen Anwendungsbereich der VO 883/2004 (Art 91 VO 883/2004 iVm Art 97 DVO [EG] 987/2009 ), eine österreichische Hinterbliebenenpension neben ihrer deutschen Altersrente erhielt, ging die Zuständigkeit für die Gewährung von Sachleistungen bei Krankheit unstrittig auf Österreich als Wohnmitgliedstaat über (Art 23 VO 883/2004).

[11] 2. Titel III, Kapitel 1 der VO 883/2004 enthält besondere Bestimmungen über Leistungen bei Krankheit sowie bei Mutterschaft und gleichgestellte Leistungen bei Vaterschaft. Abschnitt 2 dieses Kapitels regelt in den Art 23 bis 30 diese Leistungen für Rentner und ihre Familienangehörigen. Art 28 VO 883/2004, der keine Vorläuferbestimmung in der VO 1408/71 hat, lautet auszugsweise (Abs 1 idF der Änderungsverordnung [EG] Nr 988/2009):

Artikel 28

Besondere Vorschriften für Grenzgänger in Rente

(1) Ein Grenzgänger, der wegen Alters oder Invalidität Rentner wird, hat bei Krankheit weiterhin Anspruch auf Sachleistungen in dem Mitgliedstaat, in dem er zuletzt eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, soweit es um die Fortsetzung einer Behandlung geht, die in diesem Mitgliedstaat begonnen wurde. … .

(2) Ein Rentner, der in den letzten fünf Jahren vor dem Zeitpunkt des Anfalls einer Alters oder Invaliditätsrente mindestens zwei Jahre als Grenzgänger eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit ausgeübt hat, hat Anspruch auf Sachleistungen in dem Mitgliedstaat, in dem er als Grenzgänger eine solche Beschäftigung oder Tätigkeit ausgeübt hat, wenn dieser Mitgliedstaat und der Mitgliedstaat, in dem der zuständige Träger seinen Sitz hat, der die Kosten für die dem Rentner in dessen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat, sich dafür entschieden haben und beide in Anhang V aufgeführt sind.

(3) Absatz 2 gilt entsprechend für die Familienangehörigen eines ehemaligen Grenzgängers oder für seine Hinterbliebenen, …

(4) Die Absätze 2 und 3 gelten so lange, bis auf die betreffende Person die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats aufgrund der Ausübung einer Beschäftigung oder einer selbstständigen Erwerbstätigkeit Anwendung finden.

(5) Die Kosten für die Sachleistungen nach den Absätzen 1 bis 3 übernimmt der zuständige Träger, der auch die Kosten für die dem Rentner oder seinen Hinterbliebenen in ihrem jeweiligen Wohnmitgliedstaat gewährten Sachleistungen zu tragen hat.“

[12] 3.1 Das Berufungsgericht hat in Übereinstimmung mit dem Wortlaut des Art 28 Abs 2 VO 883/2004 ausgeführt, dass es nach dieser Bestimmung nur darauf ankommt, dass die Klägerin eine Alters oder Invaliditätsrente bezieht. Keine Rolle spielt hingegen, ob sie diese Rente im Beschäftigungsmitgliedstaat (hier: Deutschland) oder im Wohnmitgliedstaat (hier: Österreich) bezieht. Die Klägerin bezieht seit 1. 5. 2004 eine Altersrente in Deutschland und war vor dem Zeitpunkt des Anfalls dieser Rente mindestens zwei Jahre lang in Deutschland als Grenzgängerin beschäftigt. Sowohl Deutschland als auch Österreich sind im Anhang V zur VO 883/2004 genannt. Die Klägerin erfüllt daher die Anspruchsv oraussetzungen des Art 28 Abs 2 VO 883/2004.

[13] 3.2 Die Ausführungen des Berufungsgerichts, dass die VO 883/2004 einen Leistungsanspruch auch für ein Ereignis vor dem Beginn der Anwendung der VO 883/2004 in dem betreffenden Mitgliedstaat begründet, finden ihre rechtliche Grundlage in Art 87 Abs 3 VO 883/2004; sie werden von der Revisionswerberin nicht in Frage gestellt. Schon aus diesem Grund ist entgegen den Rechtsausführungen der Revisionswerberin der Anfall der deutschen Altersrente der Klägerin und nicht der erst 2019 erfolgte Anfall der österreichischen Hinterbliebenenpension als anspruchsbegründendes Ereignis im Sinn des Art 28 Abs 2 VO 883/2004 zu qualifizieren.

[14] 3.3 Davon geht offenbar auch die Beklagte in der Revision aus, wenn sie ausführt, dass die Klägerin ihren Anspruch gemäß Art 28 Abs 2 VO 883/2004 verloren habe, weil ihr in Österreich im Jahr 2019 eine Hinterbliebenenpension zuerkannt wurde. Dazu hat aber bereits das Berufungsgericht auf Art 28 Abs 4 VO 883/2004 verwiesen, wonach Abs 2 so lange gilt, bis der Grenzgänger in Rente wieder eine Beschäftigung oder selbständige Tätigkeit ausübt. Er gilt daher für die Klägerin, die weder eine Beschäftigung noch eine selbständige Erwerbstätigkeit ausübt, weiterhin. Diese ebenfalls auf dem Wortlaut der Bestimmung beruhende rechtliche Beurteilung wird von der Revisionswerberin nicht in Frage gestellt. Der Oberste Gerichtshof sieht daher keinen Anlass, ihrer Anregung auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens beim Gerichtshof der Europäischen Union zu entsprechen .

[15] 4. Auch die rechtliche Beurteilung des Berufungsgerichts, dass die Klägerin im vorliegenden Fall ein ausreichendes Feststellungsinteresse geltend gemacht habe, zieht die Revisionswerberin nicht in Zweifel.

[16] Mangels Aufzeigens einer Rechtsfrage von erheblicher Bedeutung im Sinn des § 502 Abs 1 ZPO ist die Revision daher zurückzuweisen.

[17] Die Kostenentscheidung beruht auf § 77 Abs 1 Z 2 lit a ASGG.

Rechtssätze
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