W251 2129991-2/10E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Dr. Angelika GLATZ als Einzelrichterin über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, vertreten durch die Bundesagentur für Betreuungs- und Unterstützungsleistungen GmbH, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 06.06.2025, Zl. 1074811903-250173052, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung, zu Recht erkannt:
A)
Die Beschwerde wird abgewiesen.
B)
Die Revision ist nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
1. Der Beschwerdeführer reiste als Kind mit seiner Familie von Afghanistan nach Pakistan. Im Mai 2015 reiste er nach Europa weiter. Er stellte am 24.06.2015 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen gab er in der Erstbefragung im Wesentlichen an, dass in seiner Heimatprovinz Uruzgan Angehörige der Hazara von den Taliban getötet werden.
Bei der Einvernahme vor dem Bundesamt am 13.06.2016 gab der Beschwerdeführer zu seinen Fluchtgründen im Wesentlichen an, dass in Pakistan die Schiiten getötet werden. Zudem sei die Sicherheitslage dort schlecht gewesen.
Der Antrag des Beschwerdeführers auf internationalen Schutz wurde vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge: Bundesamt) zur Gänze abgewiesen. Gegen diesen Bescheid erhob der Beschwerdeführer Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht. In der Verhandlung vom 22.03.2017 zog der Beschwerdeführer seine Beschwerde zu Spruchpunkt I (betreffend die Nicht-Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten) zurück. Mit Erkenntnis vom 23.03.2017 wurde dem Beschwerdeführer der Status eines subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Afghanistan zuerkannt.
2. Der Beschwerdeführer stellte am 03.02.2025 den hier gegenständlichen Folgeantrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Asylgründen gab er im Wesentlichen an, dass er als subsidiär Schutzberechtigter befürchte, dass sein Aufenthalt in Österreich nicht mehr verlängert werde. In Afghanistan seien die Taliban an der Macht und diese behandeln die Menschen und vor allem die Schiiten sehr schlecht. Aus diesem Grund möchte er nicht mehr nach Afghanistan zurück und stelle den Folgeantrag auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten.
3. In der Einvernahme vor dem Bundesamt am 28.04.2025 gab der Beschwerdeführer zu seinen Asylgründen im Wesentlichen an, dass seine Familie aus Pakistan nach Afghanistan zurückgeschoben werde. Er gehe in Österreich einer Beschäftigung nach und habe hier ein geregeltes Leben. Er wolle nicht nach Pakistan oder nach Afghanistan zurückgeschoben werden. Er habe hier jedoch nur eine befristete Aufenthaltsberechtigung und diese müsse alle zwei Jahre verlängert werden. Daher habe er sich entschlossen nochmal um Asyl anzusuchen.
Der Folgeantrag des Beschwerdeführers auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten wurde mit Bescheid des Bundesamtes vom 06.06.2025 abgewiesen. Das Bundesamt führte im Wesentlichen aus, dass eine drohende Abschiebung seiner Familie von Pakistan nach Afghanistan keinen Asylgrund im Verfahren des Beschwerdeführers darstelle. Auch der Wunsch nach einer längerfristigen Aufenthaltsberechtigung stelle keinen Asylgrund dar. Es liegen in der Person des Beschwerdeführers auch sonst keine Asylgründe vor.
4. Der Beschwerdeführer erhob fristgerecht Beschwerde. Er brachte im Wesentlichen vor, dass er im Alter von einem Jahr Afghanistan verlassen habe. Er habe sich seither nicht mehr in Afghanistan aufgehalten. Er würde bei einer Rückkehr von den Taliban aufgrund seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara und seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten verfolgt werden. Er habe sich von der afghanischen Kultur und Lebensweise immer mehr distanziert. Sein Dari-Dialekt unterschiede sich von dem Dialekt der in Afghanistan gesprochen werde. Er würde daher bei einer Rückkehr nach Afghanistan von den Taliban aufgrund seiner westlichen Lebensweise, seiner Religionszugehörigkeit zu den Schiiten, seiner Volksgruppenzugehörigkeit zu den Hazara sowie seinem Aufenthalt in Europa asylrelevant verfolgt. Zudem sei sein Vater ein Gegner der Taliban gewesen und er werde auch aus diesem Grund in Afghanistan verfolgt. Er werde zudem auch vom ISKP aufgrund seiner Zugehörigkeit zu den schiitischen Hazara asylrelevant verfolgt.
5. Das Bundesverwaltungsgericht führte am 13.10.2025 eine mündliche Verhandlung durch, in der der Beschwerdeführer als Partei einvernommen wurde.
Der Beschwerdeführer gab zu seinen Fluchtgründen in der mündlichen Verhandlung im Wesentlichen an, dass er in Afghanistan niemanden mehr habe. Zudem gehöre er den Schiiten an und deshalb sei sein Leben dort in Gefahr. Dies seien alle seine Asylgründe.
Mit dem in der Verhandlung mündlich verkündeten Erkenntnis vom 13.10.2025 wurde die Beschwerde des Beschwerdeführers abgewiesen.
6. Der Beschwerdeführer beantragte fristgerecht die schriftliche Ausfertigung des mündlich verkündeten Erkenntnisses.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1 Der Beschwerdeführer führt in Österreich den Namen XXXX und das Geburtsdatum XXXX . Er ist afghanischer Staatsangehöriger und gehört der Volksgruppe der Hazara an. Er ist schiitischer Moslem. Seine Muttersprache ist Dari. Er spricht nur wenig Deutsch. Er hat einen Deutschkurs auf dem Niveau A1 besucht, jedoch hat er Schwierigkeiten beim Lernen. Er hat noch keine Deutschprüfung gemacht (Verhandlungsprotokoll vom 13.10.2025 = VP S. 6f, S. 8).
Der Beschwerdeführer ist nicht verheiratet, er hat auch keine Kinder (VP S. 6).
Der Beschwerdeführer wurde in Afghanistan in der Provinz Uruzgan geboren (VP S. 6). Im Alter von zwei bis drei Jahren ist der Beschwerdeführer mit seiner Familie nach Pakistan ausgereist. Seitdem hat er sich auch nicht mehr in Afghanistan aufgehalten (VP S. 7). Der Beschwerdeführer wuchs in Pakistan auf. Sein Vater hat als Elektriker gearbeitet, seine Mutter als Reinigungskraft. Seine Eltern sowie seine Schwester und sein Bruder leben illegal in Pakistan (VP S. 7f). Dem Beschwerdeführer ist nicht bekannt, ob seine Eltern Geschwister haben und ob er noch Verwandte in Afghanistan hat (VP S. 7).
Der Beschwerdeführer ist nach den afghanischen Gepflogenheiten und der afghanischen Kultur sozialisiert, er ist mit den afghanischen Gepflogenheiten vertraut.
Der Beschwerdeführer ist gesund (VP S. 10).
1.2. Der Beschwerdeführer arbeitet in Österreich in der Gastronomie Vollzeit als Koch. Diese Arbeit möchte er auch weiterhin ausüben, wobei er gerne seine Arbeitszeit reduzieren würde, um einen Führerschein zu machen und um ins Fitnessstudio gehen zu können (VP S. 8f).
In seiner Freizeit geht er spazieren. Er putzt seine Wohnung und trifft sich mit Freunden im Park und zum Fußballspielen. Er ist in Österreich mit anderen Afghanen, Ungarn und Türken befreundet (VP S. 9).
1.3. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen. Er wird auch nicht verdächtigt die ehemalige Regierung unterstützt oder mit dieser zusammengearbeitet zu haben.
1.4. Bei einer Rückkehr nach Afghanistan droht dem Beschwerdeführer individuell und konkret weder Lebensgefahr noch ein Eingriff in seine körperliche Integrität durch Mitglieder der Taliban oder durch andere Personen.
Dem Beschwerdeführer droht bei einer Rückkehr nach Afghanistan wegen seiner Zugehörigkeit zur Religionsgemeinschaft der Schiiten oder zur Volksgruppe der Hazara konkret und individuell weder physische noch psychische Gewalt.
Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist und die ihn in Afghanistan exponieren würde.
Der Beschwerdeführer hat auch keine gegen die Regierung der Taliban gerichtete Einstellung. Er lehnt diese auch nicht ab. Ihm wird bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht unterstellt, eine gegen die Taliban oder die Scharia gerichtete Einstellung zu haben.
1.5. Feststellungen zur Lage im Herkunftsstaat
Die Länderfeststellungen zur Lage in Afghanistan basieren auf nachstehenden Quellen:
- Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Afghanistan vom 31.01.2025 (LIB)
1.5.1. Allgemeines:
Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Dort leben ca. 35-40 Millionen Menschen. Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban. (LIB, Kap. 3f)
1.5.2. Politische Lage:
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert. Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt. Sie bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“. Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt, dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent. (LIB, Kap. 4)
1.5.3. Sicherheitslage:
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen. Es gab beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung. Es gab jedoch immer noch ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs).
Es gab zwischen 25.11.2023 und 25.11.2024 in Afghanistan insgesamt 857 sicherheitsrelevante Vorfälle (390 Kämpfe, 96 Vorfälle mit Explosionen und ferngesteuerter Gewalt, 371 Vorfälle mit Gewalt gegen Zivilisten und 396 zivile Opfer – bei einer Gesamtbevölkerung von 35-40 Millionen Menschen). Die meisten zivilen Opfer gab es in Nord Afghanistan in der Provinz Badakhshan mit 168 zivilen Opfern. Die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle gab es in Ost Afghanistan (388 sicherheitsrelevante Vorfälle mit 100 zivilen Opfern – bei einer Gesamtbevölkerung von über 11,7 Millionen Einwohnern), wobei die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle auf die Provinz Kabul entfallen (113 Kämpfe, 14 Vorfälle mit Explosionen oder ferngesteuerter Gewalt und 97 Vorfälle mit Gewalt gegen Zivilisten, in denen es 100 zivile Opfer gab – bei einer Gesamtbevölkerung von über 5,7 Millionen Menschen).
Derzeit entstehen die meisten sicherheitsrelevanten Vorfälle in Zusammenhang mit dem Verbot des Anbaus von Betäubungsmitteln, durch Kriminalität und organisierte Kriminalität, durch Angriffe der bewaffneten Opposition und durch Angriffe durch den ISKP.
Aufgrund der Bemühungen der Taliban-Behörden, das Verbot des Mohnanbaus durchzusetzen, kam es im Jahr 2024 vermehrt zu Zwischenfällen in Zusammenhang mit dem Anbau von Betäubungsmitteln und somit auch zu einem Anstieg an sicherheitsrelevanten Vorfällen.
Organisierte Verbrechergruppen sind in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Es werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion.
Die bewaffnete Opposition in Afghanistan stellt keine nennenswerte Herausforderung für die territoriale Kontrolle der Taliban dar. Die Nationale Widerstandsfront und die Afghanische Freiheitsfront gehen mit einer „Hit-and-Run“-Taktik gegen die Taliban-Sicherheitskräfte vor, greifen deren Posten und Fahrzeuge an und verübten Hinterhalte und gezielte Tötungen. Es gibt keine Region in Afghanistan, in welcher oppositionelle Gruppen offen die Kontrolle haben. In Provinzen wie Panjsher, Baghlan, Badakhshan, Kunduz und Takhar, in denen es in der Vergangenheit zu Kämpfen zwischen den Taliban und verschiedenen Gruppierungen gekommen ist, verlief der Verkehr normal und es gab keine Zwischenfälle.
Die sicherheitsrelevanten Vorfälle betreffend den ISKP gingen seit August 2021 zurück und stiegen 2024 wieder etwas an. Die Taliban führen auch weiterhin Operationen gegen den ISKP durch, unter anderem in Nangarhar. Der ISKP hat zumindest die Möglichkeit operativer Aktivitäten, wobei die Taliban immer effizienter bei der Aushebung von ISKP-Zellen werden. Dies zeigt sich in einer entspannteren Sicherheitslage in beispielsweise Kabul und Herat. Weder der ISKP noch andere Gruppierungen sind aktuell wirklich ein Problem für die Taliban. (LIB, Kap. 5)
In der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Uruzgan – mit ca. 460.000 Einwohnern), gab es vom 25.11.2023 bis 25.11.2024 insgesamt einen Kampf. In einem Fall kam es auch zu Gewalt gegen Zivilisten, jedoch zu keinen zivilen Opfern. (LIB Kap. 5.2.)
1.5.4. Erreichbarkeit, Straßen, Flughäfen und Grenzen:
In Afghanistan sind Straßen die wichtigsten Transportwege. Die 2.300 km lange Ring-Road verbindet die vier größten Städte Afghanistans. Alle Provinzen Afghanistans sind mit Bussen oder Taxis erreichbar. Es gibt Dutzende privater Transportunternehmen, die auf den Hauptstrecken, wie z. B. Kabul-Herat, Kabul-Mazar-e Sharif und Kabul-Kandahar, tätig sind. Diese Busse verkehren in der Regel täglich oder mehrmals pro Woche, und viele Unternehmen bieten ihre Dienste auf diesen Strecken an.
Afghanistan verfügt über mehrere Flughäfen. Die Flughäfen Bost, Chaghcharan, Farah, Jalalabad, Khost, Tarinkot und Zaranj bieten Inlandsflüge innerhalb Afghanistans an. Die internationalen Flughäfen in Kabul, Mazar-e Sharif, Kandarhar und Herat sind auch mit internationalen Flügen (z. B. über die Vereinigten Arabischen Emirate, Saudi Arabien, die Türkei, Russland, Pakistan und Indien) erreichbar.
An den Straßen und in den Grenzregionen Afghanistans sowie am Flughafen Kabul gibt es weiterhin Kontrollpunkte der Taliban. Die Taliban überprüfen die Namen und Gesichter von Personen an den Kontrollpunkten anhand einer „Liste mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger“. Meistens handelt es sich um Routinekontrollen, es kann jedoch auch zu Durchsuchungen kommen. Die Kontrollpunkte sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich häufig entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu großen Städten. Darüber hinaus werden auch bei Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle und VIP-Bewegungen eingerichtet. Im Vergleich zur Zeit vor der Machtübernahme der Taliban wurden hunderte Checkpoints an Straßen und Autobahnen abgebaut, weil die Taliban nicht genügend Personal haben, um sie aufrechtzuerhalten, und weil sie in den ländlichen Dörfern, in denen ihre Kämpfer während des jahrzehntelangen Aufstands stationiert waren, keine größere Bedrohung sehen. (LIB, Kap. 3.7)
1.5.5. Verfolgungspraxis der Taliban:
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen, waren die Taliban nach Machtübernahme auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung. Die Taliban gingen von Tür zu Tür und haben auch Angehörige der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung bedroht. Die Taliban erstellen „schwarze Listen“, wobei Personen, die sich auf der Liste befinden in großer Gefahr sind. Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden, unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben. Die Taliban kontrollieren auch Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Berufe, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban haben solche Daten bereits benutzt, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen und Gegner auch zu eliminieren bzw. verschwinden zu lassen. Im Zuge von Abschiebungen aus dem Iran werden auch Daten von Rückkehrern vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben.
Taliban nutzen soziale Medien zu Propagandazwecken und um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren. Afghanen verüben seit der Machtübernahme durch die Taliban in sozialen Netzwerken Selbstzensur. Es gab bereits Verhaftungen von Personen, die sich in sozialen Netzwerken kritisch über die Taliban geäußert haben. Über soziale Netzwerke können Taliban auch Personen identifizieren, die mit westlichen Gruppen oder westlichen Hilfsagenturen zusammengearbeitet haben. Die Taliban bauen in afghanischen Städten ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz auf. Es wird befürchtet, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen, einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen. (LIB, Kap. 5.2)
1.5.6. Zentrale Akteure:
Taliban: Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam. Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“, den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten. Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln. (LIB, Kap. 6.1)
Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP): Der IS in Afghanistan bezeichnet sich selbst als Khorasan-Zweig des IS (ISKP). Der ISKP ist aktuell die schwerwiegendste terroristische Bedrohung in Afghanistan und der gesamten Region. Der ISKP hat ca. 4.000 bis 6.000 Mitglieder, einschließlich Familienangehöriger. Das „Kerngebiet“ des ISKP bleibt Afghanistan und Pakistan. Obwohl der ISKP zunächst als ein von Pakistan dominiertes Netzwerk auftrat, konzentrierte er sich bald auf Afghanistan. Dort hat er seine Strategie von der Kontrolle des Territoriums auf die Führung eines urbanen Krieges umgestellt. Er stellte eine ernsthafte Sicherheitsbedrohung für die frühere afghanische Regierung dar und versucht nun, die Regierungsbemühungen der Taliban zu stören. Die Kernzellen des ISKP in Afghanistan befinden sich vor allem in den östlichen Provinzen Kunar, Nangarhar und Nuristan in Afghanistan, wobei eine große Zelle in Kabul und Umgebung aktiv ist. Kleinere Gruppen wurden in den nördlichen und nordöstlichen Provinzen Badakhshan, Faryab, Jawzjan, Kunduz, Takhar und Balkh entdeckt. Da Balkh eine der wirtschaftlich am weitesten entwickelten Provinzen im Norden ist, ist sie für den ISKP nach wie vor von vorrangigem Interesse in Hinblick auf die Erzielung von Einnahmen. Die Gruppe geht bei ihren Anschlägen gegen die Taliban und internationale Ziele immer raffinierter vor und konzentriert sich auf die Durchführung einer Strategie mit öffentlichkeitswirksamen Anschlägen, um die Fähigkeit der Taliban zur Gewährleistung der Sicherheit zu untergraben. Insgesamt zeigten die Angriffe des ISKP starke operative Fähigkeiten in den Bereichen Aufklärung, Koordination, Kommunikation, Planung und Ausführung. Darüber hinaus haben die Anschläge gegen hochrangige Taliban-Persönlichkeiten in den Provinzen Balkh, Badakhshan und Baghlan die Moral des ISKP gestärkt und die Rekrutierung gefördert. Die Gruppe verübte auch weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara. (LIB, Kap. 6.3)
1.5.7. Rechtsschutz und Justizwesen:
Unter der vorherigen Regierung beruhte die afghanische Rechtsprechung auf drei parallelen und sich überschneidenden Rechtssystemen oder Rechtsquellen: dem formellen Gesetzesrecht, dem Stammesgewohnheitsrecht und der Scharia. Informelle Rechtssysteme zur Schlichtung von Streitigkeiten waren weit verbreitet, insbesondere in ländlichen Gebieten. Dies ist nach wie vor der Fall, auch wenn die Taliban seit ihrer Machtübernahme versucht haben, einige lokale Streitbeilegungspraktiken zu kontrollieren.
Nach 23 Jahren Krieg (1978-2001) und dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 konnte Afghanistan 2004 eine neue Verfassung verkünden, die sowohl islamische als auch modern-progressive Werte enthält. Die juristischen und politikwissenschaftlichen Fakultäten sowie die Scharia waren zwei Institutionen, die zur Ausbildung des Justizpersonals beitrugen, indem sie Hunderte von jungen Männern und Frauen ausbildeten, die später als Richter, Staatsanwälte und Rechtsanwälte tätig waren. In den vergangenen zwei Jahrzehnten hat die internationale Gemeinschaft zahlreiche Entwicklungsprogramme durchgeführt, die auf den Wiederaufbau des afghanischen Rechtssystems und den Ausbau der Kapazitäten des Personals der Justizbehörden abzielen. (LIB, Kap. 7)
1.5.8. Sicherheitsbehörden:
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Die Armee verfügt mit Stand März 2023 über 150.000 Taliban-Kämpfer und soll 2024 auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt wird eine 200.000 Mann starke Armee. Der Geheimdienst, ein Nachrichtendienst, der früher als „National Directorate of Security“ (NDS) bekannt war, wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist zumindest in Kabul teilweise erfolgt.
Es zeichnet sich ab, dass die Taliban, mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sind fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt), von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden und die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte ist begrenzt. Bei den rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräften handelt es sich im Allgemeinen um Spezialisten. Die Taliban verfügen über keine funktionierende Luftwaffe, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Die Taliban müssten in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. (LIB, Kap. 8)
1.5.9. Folter und unmenschliche Behandlung:
Es kommt durch die Taliban zu Folter und Misshandlungen von ehemaligen Sicherheitskräften bzw. ehemaligen Regierungsbeamten sowie zu Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende, gegen Frauenrechtsaktivisten und auch in Gefängnissen. Es kam beispielsweise auch zu kollektiven Strafen gegen Bewohner der Provinz Panjsher, darunter Folter und andere Misshandlungen. Der oberste Taliban-Führer begrüßte die Einführung von Scharia-Gerichten und Scharia-Praktiken, einschließlich Qisas (z. B. Auspeitschungen oder Hinrichtungen), die die Öffentlichkeit mit eigenen Augen sieht. Es kam zu öffentlichen Auspeitschungen durch die Taliban in mehreren Provinzen, darunter Zabul, Maidan Wardak, Kabul, Kandahar und Helmand. (LIB, Kap. 9)
1.5.10. Korruption:
Mit einer Bewertung von 20 Punkten (von 100 möglichen Punkten – 0 = highly corrupt und 100 = very clean), belegt Afghanistan auf dem Korruptionswahrnehmungsindex für 2023 von Transparency International von 180 untersuchten Ländern den 162. Platz, sohin eine Verschlechterung um zwölf Ränge im Vergleich zum Jahr 2022. (LIB, Kap. 10)
1.5.11. NGOs und Menschenrechtsaktivisten:
Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert. Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen. Es gibt Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord. (LIB, Kap. 11)
1.5.12. Wehrdienst und Zwangsrekrutierung:
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen.
Es sind keine Fälle von Zwangsrekrutierung bekannt. In einer Wirtschaft ohne andere Beschäftigungsmöglichkeiten ist es sehr beliebt, Teil der Taliban-Sicherheitsstruktur zu sein, sodass kein Zwang erforderlich ist. Die Taliban verfügen über genügend Männer und viele sind bereit, auf freiwilliger Basis zu dienen, auch ohne Bezahlung. (LIB, Kap. 12)
1.5.13. Allgemeine Menschenrechtslage:
Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt. Es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat.
Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt.
Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln. Dennoch kommt es zu groben Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021, darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Hinrichtungen. Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten und Menschenrechtsaktivisten. Es kommt auch zu gezielten Tötungen sowie zu Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte. Es kommt zu Rache und Willkürakten im familiären Kontext – also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Taliban-Vertreter weisen den Vorwurf von systematischer Gewalt jedoch zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt. Im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 wurde über 3.329 Menschenrechtsverletzungen berichtet, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Im selben Zeitraum kam es auch zu Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder.
Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition und zu Todesopfern bei Protesten. Die Taliban gingen im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr haben sich Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlässe der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt – offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren. (LIB, Kap. 13)
1.5.14. Meinungs- und Pressefreiheit:
Die Taliban haben zwar wiederholt Presse- und Meinungsfreiheit in allgemeiner Form zugesichert, jedoch hat sich die Situation der Medienlandschaft seit dem 15.8.2021 drastisch verschlechtert. Bis Dezember 2021 haben insgesamt 43 % der afghanischen Medienunternehmen ihren Betrieb eingestellt, auch aufgrund wirtschaftlicher Schwierigkeiten. 6.400 Medienschaffende hatten ihre Anstellung verloren, was vor allem Frauen betraf. Etablierte Journalisten sind zu einem großen Teil ins Ausland gegangen und berichten aus dem Exil oder halten sich versteckt. Ankündigungen der Taliban-Regierung, das bisherige Mediengesetz umzusetzen und eine Beschwerdekommission einzurichten, ist das Informations- und Kulturministerium nicht nachgekommen.
Mancherorts müssen Medienschaffende vor Beginn ihrer Recherchen eine Erlaubnis bei den lokalen Behörden einholen. In mindestens 14 von 34 Provinzen gibt es keine weiblichen Medienschaffenden mehr, in einigen Provinzen wurde es Journalistinnen verboten, bei ihrer Arbeit in Erscheinung zu treten. Gegenüber Menschenrechtsorganisationen berichten Journalistinnen und Journalisten über einen stark eingeschränkten Zugang zu Informationen.
Es kommt zu willkürlichen Verhaftungen von Medienschaffenden durch die Taliban. Die Taliban-Behörden geben selten Auskunft über die Gründe für solche Verhaftungen oder darüber, ob die Festgenommenen vor Gericht gestellt werden. Die Festgenommenen haben keinen Zugang zu Anwälten, und in den meisten Fällen dürfen Familienangehörige sie nicht besuchen. (LIB, Kap. 14)
1.5.15. Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit:
Die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit wurde seit der Machtübernahme der Taliban entgegen allgemeiner Zusicherungen deutlich eingeschränkt. Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen und es kam zum Einsatz von scharfer Munition und Wasserwerfern. Ab Mitte Jänner 2022 wurden sukzessive Vertreterinnen der vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen. Es kam zu Verhaftungen, Misshandlungen und sexuellen Übergriffen. Diese gewalttätigen Zwischenfälle und die Androhung von Verhaftungen sowie das Verschwinden in einem undurchsichtigen Gefängnissystem ohne ordnungsgemäße Verfahren haben zunächst dazu geführt, dass die großen Anti-Taliban-Proteste eingedämmt wurden, obwohl es weiterhin kleinere Versammlungen gab. Gegen Ende des Jahres 2022 kam es wieder vermehrt zu Protesten, nachdem die Taliban Frauen vom Universitätsbesuch ausgeschlossen und NGO-Mitarbeiterinnen verboten hatten, ihrer Arbeit nachzugehen. (LIB, Kap. 15)
1.5.16. Haftbedingungen:
Vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 wurden Gefängnisse, Jugendrehabilitationszentren und andere Haftanstalten von unterschiedlichen Organisationen verwaltet. Die Überbelegung der Gefängnisse war auch unter der ehemaligen Regierung ein ernstes und weitverbreitetes Problem. Nach der Übernahme Kabuls durch die Taliban haben sich viele Gefängnisse geleert, da fast alle Gefangenen entkamen oder freigelassen wurden. Trotz anhaltender Bemühungen, die Zahl der Inhaftierten zu reduzieren, hat die Gefängnispopulation 2024 mehr als 20.000 Personen erreicht. Neben ca. 11.000 bereits verurteilten Inhaftierten (davon sind ca. 2.000 Frauen und Kinder) warten etwa 12.000 Personen in Haftanstalten auf Gerichtsurteile.
Die Situation in den Gefängnissen in Afghanistan ist sehr schlecht. Es gibt keine landesweiten Haftstandards und keinen Mechanismus, um die Haftbedingungen anzufechten. Finanzielle Engpässe und die Einstellung der Finanzierung durch Geber wirken sich weiterhin auf die Fähigkeit der Gefängnisverwaltung aus, internationale Standards zu erfüllen, einschließlich der systematischen Bereitstellung angemessener Nahrungsmittel, Hygieneartikel, der beruflichen Aus- und Weiterbildung sowie der medizinischen Versorgung. (LIB, Kap. 16)
1.5.17. Todesstrafe:
Die Gesetze aus der Zeit vor der Machtergreifung der Taliban im August 2021 sehen die Verhängung der Todesstrafe in bestimmten Fällen vor. Zwischen 2001 und dem 15.8.2021 hat die Regierung der Islamischen Republik Afghanistan mindestens 72 Personen hingerichtet.
Seit ihrer Machtübernahme in Afghanistan am 15.8.2021 haben die Taliban de facto die Körperstrafen und die Todesstrafe eingeführt. Die Taliban haben hierzu bisher keine gesetzlichen Regelungen erlassen. Die von den Taliban angewandte Rechtspraxis sieht auf Grundlage ihrer Auslegung der Scharia die Todesstrafe vor. Ende November 2022 ordnete der oberste Führer der Taliban allerdings Richtern an, Strafen zu verhängen, die öffentliche Hinrichtungen, öffentliche Amputationen und Steinigungen umfassen können. Am 7.12.2022 fand die erste öffentliche Hinrichtung der Taliban in Afghanistan seit der Machtübernahme im August 2021 statt. Der Hingerichtete soll gestanden haben, vor fünf Jahren bei einem Raubüberfall einen Mann mit einem Messer getötet und dessen Motorrad und Telefon gestohlen zu haben. Im Juni 2023 wurde in Laghman ein Mann durch die Taliban hingerichtet, der des fünffachen Mordes für schuldig befunden wurde. Im Februar 2024 vollstreckten die Taliban eine Doppelhinrichtung in Ghazni, bei der Angehörige der Opfer von Messerstechereien vor Tausenden von Zuschauern mit Gewehren auf zwei verurteilte Männer schossen. (LIB, Kap. 17)
1.5.18. Religionsfreiheit:
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt. Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus. Es gibt keine zuverlässige Schätzung über die Gemeinschaft der Christen.
Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst. In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten. (LIB, Kap. 18)
Schiiten: Taliban schränken Angehörige der Schiiten in ihrer Religionsausübung ein. Die Taliban haben der schiitischen Gemeinschaft untersagt, während des islamischen Neujahrsmonats Muharram religiöse Fahnen und Banner zu hissen, die üblichen Erfrischungsstände aufzustellen, in Konvois zu fahren und in öffentlichen Verkehrsmitteln Klagegedichte zu rezitieren. Bereits im Jahr 2022 strich das Ministerium für Arbeit und Soziales der Taliban den Feiertag Aschura (Anm.: 10. Tag des Monats Muharram. An diesem Tag gedenken die Schiiten des Todes des für sie dritten Imams Husain in der Schlacht von Kerbela. Er gilt als Märtyrer, dessen Ermordung sowohl für Schiiten und Aleviten als auch generell in der Geschichte des Islam ein besonderes Ereignis bedeutet) aus dem afghanischen Kalender. Diese Entscheidung der Taliban wurde von afghanischen Bürgern, insbesondere schiitischen, scharf kritisiert. Trotz der weitverbreiteten Kritik und Verurteilung hat das Innenministerium der Taliban versichert, dass die Gruppe ernsthafte Maßnahmen ergriffen hat, um die Sicherheit bei den Trauerzeremonien und Paraden während des Muharram-Festes zu gewährleisten. Während einer Gedenkfeier zu Aschura im Jahr 2023 wurden in der Provinz Ghazni mehrere Menschen durch die Taliban getötet und weitere verletzt. Das Gouverneursbüro der Taliban in Ghazni hat in einer Erklärung die Aschura-Teilnehmer als „Randalierer“ bezeichnet und sie beschuldigt, die Sicherheit zu stören. (LIB, Kap. 18.1)
1.5.19. Apostasie, Blasphemie, Konversion:
Etwa 10.000 bis 12.000 Christen befinden sich in Afghanistan. Bereits vor der Machtübernahme der Taliban waren die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt. Die Taliban arbeiten daran, das Christentum vollständig aus dem Land zu entfernen und behaupten sogar, dass es in Afghanistan keine Christen gibt. Viele Christen sind in den Untergrund gegangen, aus Angst vor den Gerichten oder Hausdurchsuchungen der Taliban.
Der Übertritt vom Islam zu einer anderen Religion ist nach der vor Gericht geltenden Hanafi- Rechtsschule Apostasie. Proselytenmacherei, also der Versuch, Muslime zu einer anderen Religion zu bekehren, ist nach der hanafitischen Rechtsschule ebenfalls illegal. Diejenigen, die der Proselytenmacherei beschuldigt werden, werden mit der gleichen Strafe belegt wie diejenigen, die vom Islam konvertieren. Auch Blasphemie, zu der unter anderem islamfeindliche Schriften oder Äußerungen gehören können, ist nach der hanafitischen Schule ein Kapitalverbrechen. Angeklagte Gotteslästerer, einschließlich Apostaten, haben drei Tage Zeit, um zu widerrufen, sonst droht ihnen der Tod, obwohl es nach der Scharia kein klares Verfahren für einen Widerruf gibt. Einige Hadithe (Aussprüche oder Überlieferungen des Propheten Muhammad, die als Quelle des islamischen Rechts dienen) empfehlen Gespräche und Verhandlungen mit einem Abtrünnigen, um ihn zum Widerruf zu bewegen.
Vor der Machtübernahme durch die Taliban stand die öffentliche Meinung, wie sie in den sozialen Medien und anderswo zum Ausdruck kam, Konvertiten zum Christentum und der Idee christlicher Missionierung weiterhin feindselig gegen. Es gab Druck und Drohungen, vor allem vonseiten der Familie, dem Christentum abzuschwören und zum Islam zurückzukehren. Christen beteten aus Angst vor gesellschaftlicher Diskriminierung und Verfolgung weiterhin allein oder in kleinen Gemeinden, manchmal mit zehn oder weniger Personen, in Privathäusern. Die Daten, Zeiten und Orte dieser Gottesdienste wurden häufig geändert, um nicht entdeckt zu werden. Öffentliche christliche Kirchen gibt es weiterhin nicht. Nach der Machtübernahme durch die Taliban gab es Razzien der Taliban in den Häusern christlicher Konvertiten, selbst nachdem diese aus dem Land geflohen oder ausgezogen waren. Die Machtübernahme durch die Taliban ermutigt intolerante Verwandte, ihnen Gewalt anzudrohen und die Konvertiten zu verraten, falls sie das Christentum weiter praktizierten. (LIB, Kap. 18.2)
1.5.20. Ethnische Gruppen:
Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht, da keine nationale Volkszählung durchgeführt wird. Keine der ethnischen Gruppen des Landes stellt eine Mehrheit. Die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung sind Schätzungen und werden oft stark politisiert. In Afghanistan leben ca. 42 % Paschtunen, ca. 27-30 % Tadschiken, ca. 9-15 % Hazara sowie 9 % Usbeken und Kutschi-Nomaden.
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultieren weiterhin in Konflikten und Tötungen.
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. In der Taliban-Regierung gibt es nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara. Obwohl die Taliban wiederholt erklärt haben, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen, werden selbst auf lokaler Ebene Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren. (LIB, Kap. 19)
Hazara: Die Mehrheit der Hazara lebt im Hazarajat (oder „Land der Hazara“), das im zerklüfteten zentralen Bergland Afghanistans liegt und eine Fläche von etwa 50.000 Quadratkilometern umfasst. Die Region erstreckt sich auf die Provinzen Bamyan und Daikundi sowie mehrere angrenzende Distrikte in den Provinzen Ghazni, Uruzgan, (Maidan) Wardak, Parwan, Baghlan, Samangan und Sar-e Pul. Es gibt auch sunnitische Hazara-Gemeinschaften in den Provinzen Badghis, Ghor, Kunduz, Baghlan, Panjsher und anderen Gebieten im Nordosten Afghanistans. Hazara sind auch in mehreren städtischen Zentren Afghanistans vertreten, darunter Kabul, Mazar-e Sharif und Herat.
Die Taliban haben insbesondere den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara, die während des ersten Taliban-Regimes benachteiligt und teilweise verfolgt wurden, Zusicherungen gemacht. Dennoch kam es im Juli 2021 zur Tötung von neun Angehörigen der Hazara in der Provinz Ghazni, nachdem die Taliban dort die Kontrolle übernommen hatten. Im August 2021 wurden in der Provinz Daikundi 13 Angehörige der Hazara-Minderheit, darunter ein 17-jähriges Mädchen, von den Taliban getötet.
Angehörige der Taliban werden beschuldigt, Zwangsumsiedlungen in Daikundi, Uruzgan, Kandahar, Helmand und Balkh, vor allem unter Angehörigen der schiitischen Hazara, vorzunehmen, um das Land unter ihren eigenen Anhängern aufzuteilen. Die Diskriminierung von Hazara bei illegaler Landnahme beruht vor allem auf lokalen Konflikten, wird aber von der Taliban-Führung toleriert. Neben Enteignungen basieren Diskriminierungen auch auf besonderer Besteuerung, die von der Taliban-Regierung mindestens geduldet wird. Die Taliban haben Hazara in der Provinz Maidan Wardak befohlen, Kutschis eine Entschädigung für den Verlust ihres Viehs zu zahlen. Der Viehbestand der Kutschis ist vor einigen Jahren in dem Gebiet verschwunden. Auch hier wurde den Taliban Voreingenommenheit vorgeworfen. Auch sind Hazara weiterhin besonders gefährdet, Opfer von Anschlägen des Islamischen Staats Khorasan Provinz (ISKP) zu werden. Es kommt immer wieder zu Angriffen des ISKP, welche auf Hazara abgezielt sind, indem vor allem schiitische Moscheen, Wohnviertel oder Bildungseinrichtungen der Hazara sowie hochrangige Vertreter der Hazara betroffen sind. (LIB, Kap. 19.3)
1.5.21. Relevante Bevölkerungsgruppe - Mitglieder der ehemaligen Regierung / Streitkräfte / ausländischer Organisationen:
Die Taliban haben offiziell eine „Generalamnestie“ für Angehörige der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräfte angekündigt. Hochrangige Taliban haben die Taliban-Kämpfer wiederholt zur Einhaltung der Amnestie aufgefordert und angeordnet, von Vergeltungsmaßnahmen abzusehen. Außerhalb offizieller Kommunikation verbreiten jedoch Taliban-Offizielle bzw. ihnen nahestehende Kommentatoren, u. a. in den sozialen Medien, das Narrativ, dass ehemalige Regierungsmitglieder bzw. -angestellte, aber auch Personen, die mit ausländischen Regierungen gearbeitet haben, Verräter am Islam und an Afghanistan sind. Berichte über Verstöße gegen diese Amnestie wurden von den Taliban-Behörden zurückgewiesen und erklärt, dass diese Verstöße auf „persönlicher Feindschaft oder Rache“ beruhten und nicht auf einer offiziellen Anweisung zu solchen Handlungen.
Während zielgerichtete, groß angelegte Vergeltungsmaßnahmen gegen ehemalige Angehörige der Regierung oder Sicherheitskräfte, oder die Verfolgung bestimmter Bevölkerungsgruppen, bislang nicht nachgewiesen werden konnten, kam es allerdings zu Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte. Es kann nicht verifiziert werden, ob diese Angriffe politisch angeordnet wurden. Sie wurden aber durch die Taliban-Regierung trotz gegenteiliger Aussagen mindestens toleriert bzw. nicht juristisch verfolgt. Täter können davon ausgehen, dass auch persönlich motivierte Taten gegen diesen Personenkreis nicht geahndet werden.
Für den Zeitraum vom 16.8.2021-30.5.2023 verzeichnet ACLED über 400 Gewalttaten gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, von denen 290 von den Taliban verübt wurden. UNAMA dokumentiert für den Zeitraum 15.8.2021-30.6.2023 sogar mindestens 800 Menschenrechtsverletzungen gegen ehemalige Regierungs- und Sicherheitsbeamte, darunter außergerichtliche Tötungen, gewaltsames Verschwinden, willkürliche Verhaftungen und Inhaftierungen, Folter und Misshandlungen sowie Drohungen. Ehemalige Angehörige der afghanischen Nationalarmee sind am stärksten von Menschenrechtsverletzungen bedroht, gefolgt von der Polizei (sowohl der afghanischen Nationalpolizei (ANP) als auch der afghanischen Lokalpolizei (ALP)) und Beamten der National Directorate of Security (NDS). Die oben genannten Gruppen sind zwar in allen Provinzen gefährdet, doch scheint es in einigen Gegenden zu einer verstärkten gezielten Gewalt zu kommen. (LIB, Kap. 20.3)
1.5.22. Relevante Bevölkerungsgruppe - Personen denen vorgeworfen wird, von westlichen Werten beeinflusst zu sein:
Die Taliban haben das Ziel, die afghanische Gesellschaft zu „reinigen“ und „ausländischen“ Einfluss aus Afghanistan zu vertreiben. Die afghanische Gesellschaft soll von allem „gesäubert“ werden, was die Taliban als „westliche“ Werte ansehen, einschließlich Bildung für Mädchen, Beschäftigung und Bewegungsfreiheit für Frauen sowie Meinungs- und Versammlungsfreiheit.
Afghanen, die nach 2021 ausgereist sind, werden von den Taliban oft als „Verräter“ angesehen. Taliban kontrollieren Profile in den sozialen Medien. Familienangehörige von Ausgereisten können auch von Taliban-Beamten und Nachbarn schikaniert werden, unter anderem durch Vertreibungen und aggressive Verhöre.
Obwohl keine allgemeine Kleiderordnung für Männer erlassen wurde, wird Männern in einigen Gegenden geraten, Bärte nicht zu kürzen und keine westliche Kleidung zu tragen. Regierungsangestellten wurde angeordnet, sich einen Bart wachsen zu lassen und eine Kopfbedeckung zu tragen. Ein Taliban-Beamter rief dazu auf, die Krawatte nicht mehr zu tragen, da sie ein Symbol für das christliche Kreuz sei. Im Februar 2024 hielt ein hochrangiger Taliban Medienschaffende in Afghanistan dazu an, auf das Rasieren von Bärten und das Fotografieren zu verzichten. Er sagte weiter, dass der Bartwuchs im Islam obligatorisch sei und dass es eine große Sünde sei, ihn zu rasieren. Auch „dünne Kleidung“ wird als Widerspruch zur Scharia erachtet. Händler wurden aufgefordert, auf die Einfuhr solcher Kleidung zu verzichten.
Die Kleidervorschriften werden jedoch in den Provinzen unterschiedlich ausgelegt. In Kabul tragen Menschen in bestimmten Teilen der Stadt T-Shirts und westliche Kleidung mit US-Motiven, und es kann in Afghanistan praktisch auch alles gekauft werden, wenn man das Geld dazu hat. In Kabul-Stadt gibt es auch Fast-Food-Restaurants und Bodybuilding-Fitnessstudios.
Das Spielen von Musik ist in Afghanistan verboten. Taliban verbrennen öffentlich Musikinstrumente und gehen auch gegen Personen vor, die Musik in Privatfahrzeugen oder auf Telefonen abspielen. In einigen Lokalen in Kabul wird weiterhin Musik gespielt. In der Kernzone der Taliban in Kandahar sind die Taliban-Beamten strenger, das Spielen und Hören von Musik ist in der ganzen Stadt verboten. (LIB, Kap. 20.4)
1.5.23. Bewegungsfreiheit:
Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht.
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich. Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern zu fahnden. Es werden auch Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft. Taliban-Kräfte überprüfen die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von „Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger“. Meistens handelt es sich um Routinekontrollen, bei denen nur wenig kontrolliert wird. Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoffe aufzuspüren. Die Kontrollpunkte der Taliban sind über ganz Afghanistan verteilt. Sie befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. (LIB, Kap. 21)
1.5.24. IDPs und Flüchtlinge:
Jahrelange Konflikte, Naturkatastrophen und wirtschaftliche Schwierigkeiten haben im verarmten Afghanistan Millionen von Menschen zu Binnenvertriebenen gemacht. Binnenvertriebene, wie auch Rückkehrende aus dem Ausland, befinden sich in einer wirtschaftlichen Notlage und wenden negative Bewältigungsstrategien an (Einsparung von Lebensmitteln, Aufnahme von Schulden, Kinderarbeit oder -verkauf). 2023 gab es zwischen 3,25 und 3,3 Millionen Binnenvertriebene. Gründe für Vertreibung sind vor allem Konflikte und extrem wetterbedingte Ereignisse. (LIB, Kap. 22)
1.5.25. Grundversorgung und Wirtschaft:
Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage in Afghanistan durch die Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder massiv. Nach der Machtübernahme der Taliban waren große Teile der Bevölkerung zunehmend auf humanitäre Hilfe angewiesen.
Im Jahr 2024 benötigten etwa 23,7 Millionen Menschen (mehr als die Hälfte des Landes) humanitäre Hilfe aufgrund der Nachwirkungen von vierzig Jahren Krieg, der jüngsten politischen Umwälzungen und wirtschaftlicher Instabilität. Auch häufige Naturkatastrophen und der Klimawandel haben Auswirkungen auf die humanitäre Lage im Land. Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen.
Die Wirtschaft stabilisierte sich ab Mitte 2022 wieder und im Jahr 2023 gab es einige Anzeichen für eine leichte wirtschaftliche Verbesserung. In weiterer Folge sank die akute Ernährungsunsicherheit in der Bevölkerung zwischen April und Oktober 2023 von 40 % auf 29 %. Die Wirtschaft stagnierte in weiterer Folge jedoch und die sozioökonomische Situation in Afghanistan ist weiterhin durch Armut, Ernährungsunsicherheit und Arbeitslosigkeit gekennzeichnet. (LIB, Kap. 24)
1.5.26. Medizinische Versorgung:
Die drastische Kürzung der finanziellen und technischen Entwicklungshilfe für das öffentliche Gesundheitssystem Afghanistans seit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 hat das Gesundheitssystem des Landes schwer geschädigt. Der daraus resultierende Mangel an ausreichenden Gesundheitsdiensten betrifft Millionen von Afghanen. Aufgrund fehlender Mittel mussten Kliniken schließen. Es kam zu Engpässen bei Medikamenten und Ausrüstung. Während Antibiotika, Schmerzmittel und allgemeine Gesundheitsmedikamente noch eingeführt werden, sind spezifische Medikamente, z. B. jene zur Behandlung von Krebs, in Afghanistan nicht erhältlich. Menschen können auch nicht mehr so einfach wie früher in die Nachbarländer reisen, um sich behandeln zu lassen und Medikamente zu kaufen. Es gibt einen generellen Mangel an (vor allem weiblichen) Ärzten und viele sind unterqualifiziert bzw. praktizieren, ohne ihre Ausbildung abgeschlossen zu haben.
In den öffentlichen Krankenhäusern, die unter direkter Aufsicht der afghanischen Regierung stehen, sind seit dem Regimewechsel sowohl die Qualität der Versorgung als auch die Zahl der Mitarbeiter erheblich zurückgegangen. (LIB, Kap. 25)
1.5.27. Rückkehr:
Es gibt wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan. Nach der Machtübernahme der Taliban kam es zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger. Es kehrten auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte. Es gibt auch freiwillige Rückkehrer aus den USA.
Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier.
Am 30.8.2024 wurden erstmals seit der Machtübernahme der Taliban afghanische Staatsangehörige aus Deutschland nach Afghanistan abgeschoben. Nach Angaben der deutschen Bundesregierung handelte es sich dabei um „afghanische Straftäter, afghanische Staatsangehörige, die sämtlich verurteilte Straftäter waren, die kein Bleiberecht in Deutschland hatten und gegen die Ausweisungsverfügungen vorlagen“. Die insgesamt 28 abgeschobenen Afghanen wurden nach ihrer Rückkehr nach Kabul durch die Taliban angehalten und ins Gefängnis gebracht. Kurz darauf wurden sie nach Auskunft der Taliban wieder auf freien Fuß gesetzt, nach einer schriftlichen Zusicherung, dass sie keine Verbrechen in Afghanistan begehen würden. Die Taliban sind bereit, auch in Zukunft abgeschobene Afghanen aus Deutschland aufzunehmen.
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern.
Taliban behandeln zurückkehrende Personen im Rahmen ihrer allgemeinen Praxis im Umgang mit der Zivilbevölkerung. Die Bedrohung der persönlichen Sicherheit ist im Einzelfall das zentrale Hindernis für zurückkehrende Personen. Auch vor dem Hintergrund der faktischen Kontrolle der Taliban über alle Landesteile lässt sich die Frage einer möglichen Gefährdung im Einzelfall nicht auf einzelne Landesteile, etwaige Sicherheitsrisiken durch Terrorismus oder lokale Kampfhandlungen begrenzen. Entscheidend für die individuelle Sicherheit der Personen bleibt die Frage, wie die Person von der Taliban-Regierung und dritten Akteuren wahrgenommen wird.
Im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende könnten, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten, z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen, werden. Auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt werden würde. (LIB, Kap. 26)
2. Beweiswürdigung:
2.1. Beweis wurde erhoben durch Einsicht in den Verwaltungsakt sowie in den Gerichtsakt, durch Einsicht in die Unterlagen aus dem ersten Asylverfahren des Beschwerdeführers, durch Einvernahme des Beschwerdeführers in der mündlichen Verhandlung sowie durch Einsichtnahme in die im Verfahren vorgelegten Urkunden und Länderberichte.
Die Feststellungen basieren auf den in den Klammern angeführten Beweismitteln.
2.2. Die Feststellungen zur Identität des Beschwerdeführers ergeben sich aus seinen dahingehend übereinstimmenden Angaben vor den Organen des öffentlichen Sicherheitsdienstes, vor der belangten Behörde, in der Beschwerde und vor dem Bundesverwaltungsgericht. Die getroffenen Feststellungen zum Namen und zum Geburtsdatum des Beschwerdeführers gelten ausschließlich zur Identifizierung der Person des Beschwerdeführers im Asylverfahren in Österreich.
Die Feststellungen zur Staatsangehörigkeit des Beschwerdeführers, zu seiner Volksgruppen- und Religionszugehörigkeit, seiner Muttersprache, seinem Lebenslauf, seinem Aufwachsen sowie seine familiäre Situation in Pakistan gründen sich auf seinen diesbezüglich schlüssigen und stringenten Angaben. Das Bundesverwaltungsgericht hat keine Veranlassung, an diesen im gesamten Verfahren gleich gebliebenen Aussagen des Beschwerdeführers zu zweifeln.
Die Feststellung zur Sozialisierung des Beschwerdeführers nach den afghanischen Gepflogenheiten, ergibt sich daraus, dass er mit seiner afghanischen Familie aufgewachsen ist. Er wurde durch seine Familie, die sich in Pakistan überwiegend auch versteckt hält, nach der afghanischen Kultur sozialisiert.
2.3. Die Feststellungen zu seinem Leben in Österreich ergeben sich aus seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung.
Die Feststellungen zum Gesundheitszustand gründen auf den diesbezüglich glaubhaften Aussagen des Beschwerdeführers beim Bundesamt und in der mündlichen Verhandlung sowie auf dem Umstand, dass im Verfahren nichts Gegenteiliges hervorgekommen ist.
2.4. Der Beschwerdeführer zog im ersten Asylverfahren seine Beschwerde gegen Spruchpunkt I, sohin betreffend die Nicht-Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten, in der Verhandlung vor dem Bundesverwaltungsgericht zurück. Es ist daher schon aus diesem Rund nicht erkennbar, dass der Beschwerdeführer oder dessen Familienmitgliedern Afghanistan aufgrund von Eingriffen in ihre körperliche Integrität oder wegen Lebensgefahr verlassen hätten.
Der Beschwerdeführer gab zwar in der gegenständlichen Beschwerde an, dass sein Vater ein Gegner der Taliban gewesen wäre (AS 99). Derartige Angaben machte er in der mündlichen Verhandlung am 13.10.2025 jedoch nicht. Würde jedoch aufgrund des Vaters und der Familienzugehörigkeit eine Feindschaft zu den Taliban bestehen, wäre anzunehmen, dass der Beschwerdeführer dies in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen jedenfalls angegeben hätte.
Es ist daher nicht glaubhaft, dass der Beschwerdeführer oder seine Familie jemals in Afghanistan von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht worden wären. Das Gericht geht daher davon aus, dass der Beschwerdeführer Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen hat.
Da der Beschwerdeführer seit seinem zweiten bzw. dritten Lebensjahr nicht mehr in Afghanistan gelebt hat, wird er auch nicht verdächtigt die ehemalige Regierung unterstützt oder mit dieser zusammengearbeitet zu haben. Solche Behauptungen waren auch seinen Angaben in der mündlichen Verhandlung nicht zu entnehmen.
2.5. Eine konkrete, individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Religionsgemeinschaft der Schiiten liegt ebenfalls nicht vor.
Den oben zitierten Länderberichten ist u.a. zwar zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt sind. In einer Gesamtschau der vorliegenden Länderberichte erreicht diese Gefährdung jedoch nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Volksgruppe der Hazara oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan für gegeben zu erachten.
2.6. Es sind im gesamten Verfahren auch keine Umstände hervorgekommen, die darauf schließen ließen, dass der Beschwerdeführer in Österreich bereits in einem solchen Maße eine ("westliche") Lebensweise führt, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.
Der Beschwerdeführer arbeitet in Österreich als Koch in der Gastronomie. In seiner Freizeit geht er spazieren. Er putzt seine Wohnung und trifft sich mit Freunden im Park und zum Fußballspielen. Er ist mit anderen Afghanen, Ungarn und Türken befreundet. Der Beschwerdeführer würde gerne seine Arbeitszeit reduzieren um einen Führerschein zu machen und um ins Fitnessstudio gehen zu können.
Eine besondere Ausübung der Grundrechte und insbesondere eine Verinnerlichung einer Lebensweise, die einen deutlichen und nachhaltigen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellen würde, liegt beim Beschwerdeführer nicht vor.
Der Beschwerdeführer machte in der mündlichen Verhandlung zu seinen Fluchtgründen insbesondere nachstehende Angaben:
R: Sie haben den Status eines subsidiär Schutzberechtigten. Nennen Sie jetzt bitte abschließend und möglichst umfassend und detailliert alle Gründe, warum Sie einen Folgeantrag auf Asyl gestellt haben bzw. warum Sie nicht mehr in Ihren Herkunftsstaat zurückkehren können. Sie haben nun ausreichend Zeit Ihre Beschwerdegründe detailliert darzulegen (freie Erzählung):
BP: Ich möchte nicht zurückkehren. Ich habe in Afghanistan niemanden und zweitens ist mein Leben dort in Gefahr, weil ich schiitisch bin. Das sind alle meine Gründe.
R: Hätten Sie sonst noch Probleme bei einer Rückkehr nach Afghanistan?
BP: Das Problem ist, dass ich niemanden habe. Wo soll ich hingehen?
R: Möchten Sie noch etwas zu Ihrem Asylverfahren angeben, dass Sie bisher noch nicht angeben konnten oder haben Sie heute alles angeben können?
BP: Das ist alles.
(…)
BFV: Wenn Sie hypothetisch zurückkehren müssen, was würde Ihnen in Afghanistan passieren?
BP: Ich werde geschlagen.
BFV: Geschlagen?
BP: Ja, weil ich schiitische Hazara bin.
BFV: Könnte Ihnen sonst noch etwas drohen, wenn Sie jetzt zurückkehren müssten?
BP: Ich habe dort niemanden, wo soll ich hingehen.“ (VP S. 10f)
Bereits aus diesen Angaben zeigt sich, dass der Beschwerdeführer, trotz mehrfacher Nachfragen, eine Verfolgungsgefahr aufgrund seiner in Österreich ausgeübten Lebensweise tatsächlich auch nicht als Rückkehrhindernis oder als Asylgrund behauptet hat. Auch aus diesem Grund ist es dem Beschwerdeführer nicht gelungen eine Verfolgung aufgrund seiner in Österreich ausgeübten Lebensweise, wegen seiner Wertehaltung oder aufgrund der Eigenschaft als Rückkehrer aus einem europäischen Land glaubhaft zu machen.
Es haben sich aufgrund dieser Angaben auch keine Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass der Beschwerdeführer eine gegen die Taliban gerichtete oppositionelle Gesinnung hätte oder er die Scharia ablehnen würde.
Auch das Vorliegen eines mittlerweile erlernten Dari-Dialekts, der ihn in Afghanistan als Rückkehrer identifizierbar machen und exponieren würde, wurde von ihm in der Verhandlung auch nicht als Rückkehrhindernis behauptet. Es ist daher auch hier keine Verfolgungsgefahr beim Beschwerdeführer erkennbar.
2.7. Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die zitierten Länderberichte. Da diese aktuellen Länderberichte auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln. Die den Feststellungen zugrundeliegenden Länderberichte sind in Bezug auf die Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan aktuell. Das Bundesverwaltungsgericht hat sich durch Einsichtnahme in die jeweils verfügbaren Quellen (u.a. laufende Aktualisierung des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation) davon versichert, dass zwischen dem Stichtag der herangezogenen Berichte und dem Entscheidungszeitpunkt keine wesentliche Veränderung der Sicherheits- und Versorgungslage in Afghanistan eingetreten ist.
3. Rechtliche Beurteilung:
Zu A)
3.1. Zu Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides – Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten
3.1.1. § 3 Asylgesetz 2005 (AsylG) lautet auszugsweise:
„Status des Asylberechtigten
§ 3. (1) Einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, ist, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
(2) Die Verfolgung kann auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Herkunftsstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, die insbesondere Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe). Einem Fremden, der einen Folgeantrag (§ 2 Abs. 1 Z 23) stellt, wird in der Regel nicht der Status des Asylberechtigten zuerkannt, wenn die Verfolgungsgefahr auf Umständen beruht, die der Fremde nach Verlassen seines Herkunftsstaates selbst geschaffen hat, es sei denn, es handelt sich um in Österreich erlaubte Aktivitäten, die nachweislich Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind.
(3) Der Antrag auf internationalen Schutz ist bezüglich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten abzuweisen, wenn
1. dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative (§ 11) offen steht oder
2. der Fremde einen Asylausschlussgrund (§ 6) gesetzt hat.
…“
3.1.2. Flüchtling im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) ist, wer sich aus der begründeten Furcht vor Verfolgung wegen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Überzeugung, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder der staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG liegt es am Beschwerdeführer, entsprechend glaubhaft zu machen, dass ihm im Herkunftsstaat eine Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK droht.
Nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr kann relevant sein, diese muss im Entscheidungszeitpunkt vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten habe (VwGH vom 29.02.2024, Ra 2023/18/0298).
3.1.3. Weder der Beschwerdeführer noch seine Familie wurden in Afghanistan jemals von den Taliban oder von anderen Personen aufgesucht oder von diesen bedroht.
Der Beschwerdeführer hat Afghanistan weder aus Furcht vor Eingriffen in die körperliche Integrität noch wegen Lebensgefahr verlassen. Er wird auch nicht verdächtigt die ehemalige Regierung unterstützt oder mit dieser zusammengearbeitet zu haben.
Es liegt beim Beschwerdeführer keine Verfolgungsgefahr aus einem Konventionsgrund vor.
3.1.4. Auch eine konkrete individuelle Verfolgung des Beschwerdeführers aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Volksgruppe der Hazara und der Religionsgemeinschaft der Schiiten wurde nicht festgestellt.
Den oben zitierten Länderberichten ist u.a. zwar zu entnehmen, dass Schiiten – speziell jene, die der Volksgruppe der Hazara angehören – Diskriminierungen durch die sunnitische Mehrheit ausgesetzt sind. In einer Gesamtschau der vorliegenden Länderberichte erreicht diese Gefährdung jedoch nicht jenes Ausmaß, welches notwendig wäre, um eine spezifische Gruppenverfolgung der Volksgruppe der Hazara oder von Angehörigen der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan für gegeben zu erachten.
Nach den UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen, kann sich für Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten ein Schutzbedarf ergeben. In Afghanistan leben ca. 42 % Paschtunen, ca. 27-30 % Tadschiken, ca. 9-15 % Hazara sowie 9 % Usbeken und Kutschi-Nomaden. 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung gehören der schiitischen Glaubensrichtung an.
Der Beschwerdeführer stammt aus der Provinz Uruzgan. Das zentrale Hochland Afghanistans ist eine Bergregion zwischen den Koh-i-Baba-Bergen an den westlichen Enden des Hindukusch, die auch Hazarajat genannt wird. Es ist die Heimat der Hazara, die dort den größten Teil der Bevölkerung ausmachen. Hazarajat bezeichnet eher eine ethnische und religiöse als eine geografische Zone. Die Region umfasst hauptsächlich die Provinzen Bamyan, Daikundi, Ghor und große Teile von Ghazni, Uruzgan, Parwan und Maidan Wardak.
In der Herkunftsprovinz des Beschwerdeführers (Uruzgan – mit ca. 460.000 Einwohnern), gab es vom 25.11.2023 bis 25.11.2024 insgesamt einen Kampf. In einem Fall kam es auch zu Gewalt gegen Zivilisten, jedoch zu keinen zivilen Opfern. (LIB Kap. 5.2.). In der Provinz Uruzgan – die zum Hazarajat gehört – lebt jedoch eine Vielzahl der schiitischen Hazara. Beim Vorliegen einer Gruppenverfolgung durch die Taliban oder den ISKP müsste somit eine besonders hohe Anzahl an zivilen Opfern vorliegen. Dies steht jedoch im Widerspruch zu den eingeholten Länderinformationen.
Es finden daher in der Provinz Uruzgan keine Gruppenverfolgungen von schiitischen Hazara statt. Die Provinz Uruzgan wird mehrheitlich von schiitischen Hazara bewohnt, diese sind dort keine religiöse oder ethnische Minderheit.
Aus diesen Gründen ist das Vorliegen einer (Gruppen)Verfolgung des Beschwerdeführers im Hinblick auf die Volksgruppe der Hazara oder seine Zugehörigkeit zu der Religionsgemeinschaft der Schiiten in Afghanistan im Ergebnis zu verneinen.
3.1.5. Es konnte beim Beschwerdeführer auch weder ein Abfall vom Islam noch eine gegenüber dem Islam feindliche oder kritische Haltung festgestellt werden. Der Beschwerdeführer ist auch weiterhin schiitischer Moslem. Er steht dem Islam nicht kritisch oder ablehnend gegenüber. Ihm wird auch nicht unterstellt, dass er vom Islam abgefallen sei oder er eine diesbezüglich kritische oder ablehnende Haltung habe.
3.1.6.Nicht jede Änderung der Lebensführung eines Asylwerbers während seines Aufenthalts in Österreich, die im Falle einer Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht mehr aufrechterhalten werden könnte, führt dazu, dass dem Asylwerber deshalb internationaler Schutz gewährt werden muss. Aus diesem Grund ist etwa das Vorbringen, ein Asylwerber könne im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan einen bestimmten Freizeitsport nicht ausüben, für sich betrachtet jedenfalls kein Grund asylrechtlichen Schutz zu gewähren. Entscheidend ist vielmehr eine grundlegende und auch entsprechend verfestigte Änderung der Lebensführung des Asylwerbers, in der die Anerkennung, die Inanspruchnahme oder die Ausübung seiner Grundrechte zum Ausdruck kommt, die zu einem wesentlichen Bestandteil seiner Identität geworden ist, und die bei Rückkehr in den Herkunftsstaat nicht gelebt werden könnte (VwGH vom 23.01.2018, Ra 2017/18/0301).
Männer können in Afghanistan Ausbildungen machen, zur Schule gehen, studieren, arbeiten sowie am öffentlichen Leben teilnehmen und auch einer Freizeitgestaltung nachgehen. Es liegt daher beim Beschwerdeführer keine Lebensführung vor, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt.
Der Beschwerdeführer hat sich in Österreich keine westliche Lebenseinstellung angeeignet, die einen nachhaltigen und deutlichen Bruch mit den allgemein verbreiteten gesellschaftlichen Werten in Afghanistan darstellt. Es liegt keine westliche Lebenseinstellung beim Beschwerdeführer vor, die wesentlicher Bestandteil seiner Persönlichkeit geworden ist, und die ihn in Afghanistan exponieren würde.
Es droht dem Beschwerdeführer daher auch aus diesem Grund keine asylrelevante Verfolgung in Afghanistan.
3.1.7. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahin ergeben, dass dem Beschwerdeführer aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer eine asylrelevante Verfolgung drohen würde.
Hinsichtlich einer Verfolgung von Rückkehrer ist auszuführen, dass nach den zitierten Länderinformationen keine Fälle bekannt sind, in denen Rückkehrer nachweislich aufgrund ihres Aufenthaltes in Europa Opfer von Gewalttaten wurden. Im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan haben sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Fall ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-)Verfolgung ausgesetzt zu sein.
Es haben sich aus den Länderberichten auch keine Hinweise dahingehend ergeben, dass Rückkehrer, die sich aufgrund eines längeren Auslandaufenthalts einen Dialekt oder einen Akzent angeeignet hätten, einer asylrelevanten Verfolgung in Afghanistan ausgesetzt wären.
3.1.8. Der Beschwerdeführer hat auch keine gegen die Regierung der Taliban gerichtete oppositionelle Einstellung. Er lehnte diese und die Scharia auch nicht ab. Ihm wird bei einer Rückkehr nach Afghanistan auch nicht unterstellt, eine gegen die Taliban oder die Scharia gerichtete Einstellung zu haben.
3.1.9. Aus den UNHCR Leitlinien zum internationalen Schutzbedarf von Personen, die aus Afghanistan fliehen (September 2025), kann sich ein erhöhter Bedarf an internationalem Flüchtlingsschutz für Frauen und Mädchen, für Angehörige der ehemaligen Regierung oder der internationalen Gemeinschaft, für ehemalige Angehörige der afghanischen Sicherheitskräfte oder der internationalen Streitkräfte, für Journalisten und Medienwirkende, für Aktivisten bzw. Gegner und Kritiker der Taliban-Regierung, für Angehörige religiöser und ethnischer Minderheiten, für Personen mit unterschiedlicher sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität sowie für Personen die von Menschenhandel bedroht oder betroffen sind, ergeben.
Aus den EUAA Leitlinien (Mai 2024), kann sich zudem auch für Personen denen unislamisches Verhalten, Blasphemie oder der Abfall vom Islam vorgeworfen wird, für Personen mit anderen Moralvorstellungen oder sozialen Werten sowie Personen mit westlicher Orientierung einen erhöhten internationalen Schutzbedarf ergeben.
Ein solcher Risikozusammenhang konnte jedoch beim Beschwerdeführer nicht festgestellt werden, sodass auch diesbezüglich keine asylrelevante Verfolgung vorliegt.
3.1.10. Im Ergebnis droht dem Beschwerdeführer aus den von ihm ins Treffen geführten Gründen im Herkunftsstaat keine asylrelevante Verfolgung.
Aufgrund der getroffenen Feststellungen zur Lage der Herkunftsregion des Beschwerdeführers ist auch sonst nicht darauf zu schließen, dass gegenständlich sonstige mögliche Gründe für eine wohlbegründete Furcht vor Verfolgung aus einem der Gründe nach Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK vorliegen.
3.1.11. Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
Zu B) Unzulässigkeit der Revision:
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig, wenn die Entscheidung von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil die Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, wenn es an einer Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes fehlt oder wenn die Frage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird bzw. sonstige Hinweise auf eine grundsätzliche Bedeutung der zu lösenden Rechtsfrage vorliegen.
In der Beschwerde findet sich kein Hinweis auf das Bestehen von Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung im Zusammenhang mit dem gegenständlichen Verfahren und sind solche auch aus Sicht des Bundesverwaltungsgerichts nicht gegeben. Die Entscheidung folgt der zitierten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes.
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