W274 2299354-1/12E
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch Mag. LUGHOFER als Einzelrichter über die Beschwerde des XXXX , syrischer Staatsangehöriger, geboren am XXXX 2000, XXXX , vertreten durch BBU GmbH, Leopold-Moses-Gasse 4, 1020 Wien, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl, Regionaldirektion Kärnten, vom 30.08.2024, GZ. 1352647803/230957610, nach öffentlicher mündlicher Verhandlung zu Recht:
Der allein gegen Spruchpunkt I. des oben genannten Bescheides gerichteten Beschwerde wird nicht Folge gegeben.
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Entscheidungsgründe:
XXXX (im Folgenden: Beschwerdeführer, BF) reiste am 13.05.2023 erstmals von Italien aus illegal ins Bundesgebiet ein und wurde im Zuge einer fremdenrechtlichen Kontrolle nach Italien zurückgeschoben. Am 14.05.2023 versuchte er abermals von Italien kommend nach Deutschland zu gelangen und wurde dort festgenommen und nach Österreich zurückgeschoben. In der Nacht vom 14. auf den 15.05.2023 reiste der BF zu Fuß neuerlich nach Deutschland aus und wurde von der dt. Bundespolizei betreten. Am 15.05.2023 wurde der BF dann endgültig nach Österreich zurückgeschoben.
Der BF beantragte am 17.05.2023 vor der Polizeiinspektion Innsbruck Fremdenpolizei internationalen Schutz und brachte als Fluchtgrund vor, er habe Syrien verlassen, weil es in Syrien keine Sicherheit und viele Entführungen und Diebstähle gäbe und er den Militärdienst nicht leisten wolle. Im Falle der Rückkehr befürchte er zum Militärdienst gezwungen zu werden. Er sei am 18.11.2022 mit dem Flugzeug von Damaskus nach Libyen, dann am 07.05.2023 von Libyen nach Italien und nach einem zweitägigen Aufenthalt in Sizilien weiter nach Innsbruck gereist. Von Innsbruck sei er nach Mailand zurückgeschoben worden. Anschließend sei er wieder nach Innsbruck zurückgekehrt. Mit ihm sei ein Cousin geflohen, in Österreich befänden sich Verwandte und Freunde.
Die anlässlich der Antragsstellung durchgeführte erkennungsdienstliche Behandlung ergab, dass der BF bereits am 09.05.2023 in Pozzallo (Sizilien) erkennungsdienstlich behandelt wurde.
Am 03.08.2023 wurde der BF zur beabsichtigten Zurückweisung seines Antrages auf internationalen Schutz vor dem BFA niederschriftlich einvernommen. Dabei gab er an, nicht nach Italien zurück zu wollen, sondern in Österreich bleiben zu wollen. In Österreich seien Verwandte seiner Mutter aufhältig, unter anderem auch ein Cousin, mit dem er auch bereits Kontakt gehabt habe. Außerdem leide er ca. seit 2019 an einer Hautkrankheit am Rücken, die schon in Syrien erfolglos behandelt worden sei. Man habe ihm nun zu einer Operation geraten.
Mit Bescheid vom 04.08.2023 wies die belangte Behörde den Antrag auf internationalen Schutz gem. § 5 Abs. 1 AsylG zunächst zurück und ordnete gem. § 61 Abs. 1 Z 1 FPG die Außerlandesbringung des BF an. Begründend führte die belangte Behörde dazu aus, der BF sei unrechtmäßig aus einem Drittstaat nach Italien eingereist, weswegen nach der Dublin-III-VO Italien für seine Asylverfahren zuständig sei. Der BF habe keine lebensbedrohliche Krankheit und weise keine außerordentliche Integration in Österreich auf. Die italienischen Behörden hätten der Übernahme des Asylverfahrens stillschweigend zugestimmt.
Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 01.02.2024 statt, weil die Außerlandesbringung des BF nicht binnen sechs Monate nach Erlassung des Bescheides des BFA erfolgt und deswegen gem. Art. 29 Abs. 2 Dublin-III-VO die Zuständigkeit für das Asylverfahren auf Österreich übergegangen sei.
Bei seiner niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA am 15.07.2024 gab der BF zusammengefasst an, er sei in XXXX im Gouvernement Homs geboren und aufgewachsen, syrischer Staatsangehöriger, Araber und sunnitisch-islamischen Glaubens. Von 2019 bis 2022 habe er an der Universität Aleppo ein College für XXXX besucht und habe – weil er keinen weiteren Aufschub für den Wehrdienst habe erwirken können – im November 2022 Syrien legal auf dem Luftweg nach Libyen verlassen. Bis zu seiner Ausreise habe er nur in XXXX und Aleppo gelebt. Nach seiner Ausreise nach Libyen sei er nicht mehr nach Syrien zurückgekehrt.
In Libyen habe er fünf Monate gelebt und auch gearbeitet und sei dann auf dem Seeweg nach Italien eingereist. Nach einem zweitägigen Aufenthalt in Italien sei er nach Österreich weitergereist, wo er „sofort“ einen Asylantrag gestellt habe. Ihm sei jedoch keine Unterkunft zugewiesen worden, weshalb er sich nach Deutschland aufgemacht habe. In Deutschland sei er von der Polizei aufgegriffen worden und zurück nach Österreich geschickt worden, wo er in einem Obdachlosenheim untergebracht worden sei. Weil sich in diesem Heim ein Zwischenfall ereignet habe, sei er erneut nach Deutschland aufgebrochen, wobei ihn ein in Deutschland aufhältiger Bekannter abgeholt habe. Er und sein Bekannter seien jedoch noch in Innsbruck von der Polizei gestoppt worden.
Seine Eltern sowie seine beiden Brüder seien nach wie vor in Syrien, wobei die Eltern in XXXX lebten, ein Bruder Rechtsanwalt in XXXX und ein Bruder Jusstudent in Deir ez-Zor sei. Der BF habe in keinem anderen Land einen Asylantrag gestellt.
Befragt zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, er habe Syrien verlassen, weil dort die Sunniten von den Alawiten diskriminiert werden würden. In Syrien habe er keine Möglichkeit gehabt, sich weiterzubilden und hätte nach Abschluss seines Studiums keinen Reisepass erhalten sowie den Wehrdienst leisten müssen. Er wolle jedoch niemanden töten. Einen Einberufungsbefehl habe er nie erhalten und er habe zuletzt eine Ausreisegenehmigung (für Libyen) erhalten. Er habe in Syrien nie an Kampfhandlungen teilgenommen, sei nie politisch aktiv oder in einer Partei gewesen, habe nie Kontakt zu einer terroristischen Gruppierung gehabt und sei strafrechtlich unbescholten. Aufgrund seiner sunnitischen Konfession sei er zweimal von Alawiten an Checkpoints der Regierung kontrolliert worden. Dies habe zur Folge gehabt, dass er nach beiden Kontrollen zu spät zur Matura erschienen sei, wobei man in Syrien schon bei einer Verspätung von fünf Minuten nicht mehr zur Matura antreten dürfe. Er sei auch bei Bewerbungen aufgrund seiner Konfession benachteiligt worden.
In Österreich beziehe er Grundversorgung und habe noch keinen Deutschkurs besucht, versuche jedoch sich die deutsche Sprache selbst beizubringen und dolmetsche Landsleute. Er wolle als Pflegekraft oder im Bereich XXXX eine Arbeit finden.
Im Falle seiner Rückkehr befürchte er, zum Militär eingezogen zu werden. Außerdem habe er keine Zukunft in Syrien. Er sei unter keinen Umständen bereit, die Wehrersatzgebühr zu leisten, da er die syrische Regierung nicht finanziell unterstützen wolle. Aufgrund seiner Erlebnisse im Bürgerkrieg habe er eine regelrechte „Blut-Phobie“ entwickelt.
Mit dem bekämpften Bescheid wies die belangte Behörde den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm gem. § 8 Abs. 1 AsylG subsidiären Schutz zu (Spruchpunkt II.) und erteilte eine Aufenthaltsberechtigung für ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Die belangte Behörde stellte zusammengefasst fest, alle früheren Wohnorte des BF stünden unter Kontrolle der syrischen Regierung. Er sei aufgrund seines Alters militärdienstpflichtig, habe den Wehrdienst jedoch bislang nicht geleitet. Er weise keine gegen den Dienst an der Waffe gerichtete verinnerlichte politische Überzeugung auf und habe keine als oppositionell anzusehende gegen die syrische Regierung gerichteten Handlungen gesetzt. Eine politische Verfolgung wegen seiner legalen Ausreise und der Asylantragsstellung sei unwahrscheinlich. Auch seien Sunniten keiner systematischen Verfolgung durch die syrische Regierung ausgesetzt. Dem Wehrdienst könne er auf legale Weise durch Leistung einer Wehrersatzgebühr entgehen.
Beweiswürdigend führte die belangte Behörde im Wesentlichen aus, die Feststellungen seien aufgrund der Angaben des BF sowie der von ihm vorgelegten Dokumente bzw. des aktuellen Länderinformationsblattes zu Syrien ergangen.
Daraus folgerte die belangte Behörde rechtlich, dem BF drohe keine asylrelevante Verfolgung durch syrische Behörden. Der Einberufung zum Wehrdienst bei der syrischen Armee könne er durch Leistung eines Wehrersatzgeldes entgehen. Es drohe ihm daher keine unverhältnismäßige Bestrafung wegen Wehrdienstverweigerung. Er habe auch die finanziellen Möglichkeiten zur Leistung der Befreiungsgebühr. Dem BF drohe außerdem keine Verfolgung aufgrund seines Bekenntnisses zur sunnitischen Konfession des Islams und er werde auch nicht aufgrund seiner Konfession wirtschaftlich benachteiligt.
Allein gegen Spruchpunkt I. (Nichtgewährung von Asyl) richtet sich die Beschwerde des BF wegen Mangelhaftigkeit des Ermittlungsverfahrens, mangelhafter Beweiswürdigung und inhaltlicher Rechtswidrigkeit mit dem Antrag, den Bescheid – nach mündlicher Verhandlung – zu beheben und dem BF den Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, in eventu, das Verfahren zur Ergänzung und neuerlichen Entscheidung an das BFA zurückzuverweisen.
Begründend führte der BF hiezu aus, es sei ihm nicht zumutbar, die durch internationale Sanktionen geächtete syrische Regierung durch einen Freikauf vom Wehrdienst finanziell zu unterstützen. Außerdem bestehe keine Garantie dafür, nach erfolgter Bezahlung der Wehrersatzgebühr, die überdies Pönalcharakter habe, auch tatsächlich nicht eingezogen zu werden. Der BF wäre daher gezwungen, zur syrischen Armee einzurücken und sich an Kriegsverbrechen zu beteiligen oder unverhältnismäßige Bestrafung aufgrund der Wehrdienstverweigerung in Kauf zu nehmen.
Aufgrund seiner Flucht und Wehrdienstverweigerung würde ihm die syrische Regierung eine oppositionelle Gesinnung unterstellen, weshalb ihm daher bei einer Rückkehr nach Syrien Verfolgung durch das syrische Regime drohe.
Die belangte Behörde legte die Beschwerde samt dem Verwaltungsakt dem BVwG − einlangend am 20.09.2024 − vor. Der Akt kam der Abteilung W274 im Oktober 2024 zu.
Im Rahmen einer öffentlichen mündlichen Verhandlung am 12.11.2024 wurde der BF als Partei vernommen.
Dabei gab er zusammengefasst an, er sei mit seiner Familie im Jahre 2011 zunächst innerhalb Syriens wegen Luftangriffen nach XXXX gereist, wo sich seine Familie nach wie vor aufhalte.
Der BF habe Syrien am 28.11.2022 verlassen, da ihm klar gewesen sei, dass er keinen weiteren Aufschub vom Wehrdienst erhalten würde und ihm daher die Einziehung zur syrischen Armee gedroht habe. Sein Studium habe er nicht abgeschlossen, da er sonst zum Militär hätte müssen.
Als Sunnit leide er – wie alle anderen Sunniten – unter dem Assad-Regime. Es sei ihm unmöglich, den Wehrdienst unter einem „so einem blutigen Regime“ zu leisten. Er denke überhaupt nicht daran, bei der syrischen Armee zu dienen. Das Assad-Regime bereite gegenwärtig eine Großoffensive vor, um Idlib einzunehmen und habe auch Truppen in den Süden entsendet, um dort Unruhen zu unterdrücken. Er könne sich nicht vom Wehrdienst freikaufen. Im Falle einer Rückkehr nach Syrien drohe ihm entweder die Zwangsrekrutierung oder lebenslange Haft bzw. „Vernichtung.“
Als er elf Jahre alt gewesen sei, habe der BF mitangesehen, wie ein Scharfschütze zwei Menschen getötet habe. Auch sein Großvater sei vor seinen Augen von einem Scharfschützen ermordet worden.
Mit Schreiben vom 27.12.2024 wurde dem BF infolge des Sturz des Assad-Regimes die Kurzinformation der Staatendokumentation des BFA vom 10.12.2024 zur Wahrung des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht und der BF aufgefordert zu den geänderten Verhältnissen Stellung zu nehmen und insbesondere darzulegen, ob nach wie vor eine gegründete Furcht vor Verfolgung aufgrund eines Konventionsgrundes bestehe und ob eine neuerliche mündliche Verhandlung für notwendig erachtet werde.
Mit Schreiben vom 19.05.2025 wurde dem BF das neue Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Syrien vom 08.05.2025 zur Wahrung des Parteiengehörs zur Kenntnis gebracht und der BF aufgefordert, zu den geänderten Verhältnissen Stellung zu nehmen und insbesondere darzulegen, ob nach wie vor eine gegründete Furcht vor Verfolgung aufgrund eines Konventionsgrundes bestehe.
Auf diese beiden Schreiben reagierte der BF nicht.
Die Beschwerde ist nicht berechtigt:
Aufgrund des Akteninhaltes und der Ergebnisse der mündlichen Verhandlung steht folgender Sachverhalt fest:
Zum Beschwerdeführer:
Der BF wurde am XXXX 2000 in XXXX im Gouvernement Homs geboren. Er ist syrischer Staatsangehöriger, Araber und Sunnit. Er ist ledig, hat keine Kinder und besuchte die Volksschule in XXXX . Im Alter von etwa elf Jahren verließen er und seine Familie XXXX und zogen nach XXXX , ebenfalls im Gouvernement Homs.
Im Jahr 2019 schloss er die Schule mit Matura ab und studierte anschließend bis Sommer 2022 an einem College für XXXX der Universität Aleppo. Während dieses Studiums lebte er in der Stadt Aleppo im Bezirk Al Furqan.
Am 28.11.2022 reiste er per Flugzeug – nachdem er zuvor ein entsprechendes Visum erhalten hatte – von Damaskus legal nach Libyen. Dort hielt er sich circa fünf Monate auf und reiste anschließend auf dem Seeweg nach Italien und dann nach Österreich weiter.
Der BF ist in Österreich unbescholten.
In Syrien leben die Eltern des BF nach wie vor in XXXX , sein älterer Bruder ist Konzipient bei einem Rechtsanwalt in XXXX und sein jüngerer Bruder lebt in Deir ez-Zor und studiert Rechtswissenschaften. Ein Cousin des BF lebt in Österreich.
XXXX und XXXX stehen unter der Kontrolle der neuen syrischen Regierung.
Für den BF besteht keine Gefahr, in XXXX oder XXXX durch das (nicht mehr existierende) Assad-Regime zum Wehrdienst eingezogen zu werden bzw. wegen Wehrdienstverweigerung oder aus sonstigen Gründen (etwa wegen seiner Zugehörigkeit zum sunnitischen Islam) benachteiligt oder unverhältnismäßig bestraft zu werden.
Seit dem Sturz des Assad-Regimes im Dezember 2024 gibt es keine staatliche Wehrpflicht in Syrien mehr.
Es kann nicht mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit davon ausgegangen werden, dass der BF in Syrien von durch HTS-Angehörige begangenen Menschenrechtsverletzungen betroffen wäre.
Zur relevanten Situation in Syrien:
Nachfolgend werden die für den Fall relevanten Passagen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation des BFA zu Syrien vom 08.05.2024 (Version 12) leicht adaptiert wiedergegeben:
Politische Lage: Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024
Die Transformation des syrischen Staates ist noch nicht abgeschlossen und es wurden bereits Änderungen für März 2025 angekündigt. Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media-Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden.
Am 08.12.2024 erklärten die Oppositionskräfte in Syrien die 24-jährige Herrschaft von Präsident Baschar Al-Assad für beendet. Zuvor waren Kämpfer in die Hauptstadt eingedrungen, nachdem Oppositionsgruppierungen am 27.11.2024 eine Offensive gegen das Regime gestartet und innerhalb weniger Tage die Städte Aleppo, Hama und große Teile des Südens eingenommen hatten. Assad war aus Damaskus geflohen (AJ, 08.12.2024). Ihm und seiner Familie wurde Asyl in Russland gewährt (VB Moskau, 10.12.2024). Er hatte das Land seit 2000 regiert, nachdem er die Macht von seinem Vater Hafez Al-Assad übernommen hatte, der zuvor 29 Jahre regiert hatte (BBC, 08.12.2024a). Er kam mit der Ba‘ath-Partei an die Macht, die in Syrien seit den 1960er-Jahren Regierungspartei war (NTV, 09.12.2024). Baschar Al-Assad hatte friedliche Proteste gegen sein Regime im Jahr 2011 gewaltsam unterdrückt, was zu einem Bürgerkrieg führte. Mehr als eine halbe Million Menschen wurden getötet, sechs Millionen weitere wurden zu Flüchtlingen (BBC, 08.12.2024a). Die Offensive gegen Assad wurde von HTS angeführt (BBC, 09.12.2024). HTS wurde ursprünglich 2012 unter dem Namen Jabhat an-Nusra (an-Nusra-Front) gegründet, nennt sich aber seit 2016 nach dem Abbruch der Verbindungen zur al-Qaida Hay‘at Tahrir ash-Sham. Sie festigte ihre Macht in den Provinzen Idlib und Aleppo, wo sie ihre Rivalen, darunter Zellen von al-Qaida und des IS, zerschlug. Sie setzte die SSG ein, um das Gebiet nach islamischem Recht zu verwalten (BBC, 09.12.2024). HTS wurde durch die von der Türkei unterstützte SNA, lokale Kämpfer im Süden und andere Gruppierungen unterstützt (Al-Monitor, 08.12.2024). Auch andere Rebellengruppierungen erhoben sich (BBC, 08.12.2024b), etwa solche im Norden, Kurdenmilizen im Nordosten, sowie IS-Zellen (Tagesschau, 08.12.2024). Im Süden trugen verschiedene bewaffnete Gruppierungen dazu bei, die Regierungstruppen aus dem Gebiet zu vertreiben. Lokale Milizen nahmen den größten Teil der Provinz Dara‘a sowie die überwiegend drusische Provinz Suweida ein (Al-Monitor, 08.12.2024). Das Military Operations Department, dem auch HTS angehört, kontrollierte mit Stand 11.12.2024 70% des syrischen Territoriums (Arabiya, 11.12.2024).
In der ersten Woche nach der Flucht Assads aus dem Land gelang es den neuen Machthabern, ein vollständiges Chaos, größere Gewaltausbrüche und den Zusammenbruch des Staates abzuwenden (MEI, 19.12.2024). Ehemalige Regimeoffiziere sollen viele Regierungsgebäude niedergebrannt haben, um Beweise für ihre Verbrechen zu verstecken, nachdem sie nach dem Sturz des Regimes von Präsident Baschar Al-Assad aus dem Innenministerium geflohen waren (Araby, 16.12.2024). Die neuen de-facto-Führer Syriens bemühten sich um Sicherheit, Stabilität und Kontinuität. Obwohl es Berichte über Plünderungen in der Zentralbank und über Menschen gab, die den persönlichen Wohnsitz Assads und die Botschaft des Irans, seines Hauptunterstützers, durchwühlten, standen am 09.12.2024 Rebellenkämpfer vor Regierungsgebäuden in der gesamten Hauptstadt Wache. Die neuen Behörden verbreiteten auch Bilder von Sicherheitskräften, das durch die Straßen von Damaskus patrouillierte, in den sozialen Medien (NYT, 12.12.2024).
Der HTS-Anführer Mohammed Al-Joulani, der mittlerweile anstelle seines Kampfnamens seinen bürgerlichen Namen Ahmad Asch-Scharaa verwendet (Nashra, 08.12.2024), traf sich am 09.12.2024 mit dem ehemaligen Ministerpräsidenten und Vizepräsidenten von Assad, um die Modalitäten für eine Machtübergabe zu besprechen (DW, 10.12.2024). Bis zu ihrer Übergabe blieben die staatlichen Einrichtungen Syriens unter seiner Aufsicht (REU, 08.12.2024). Die Macht des Assad-Regimes wurde auf ein Übergangsgremium übertragen, das vom Premierminister der SSG, Mohammed Al-Baschir, geleitet wurde (MEI, 09.12.2024). Al-Baschir kündigte am ersten Tag seiner Ernennung an, dass die Prioritäten seiner Regierung folgende seien: Gewährleistung von Sicherheit, Bereitstellung von Dienstleistungen und Aufrechterhaltung der staatlichen Institutionen. (AJ, 27.01.2025a). Am 29.01.2025 wurde de-facto-Herrscher Ahmed Asch-Scharaa zum Übergangspräsidenten ernannt (Standard, 29.01.2025).
Die Übergangsregierung ließ laut Medienberichten die Verwaltungsbeamten auf ihren Posten (LTO, 09.12.2024). Eine diplomatische Quelle eines europäischen Staates wiederum berichtet von einer Beurlaubung aller Staatsbeamten: Durch die Beurlaubung aller Staatsbeamter gibt es in Syrien zwar nun (interimistische) Minister, aber kaum Beamte, soll heißen, keine funktionierende Verwaltung. Mit ganz wenigen Ausnahmen stehen die Ministerien leer. Die einzigen Ordnungskräfte sind diejenigen Gruppen, die aus Idlib mitgekommen sind und die sich – personell überlastet – um ein Minimum an Ordnung in den Städten bemühen. Die kommunale Versorgung ist nicht vorhanden bzw. derzeit auf Privatinitiativen reduziert (SYRDiplQ1, 05.02.2025). In Damaskus und anderen Orten kam es häufig zu Gewaltausbrüchen, weil Polizei und Armee nicht über genügend Personal verfügen, um die Ordnung aufrechtzuerhalten. Die Straßen sind oft mit Müll übersät, und anstelle der Polizei leiten Teenager den Verkehr (FT, 25.03.2025). Syrienexperte Daniel Gerlach sagte, dass die leitende Beamtenebene im Land fehlt, die zwischen politischen Entscheidungsträgern und der Verwaltung – die ihre Arbeit wiederaufgenommen hat – steht. Es fehlen diejenigen, die mit den Verwaltungsträgern in Kontakt sind und die Politik umsetzen. Diejenigen, die in Syrien politische Entscheidungen träfen, seien ungefähr 15 bis 16 Personen, schätzt Gerlach (AC, 23.01.2025). Alle Minister der Übergangsregierung waren aus dem 7. Kabinett der SSG, das im Februar 2024 ernannt worden war (AlMon, 11.12.2024). Asch-Scharaa und der Interims-Premierminister haben Loyalisten zu Gouverneuren in mehreren Provinzen und zu Ministern in der Übergangsregierung ernannt (ISW, 19.12.2024). Al-Baschir hat gegenüber Al Jazeera erklärt, dass die Minister der SSG vorerst die nationalen Ministerämter übernehmen werden (AJ, 15.12.2024a). Asch-Scharaa, sagte, dass in den ersten 100 Tagen keine internen und externen Parteien berücksichtigt werden. Er hat allen seinen Mitstreitern sehr deutlich gemacht, dass er diese Phase nur Leuten anvertraut, die sein persönliches Vertrauen haben. Er hat seine Partner und Freunde gebeten, ihm in dieser Phase beizustehen und sich darauf vorzubereiten, die Form einer neuen Regierung zu diskutieren (Akhbar, 31.12.2024). Die HTS, die in der neuen Regierung erheblichen Einfluss hat, verfügt einem Bericht des Atlantic Council zufolge nicht über ausreichende technokratische Fachkenntnisse, um eine so komplexe Nation wie Syrien zu verwalten (AC, 23.01.2025).
Die Regierung hat keinen Zeitplan für die Durchführung von Wahlen festgelegt. Asch-Scharaa stellte am 16.12.2024 fest, dass Syrien nicht bereit für Wahlen sei. Das Ende der Amtszeit der Übergangsregierung wurde mit März 2025 festgesetzt (ISW, 16.12.2024). Am 29.03.2025 ernannte der Präsident die neue syrische Regierung. Diese besteht aus Technokraten, Angehörigen ethnischer Minderheiten und mehreren engen Vertrauten Asch-Scharaas. Fast die Hälfte der Ernannten steht in keiner Verbindung zu HTS. Unter den Ernannten sind eine Frau, ein Druse, ein Kurde und ein Alawit (FT, 30.03.2025). Das einzige weibliche Kabinettsmitglied ist katholische Christin (VN, 01.04.2025). Keiner der Vertreter dieser Gruppen erhielt ein wichtiges Ressort. Syrien-Experte Fabrice Balanche erklärte, dass wichtige Ressorts an „ehemalige Mitstreiter vergeben wurden, die bereits Teil der Syrischen Heilsregierung in der Provinz Idlib“ im Nordwesten Syriens waren (AlMon, 30.03.2025). Der Verteidigungsminister und der Außenminister der Übergangsregierung behielten ihre Ämter. Innenminister Khattab war zuvor Leiter des Geheimdienstes (Independent, 29.03.2025). Auch Außenminister Asch-Schaibani behielt sein Amt (AlMon, 30.03.2025). Mehrere der neuen Minister waren unter dem Assad-Regime tätig. Zu den ehemaligen Assad-Beamten gehören Yarab Badr, der neue Verkehrsminister, und Nidal Asch-Scha‘r, der zum Wirtschaftsminister ernannt wurde (NYT, 30.03.2025). Die Mitglieder sind für fünf Jahre bestellt (FT, 30.03.2025). Das Kabinett hat keinen Premierminister, da gemäß der vorläufigen Verfassung die Regierung einen Generalsekretär haben wird (Independent, 29.03.2025). Ein neues Gremium, das Ende März per Dekret bekannt gegeben wurde, das Generalsekretariat für politische Angelegenheiten, gewährte Asch-Scharaas Stellvertreter, Außenminister Asch-Schaibani, weitreichende Befugnisse hinsichtlich der Führung von Ministerien und Regierungsbehörden – ähnlich der Rolle eines Premierministers (FT, 30.03.2025).
Die Kurden im Nordosten Syriens stellen sich gegen die neue syrische Regierung. Das Kabinett spiegele nicht die Vielfalt des Landes wider, teilte die AANES mit. Man sehe sich daher nicht an die Entscheidungen der neuen Regierung gebunden (Zeit Online, 30.03.2025; Standard, 30.03.2025; K24, 30.03.2025). Obwohl der neuen Regierung mit Bildungsminister Mohammad Turko ein Kurde angehört, sind keine Vertreter der AANES ins neue Kabinett berufen worden (MEE, 30.03.2025). Einige Kritiker weisen auf die Diskrepanz zwischen Asch-Scharaas Rhetorik bei Treffen mit internationalen Vertretern und dem vermeintlichen Fehlen eines integrativen Diskurses mit einheimischen Akteuren hin (Etana, 10.01.2025). In den ersten fünfzig Tagen der neuen Regierung wurden in den Behörden eine Reihe von Ernennungen vorgenommen, darunter neben den Ministern auch die meisten Gouverneure und Direktoren der wichtigsten Regierungsbehörden und Abteilungen, die hoheitliche Funktionen haben, wie der Geheimdienst, die Zentralbank und der Kassationshof (AJ, 27.01.2025a). Die Problematik besteht darin, dass der Kreis der Entscheidungsträger – zumindest derzeit – besonders klein ist und ausschließlich aus engsten Vertrauten Scharaas aus Idlib besteht. Hinzu kommen bereits interne Unstimmigkeiten: So mancher militärischen Gruppierung und manchem Weggefährten aus Idlib geht der moderate Zugang der Übergangsbehörden bereits zu weit. War man in den ersten euphorischen Wochen nach der Machtübernahme noch zuversichtlich-optimistisch bzw. vielmehr überzeugt, die Erfahrungen aus dem Modell Idlib auf das ganze Land übertragen zu können (die Argumentation dabei war: Idlib als erfolgreicher Mikrokosmos Gesamtsyriens, da ja bewaffnete Gruppen aus dem ganzen Land nach Idlib transferiert worden waren), so hat 50 Tage nach dem Fall des Assad-Regimes die Realität die neuen Machthaber eingeholt. Das katastrophale administrative Erbe, die schlechte Wirtschaftslage, die schiere Größe und Vielfalt des Landes, sowie der Mangel an allem, auch an Fachwissen und Erfahrung. Die Verwaltung eines Stadtstaates (Idlib) hat eine ganz andere Dimension als die eines komplexen und zerstörten Landes (SYRDiplQ1, 05.02.2025).
Die Übergangsregierung kündigte an, dass eine umfassende nationale Dialogkonferenz, eine vorläufige Verfassungserklärung abgeben, einen Ausschuss zur Ausarbeitung einer neuen Verfassung bilden und eine Übergangsregierung bestätigen wird, die die Macht von Al-Baschirs Regierung übernehmen wird (AJ, 27.01.2025a). Am 12.02.2025 bestätigten Quellen gegenüber Al Jazeera, dass der syrische Präsident ein Vorbereitungskomitee für die Nationale Konferenz gebildet hat, das aus fünf Männern und zwei Frauen besteht (AJ, 12.02.2025; Sky News, 12.02.2025). Zur Vorbereitung der Konferenz hat das siebenköpfige Vorbereitungskomitee Anhörungen in den Gouvernements organisiert und manchmal mehrere zweistündige Sitzungen pro Tag abgehalten, um die 14 Provinzen Syriens in einer Woche abzudecken. Fünf Mitglieder des Komitees gehörten HTS an oder stehen ihm nahe. Vertreter der Drusen oder Alawiten, zwei der großen Minderheiten in Syrien, waren nicht dabei (BBC, 25.02.2025). Mit 12.02.2025 nahm dieses Komitee seine Arbeit auf, um die nationale Konferenz vorzubereiten und die Einladungen an die Teilnehmer zu verschicken (AJ, 12.02.2025). Die sieben Mitglieder des Vorbereitungskomitees haben etwa 4.000 Menschen in ganz Syrien konsultiert, um Meinungen einzuholen, die bei der Ausarbeitung einer Verfassungserklärung, eines neuen Wirtschaftssystems und eines Planes für institutionelle Reformen helfen sollen, teilte das Komitee am 23.02.2025 Reportern mit (REU, 23.02.2025; AlHurra, 23.02.2025). Am 25.02.2025 fand die Konferenz zum Nationalen Dialog in Damaskus statt. Hunderte von Vertretern verschiedener gesellschaftlicher Gruppen waren anwesend, aber viele andere Persönlichkeiten und Gruppierungen waren nicht anwesend (AlHurra, 25.02.2025). Ca. 400 Vertreter der Zivilgesellschaft, der Glaubensgemeinschaften, der Opposition und der Künstler nahmen teil (AlHurra, 25.02.2025). Laut BBC waren es sogar 600 Teilnehmer (BBC, 25.02.2025). Die Kurdische Autonomieverwaltung und ihr militärischer Arm, die SDF, haben keine Einladung zur Teilnahme an der Konferenz erhalten. Die Organisatoren hatten zuvor mitgeteilt, dass keine militärischen Einheiten oder Formationen, die noch ihre Waffen behalten, eingeladen wurden (AlHurra, 25.02.2025). Nach der Eröffnung der Konferenz wurden die Teilnehmer in sechs Workshops eingeteilt, die sich mit zentralen Themen befassten, darunter „persönliche Freiheiten“, „Verfassungsaufbau“ und „Übergangsjustiz.“ In der Abschlusserklärung der Konferenz wurde die rasche Bildung des provisorischen Legislativrates gefordert, der die Aufgaben der Legislative nach „Kriterien der Kompetenz und der gerechten Vertretung“ übernehmen soll (BBC, 25.02.2025). Das Komitee der Dialogkonferenz gibt Empfehlungen heraus und trifft keine Entscheidungen (AJ, 21.02.2025). Diese Empfehlungen sollen in die Verfassungserklärung und den Plan für institutionelle Reformen einfließen, versichert der Sprecher des Komitees (AlHurra, 23.02.2025; BBC, 23.02.2025). Auf der Konferenz wurden mehrere Erklärungen abgegeben, darunter ein Bekenntnis zur Übergangsjustiz, zu den Menschenrechten und zur Gewährleistung der Meinungsfreiheit. Eine am Ende der eintägigen Konferenz veröffentlichte Erklärung – die nur wenige Tage zuvor angekündigt wurde und vielen potenziellen Teilnehmern nur wenig Vorbereitungszeit ließ – ebnete den Weg für die Bildung eines siebenköpfigen Ausschusses, der mit der Ausarbeitung einer Übergangserklärung zur Verfassung beauftragt wurde (TNA, 03.03.2025). Am 02.03.2025 gab die neue Regierung die Bildung dieses siebenköpfigen Ausschusses bekannt. Der Ausschuss besteht aus einem Expertenkomitee, dem auch zwei Frauen angehören und dessen Aufgabe es ist, die Verfassungserklärung, die die Übergangsphase regelt, in Syrien zu entwerfen. Das Komitee werde „seine Vorschläge dem Präsidenten vorlegen“, hieß es in einer Erklärung, ohne einen Zeitrahmen anzugeben (FR24, 02.03.2025; BBC, 03.03.2025). Weniger als zwei Stunden nach dieser Entscheidung wurden die Texte der Artikel, die in diese Erklärung aufgenommen werden sollen, bekannt, was bei den Syrern sowohl Bestürzung als auch Spott hervorrief, zumal die Informationen von arabischen Satellitenkanälen und nicht von lokalen Sendern stammten (Nahar, 04.03.2025). Der Ausschuss stellte fest, dass die Verfassungserklärung die allgemeinen Grundlagen des Regierungssystems festlegen wird, um Flexibilität und Effizienz bei der Verwaltung des Staates in dieser sensiblen Zeit zu gewährleisten, um die politische und soziale Einheit und die territoriale Integrität des Landes zu bewahren. Die Ideen aus den nationalen Dialogen und Diskussionen, die in den Workshops zur Verfassungsgebung während der Nationalen Dialogkonferenz stattgefunden haben, sollen vom Ausschuss berücksichtigt werden (SANA, 03.03.2025).
Am 13.03.2025 unterzeichnete Asch-Scharaa die angekündigte Verfassungserklärung (NYT, 14.03.2025). Das vorläufige Dokument besteht aus vier Kapiteln und 53 Artikeln (AlHurra, 14.03.2025). Es sieht eine fünfjährige Übergangsphase vor (BBC, 14.03.2025). Nach dieser Übergangsphase soll eine dauerhafte Verfassung verabschiedet und Wahlen für den Präsidenten abgehalten werden (NYT, 14.03.2025). Die Erklärung legt fest, dass der syrische Präsident Muslim sein muss, wie es schon in der vorherigen Verfassung geschrieben stand. Anders als in der Verfassung von 2012, schreibt diese Verfassungserklärung die islamische Rechtslegung als wichtigste Quelle der Gesetzgebung fest. Daneben werden die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz verankert sowie die Rechte der Frauen garantiert (BBC, 14.03.2025). Der Präsident ist jedoch allein für die Ernennung der Richter des neuen Verfassungsgerichtes Syriens verantwortlich. Die Richter müssen unparteiisch sein (NYT, 14.03.2025). Eine Verantwortlichkeit des Präsidenten ist in der Verfassung nicht vorgesehen. Der Erklärung zufolge wird Asch-Scharaa neben dem Präsidenten der Republik die folgenden Ämter bekleiden: Premierminister, Oberbefehlshaber der Armee und der Streitkräfte und Vorsitzender des Nationalen Sicherheitsrates. In Art. 41 räumt die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Möglichkeit ein, mit Zustimmung des Nationalen Sicherheitsrates, dessen Mitglieder er selbst auswählt, den Ausnahmezustand auszurufen (AlHurra, 14.03.2025). Der neu gebildete Nationale Sicherheitsrat setzt sich aus Scharaa-Getreuen zusammen, darunter Verteidigungsminister Murhaf Abu Qasra, Innenminister Ali Keddah, Außenminister As‘ad Asch-Schaibani und Geheimdienstchef Anas Khattab (ISW, 13.03.2025). Der Meinung des Syrienexperten Fabrice Balanche nach ist der Nationale Sicherheitsrat „die eigentliche Regierung“ (AlMon, 30.03.2025). Die Erklärung garantiert Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit. Allerdings können alle Rechte, einschließlich der Religionsfreiheit, eingeschränkt werden, wenn die nationale Sicherheit oder die öffentliche Ordnung bedroht sind. Die Verpflichtung zur Gewährleistung der Meinungs-, Ausdrucks-, Informations-, Veröffentlichungs- und Pressefreiheit ist mit einigen Ausnahmen verbunden, darunter die Verherrlichung des Assad-Regimes (NYT, 14.03.2025). Auch die Symbole des Assad-Regimes werden verboten sowie seine Verbrechen zu leugnen, zu loben, zu rechtfertigen oder zu verharmlosen (AlHurra, 14.03.2025). Die Verfassungserklärung garantiert Frauen das Recht auf Bildung und Arbeit und fügt hinzu, dass sie volle soziale, wirtschaftliche und politische Rechte haben werden (NYT, 14.03.2025). Aussagen eines Mitgliedes des Ausschusses für die Verfassungserklärung zufolge werde eine neue Volksversammlung die volle Verantwortung für die Gesetzgebung tragen. Zwei Drittel ihrer Mitglieder würden von einem vom Präsidenten ausgewählten Ausschuss ernannt, ein Drittel vom Präsidenten selbst. Außerdem werde ein Ausschuss gebildet, der eine neue dauerhafte Verfassung ausarbeiten solle (BBC, 14.03.2025). Diese temporäre Verfassung konzentriert viel Macht in den Händen des Präsidenten. So werden dem Präsidenten die Exekutivgewalt und die Befugnis, den Ausnahmezustand zu erklären, gewährt (NYT, 14.03.2025). Das Parlament ist nicht befugt, den Präsidenten anzuklagen, Minister zu ernennen oder zu entlassen oder die Exekutive zu kontrollieren (HRW, 25.3.2025). Immerhin spricht die Verfassungserklärung dem Präsidenten die Befugnis ab, allgemeine Amnestiegesetze zu erlassen, die Assad zuvor für sich monopolisiert hatte (AlHurra, 14.03.2025). In der Verfassung ist Syrien als „arabische“ Republik definiert mit Arabisch als einziger Amtssprache (LSE, 28.03.2025). Sie löste innerhalb Syriens viele Diskussionen aus. Umstritten sind insbesondere jene Passagen, die dem Präsidenten ein Machtmonopol einräumen (AlHurra, 14.03.2025). Der Syrische Demokratische Rat, der politische Arm der kurdisch geführten Kräfte, die den Nordosten Syriens kontrollieren, erklärte, das neue Dokument sei „eine neue Form des Autoritarismus“ und kritisierte die seiner Meinung nach uneingeschränkten Exekutivbefugnisse (NYT, 14.03.2025). Das International Centre for Dialogue Initiatives schreibt, dass diese Reformen einseitig von einem ebenfalls vom Präsidenten ernannten Verfassungsausschuss ausgearbeitet wurden, der dann behauptete, ihre Legitimität stamme aus einem Dialogprozess. Die sogenannte Nationale Dialogkonferenz wurde so zu einem politischen Deckmantel für vorab festgelegte Verfassungsänderungen, die unter dem Deckmantel der Reform die autoritäre Herrschaft festigten (ICDI, 04.04.2025). Trotz der weitverbreiteten Kritik an der aktuellen Verfassung ist keine kurzfristige Überarbeitung vorgesehen. Die vorliegende Fassung ist das Ergebnis eines beschleunigten Verfahrens, das unmittelbar nach der Nationalen Dialogkonferenz im Februar 2025 in Gang gesetzt wurde. Ein siebenköpfiges Gremium erarbeitete die Verfassung in kürzester Zeit und wird in ihrer aktuellen Form noch nicht ihren Ansprüchen für einen pluralistischen, freien und gerechten Staat gerecht (AdRev, 03.04.2025).
Als Reaktion auf die neue Verfassung gründeten 34 verschiedene syrische Parteien und Organisationen am 22.03.2025 die Allianz für gleiche Staatsbürgerschaft in Syrien (Syrian Equal Citizenship Alliance bzw. Tamasuk). Zu den Organisationen der Allianz gehört der Syrische Demokratische Rat (ISW, 24.03.2025), die Partei des Volkswillens, die Demokratische Ba‘ath-Partei und die Kommunistische Arbeiterpartei (TNA, 23.03.2025) sowie andere kurdische, christliche und drusische Gruppierungen (ISW, 24.03.2025). Das Bündnis bezeichnet sich selbst nicht als Opposition und verlangt eine dezentrale Machtverteilung (TNA, 23.03.2025).
Die Verfassung und das Parlament wurden während der dreimonatigen Übergangszeit suspendiert, so die interimistischen Behörden (Almodon 08.01.2025). Laut Leaks wird der Übergangspräsident die Volksversammlung innerhalb von 60 Tagen nach der Veröffentlichung der Verfassungserklärung ernennen. Die Volksversammlung wird 100 Mitglieder umfassen, wobei eine gerechte Vertretung der Komponenten und Kompetenzen berücksichtigt wird, und wird vom Präsidenten der Republik durch ein republikanisches Dekret für eine Amtszeit von zwei Jahren ernannt (AlHurra, 03.03.2025). Am 29.12.2024 sagte Asch-Scharaa in einem Interview, dass die Durchführung legitimer Wahlen eine umfassende Volkszählung benötige (Arabiya, 29.12.2024). In einem Interview gab er an, dass es, damit in Syrien freie, faire und integre Wahlen abgehalten werden können, einer Volkszählung, der Rückkehr der im Ausland lebenden Menschen, der Öffnung der Botschaften und der Wiederherstellung des legalen Kontaktes mit der Bevölkerung bedarf. Darüber hinaus sind viele der Menschen, die innerhalb des Landes vertrieben wurden oder in Lagern in den Nachbarländern leben, nicht bei den Flüchtlingskommissionen registriert u.s.w. (Economist, 03.02.2025). Abgesehen von der wiederholten Aussage, dass Ausschüsse gebildet und Fachleute hinzugezogen würden, gab Asch-Scharaa nicht viel Auskunft darüber, wie der Wahlprozess aussehen würde (NYT, 30.12.2024). Asch-Scharaa hatte angemerkt, dass die Einrichtung dieser Ausschüsse in naher Zukunft unwahrscheinlich sei. Er teilte der BBC am 18.12.2024 mit, dass ein syrisches Komitee von Rechtsexperten zusammentreten werde, um eine Verfassung zu verfassen und über eine Reihe nicht näher bezeichneter rechtlicher Fragen, darunter den Alkoholkonsum, zu entscheiden. Es ist unklar, auf welche Rechtsexperten sich Asch-Scharaa bezieht und ob diese Experten repräsentativ für die multiethnische und -religiöse Bevölkerung Syriens sind oder ob es sich um HTS-nahe sunnitische Gelehrte handelt (ISW, 19.12.2024).
Am 29.01.2025 versammelten sich die Führer der militärischen Gruppierungen, die an der militärischen Kampagne zum Sturz Assads beteiligt waren, zu einer Zeremonie im Präsidentenpalast, um den Sieg zu erklären. In der Siegeserklärung kündigten sie neun Schritte an, die in drei Hauptthemen unterteilt sind, wie beispielsweise: Füllen des Machtvakuums durch die Annullierung der Verfassung von 2012, die Aussetzung aller Ausnahmegesetze, die Auflösung der während der Zeit des vorherigen Regimes gebildeten Volksversammlung und aller aus ihr hervorgegangenen Komitees und die Ernennung des Befehlshabers des militärischen Operationskommandos, Ahmed Asch-Scharaa, zum Präsidenten des Landes während der Übergangszeit. Bei der Zeremonie wurde die Auflösung von vier Institutionen, welche die Säulen der Herrschaft und Kontrolle des früheren Regimes darstellten und die Schaffung eines neuen Regimes behindern, angekündigt, nämlich: die Armee, die Sicherheitsdienste mit ihren verschiedenen Zweigen und alle damit verbundenen Milizen, die Ba‘ath-Partei, die Parteien der Nationalen Progressiven Front und die ihnen angeschlossenen Organisationen, Institutionen und Komitees und das Verbot ihrer Wiedererrichtung auch unter einem anderen Namen und Rückgabe ihrer Vermögenswerte an den syrischen Staat (AJ, 31.01.2025a). Die Ba‘ath-Partei des gestürzten syrischen Machthabers Baschar Al-Assad stellte nach eigenen Angaben mit 12.12.2024 sämtliche Aktivitäten ein. Dies gelte bis auf Weiteres, hieß es in einer auf der Website der Parteizeitung veröffentlichten Erklärung. Die Vermögenswerte und die Gelder der Partei würden unter die Aufsicht des Finanzministeriums gestellt, Fahrzeuge und Waffen sollen nach Parteiangaben an das Innenministerium übergeben werden. Die Ba‘ath-Partei war seit 1963 in Syrien an der Macht (Tagesschau, 12.12.2024). Viele Mitglieder der Parteiführung sind untergetaucht und einige aus dem Land geflohen. In einem symbolischen Akt haben die neuen Machthaber Syriens das ehemalige Hauptquartier der Partei in Damaskus in ein Zentrum umgewandelt, in dem ehemalige Mitglieder der Armee und der Sicherheitskräfte Schlange stehen, um sich registrieren zu lassen und ihre Waffen abzugeben (AP, 30.12.2024). Am 11.02.2025 gab das Präsidialamt bekannt, dass die wichtigsten Oppositionsgremien Syriens, die im Exil tätig waren, der Übergangsregierung die von ihnen bearbeiteten Akten übergeben haben, als Teil der Bemühungen, die während des Konfliktes gebildeten Institutionen „aufzulösen“. Dieser Schritt kommt der Abschaffung der wichtigsten unbewaffneten Oppositionsgruppen Syriens gleich und erinnert an Asch-Scharaas Versuch, alle bewaffneten Gruppen aufzulösen und in die Armee zu integrieren (FR24, 12.02.2025). Für die in den Kriegsjahren im und aus dem Ausland tätige Opposition hat er nur Geringschätzung übrig (SYRDiplQ1, 05.02.2025).
Während Scharaa ein gewisses Maß an Pragmatismus gezeigt hat, insbesondere im Umgang mit lokalen Gemeinschaften, sind die Strukturen der Übergangsregierung nach wie vor zentralistisch und hierarchisch, wobei die Macht in einem kleinen Führungskreis konzentriert ist. Dies schränkt die Möglichkeiten für eine integrative Entscheidungsfindung ein und verstärkt die Wahrnehmung der Ausgrenzung von Minderheiten und Frauen (AC, 20.12.2024). HTS hat in Idlib einerseits bemerkenswerte Zugeständnisse an die lokale Bevölkerung gemacht. So erlaubte sie beispielsweise Christen, Gottesdienste abzuhalten und Frauen, Universitäten zu besuchen und Autos zu fahren – Maßnahmen, die angesichts der radikalen dschihadistischen Vergangenheit der Gruppe bemerkenswert sind. Darüber hinaus hat HTS Zivilisten in seine Regierungsverwaltung integriert und einen technokratischen Regierungsstil eingeführt, selbst in sensiblen ideologischen Bereichen wie Bildung und Religion, in denen die Gruppe ursprünglich ausschließlich eigenes Personal ernennen wollte. Andererseits ist die mangelnde Bereitschaft, politische Opposition zuzulassen, nach wie vor besorgniserregend. In Idlib hat HTS nach und nach die Macht monopolisiert und etablierte de facto einen Einparteienstaat. Politische Opposition und zivilgesellschaftlicher Aktivismus wurden unterdrückt (DIIS, 16.12.2024). Zu den ersten Entscheidungen der Übergangsregierung unter Al-Baschir gehörten die Entsendung von Polizeikräften in Großstädte und das Verbot von Rauchen und Alkoholkonsum (MAITIC, 17.12.2024). HTS wurden u.a. von HRW immer wieder schwere Menschenrechtsverletzungen gegen Oppositionelle, Frauen und religiöse Minderheiten vorgeworfen. Es kam auch zu groß angelegten Protesten gegen HTS und Asch-Scharaa (Rosa Lux, 17.12.2024). Laut Terrorismusexperte Peter Neumann haben die HTS-Kämpfer für ein islamistisches Regime gekämpft. Er hält es für möglich, dass es zu einer Opposition in der eigenen Bewegung kommen könnte (Spiegel, 11.12.2024). Auch Terrorismusexperte Hans-Jakob Schindler spricht von Videos von Personen aus dem HTS-Umfeld, die ein Kalifat aufbauen wollen (WiWo, 09.12.2024). Alberto M. Fernandez, Vizepräsident des Middle East Media Research Institutes, wiederum sieht nicht so sehr die Gefahr, dass Syrien nun ein islamischer Staat sein wird, sondern dass es ein gescheiterter Staat sein wird. Die Gefahr besteht eher darin, dass die Anarchie die Oberhand gewinnt und nicht das Scharia-Recht. Dennoch sehen auch die genannten Experten Asch-Scharaa, HTS und viele ihrer Verbündeten als Hardcore-Islamisten. Am ehesten ähnle HTS nicht IS und al-Qaida, sondern den Taliban und der Hamas, also Gruppen, die sowohl islamistisch als auch nationalistisch sind (MEMRI, 09.12.2024). Etwa 70% der syrischen Bevölkerung sind sunnitische Muslime, darunter auch Kurden, die etwa 10% der Bevölkerung ausmachen. Die arabischen Sunniten sind sich jedoch in ihren Zielen nicht einig, und viele wünschen sich für die Zukunft Syriens keinen islamischen Staat (SWI, 13.02.2025).
Trotz der Kritik ergab eine im März 2025 im Auftrag von „The Economist“ durchgeführte Umfrage, an der 1.500 Syrer aus allen Provinzen und konfessionellen Gruppen des Landes teilnahmen, dass 81% die Herrschaft von Asch-Scharaa befürworten. Nur 22% sind der Meinung, dass seine Vergangenheit als al-Qaida-Führer ihn für eine Führungsrolle disqualifiziert. Eine große Zahl der Befragten gibt an, dass sie seine neue Ordnung als sicherer, freier und weniger konfessionell geprägt empfinden als das Assad-Regime. Etwa 70% sind optimistisch, was die allgemeine Richtung der Entwicklung des Landes angeht. Die zufriedenste Provinz ist Idlib, Asch-Scharaas ehemaliges Machtgebiet, wo 99 der 100 Befragten sich optimistisch äußern. Tartus, wo Anfang März 2025 mehrere Massaker an der alawitischen Minderheit stattgefunden haben, ist die pessimistischste Provinz. Selbst dort gaben 49% an, optimistisch zu sein, während 23% sich pessimistisch äußerten (Economist, 02.04.2025).
Anfänglich drängten die VN auf eine Rückkehr zum lange stagnierenden politischen Übergang auf der Grundlage der Resolution 2254 (National, 09.12.2024). Die 2015 verabschiedete Resolution 2254 des Sicherheitsrates, die einen politischen Übergang in Syrien durch Verhandlungen zwischen der Regierung des gestürzten Regimes und der Opposition forderte, ist inzwischen gegenstandslos geworden, da das Regime, mit dem verhandelt werden sollte, gestürzt ist (AJ, 28.12.2024a). Asch-Scharaa sieht dafür keine Notwendigkeit mehr und macht keinen Hehl aus seiner mangelnden Achtung des UN-Gesandten Geir Pedersen. Die neue Regierung hat kein Interesse mehr an der Resolution 2254 und ihren Bestimmungen. Asch-Scharaa sagte, dass die vergangenen Jahre die Ineffektivität der VN gezeigt hätten, weshalb er die Resolution mit dem Sturz des Regimes als hinfällig betrachte (Akhbar, 31.12.2024).
Syrien steht auf der US-amerikanischen Liste der Länder, die den Terrorismus unterstützen und HTS wird von der EU, der Türkei und den USA als ausländische terroristische Organisation eingestuft (AJ, 15.12.2024a). HTS wurde im Mai 2014 auf die Terrorliste der UN gesetzt, als der Sicherheitsausschuss zu dem Schluss kam, dass es sich um eine terroristische Organisation mit Verbindungen zur al-Qaida handelt. Die Miliz unterliegt drei Sanktionsmaßnahmen: Einfrieren von Vermögenswerten, Reiseverbot und Waffenembargo. Das bedeutet, dass international von allen Mitgliedstaaten erwartet wird, dass sie diese Maßnahmen einhalten. Um HTS nicht mehr als Terrororganisation zu listen, müsste ein Mitgliedstaat die Streichung von der Liste vorschlagen, und dieser Vorschlag würde dann an den zuständigen Ausschuss des Sicherheitsrates weitergeleitet. Der Ausschuss, der sich aus Vertretern aller 15 Länder zusammensetzt, die den Sicherheitsrat bilden, müsste dann einstimmig beschließen, den Vorschlag zu genehmigen (UN News, 12.12.2024). Die internationale Gemeinschaft akzeptierte in bilateralen und multilateralen Formaten, dass HTS, trotz Einstufung als terroristische Vereinigung, einen Platz am Verhandlungstisch benötigt (MEI, 09.12.2024).
Wehr- und Reservedienst: Entwicklungen seit dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024
Derzeit liegen keine ausreichenden Informationen zum Wehrdienst oder der Rekrutierung bzw. zu den Streitkräften der aktuellen syrischen Regierung vor. Im Folgenden wird der aktuelle Stand dargelegt, wie er sich aus öffentlich zugänglichen Quellen ergibt. Teilweise werden Falschinformationen, insbesondere auf Social-Media-Kanälen verbreitet, die in weiterer Folge auch Eingang in andere Berichte finden.
Die SAA wurde noch von Assad vor seiner Flucht nach Mitternacht am 08.12.2024 per Befehl aufgelöst. Die Soldaten sollten ihre Militäruniformen gegen Zivilkleidung tauschen und die Militäreinheiten und Kasernen verlassen (AAA, 10.12.2024). Aktivisten der SOHR in Damaskus haben berichtet, dass Hunderte von Regimesoldaten ihre Militäruniformen ausgezogen haben, nachdem sie darüber informiert wurden, dass sie entlassen wurden, da das Assad-Regime gestürzt war (SOHR, 08.12.2024). Ca. 2.000 syrische Soldaten sind in den Irak geflohen. Einem Beamten aus dem Irak zufolge sollen 2.150 syrische Militärangehörige, darunter auch hochrangige Offiziere, wie Brigadegeneräle und Zollangestellte, in einem Lager in der Provinz al-Anbar untergebracht sein. Die Mehrheit soll nach Syrien zurückkehren wollen (AlMada, 15.12.2024). Syrischen Medien zufolge verhandelte die syrische Übergangsregierung mit der irakischen Regierung über die Rückführung dieser Soldaten (ISW, 16.12.2024). Am 19.12.2024 begannen die irakischen Behörden damit, die syrischen Soldaten nach Syrien auszuliefern (TNA, 19.12.2024). Die Mehrheit der führenden Soldaten und Sicherheitskräften des Assad-Regimes sollen sich noch auf syrischem Territorium befinden, jedoch außerhalb von Damaskus (Stand 13.12.2024) (AAA, 10.12.2024). Nach der Auflösung der ehemaligen Sicherheits- und Militärinstitutionen verloren Hunderttausende ihren Arbeitsplatz und ihr Einkommen – v.a. in den Küstenregionen. Zehntausende wurden auch aus staatlichen und zivilen Einrichtungen entlassen, ohne alternative Einkommens- oder Arbeitsmöglichkeiten. Darüber hinaus wurden Mitgliedern der aufgelösten Armee, Polizei und Sicherheitsdienste Umsiedlungsmaßnahmen aufgezwungen, was zu wachsender Unzufriedenheit und Wut in den Reihen dieser Männer führte (Harmoon, 17.03.2025).
Nach dem Umsturz in Syrien hat die von Islamisten angeführte Rebellenallianz eine Generalamnestie für alle Wehrpflichtigen verkündet. Ihnen werde Sicherheit garantiert und jegliche Übergriffe auf sie seien untersagt, teilte die Allianz auf Telegram mit (Presse, 09.12.2024). HTS-Anführer Asch-Scharaa kündigte in einem Facebook-Post an, dass die Wehrpflicht der Armee abgeschafft wird, außer für einige Spezialeinheiten und „für kurze Zeiträume.“ Des Weiteren kündigte er an, dass alle Gruppierungen aufgelöst werden sollen und über Waffen nur mehr der Staat verfügen soll (CNBC Ara, 15.12.2024a; MEMRI, 16.12.2024). Unklar ist, wie eine Freiwilligenarmee finanziert werden soll (ISW, 16.12.2024). Auch die Auflösung der Sicherheitskräfte kündigte Asch-Scharaa an (REU, 11.12.2024a). In einem Interview am 10.02.2025 wiederholte Asch-Scharaa, dass er sich für eine freiwillige Rekrutierung entschieden habe und gegen eine Wehrpflicht. Bereits Tausende von Freiwilligen hätten sich der neuen Armee angeschlossen (Arabiya, 10.02.2025a; AJ, 10.02.2025a). Wehrpflichtigen der SAA wurde eine Amnestie gewährt (REU, 11.12.2024b). Ahmed Asch-Scharaa hat versprochen, dass die neue Führung die Führungsschicht der SAA und der Assad-Sicherheitskräfte wegen Kriegsverbrechen strafrechtlich verfolgen wird. Was dies jedoch für die einfachen Soldaten des ehemaligen Regimes bedeuten könnte oder wo die diesbezüglichen Grenzen gezogen werden, bleibt unklar (Guardian, 13.01.2025). Die neue Übergangsregierung Syriens hat sogenannte Versöhnungszentren eingerichtet, sagte Verteidigungsminister Abu Qasra. Diese wurden bereits gut genutzt, auch von hochrangigen Personen, und die Nutzer erhielten vorübergehende Niederlassungskarten. Eine beträchtliche Anzahl habe auch ihre Waffen abgegeben (Al Majalla, 24.01.2025). Der Hauptsitz des Geheimdienstes in Damaskus ist jetzt ein Versöhnungszentrum, wo die neuen syrischen Behörden diejenigen, die dort gedient haben, auffordern, sich zu stellen und ihre Waffen im Geheimdienstgebäude abzugeben. Im Innenhof warten Menschenschlangen darauf, Zettel zu erhalten, die besagen, dass sie sich offiziell ergeben und mit der neuen Regierung versöhnt haben, während ehemalige Aufständische in neuen Uniformen im Militärstil die abgegebenen Pistolen, Gewehre und Munition untersuchen. Ehemalige Offiziere, die sich für die neue Regierung Syriens als nützlich erweisen könnten, beispielsweise, weil sie Informationen über Personen haben, die international gesucht werden, haben wenig zu befürchten, solange sie kooperieren (Guardian, 13.01.2025). In diesen Versöhnungszentren erhielten die Soldaten einen Ausweis mit dem Vermerk „desertiert.“ Ihnen wurde mitgeteilt, dass man sie bezüglich ihrer Wiedereingliederung kontaktieren würde (Chatham, 10.03.2025). Die Rolle der übergelaufenen syrischen Armeeoffiziere in der neuen Militärstruktur ist unklar. Während ihr Fachwissen beim Aufbau einer Berufsarmee von unschätzbarem Wert sein könnte, bestehen weiterhin Bedenken hinsichtlich ihrer Marginalisierung innerhalb der neuen Machtstruktur (DNewsEgy, 03.02.2025). Unter Assad war die Einberufung in die Armee für erwachsene Männer obligatorisch. Wehrpflichtige mussten ihren zivilen Ausweis abgeben und erhielten stattdessen einen Militärausweis. Ohne einen zivilen Ausweis ist es schwierig, einen Job zu finden oder sich frei im Land zu bewegen, was zum Teil erklärt, warum Zehntausende in den Versöhnungszentren in verschiedenen Städten aufgetaucht sind (BBC, 29.12.2024). Ehemalige Soldaten und Geheimdienstmitarbeiter des Assad-Regimes, ca. 4.000 bis 5.000 Männer in Latakia und Tartus, haben sich diesen Versöhnungsprozessen entzogen. Einige von ihnen wurden im Rahmen einer landesweiten Kampagne mit täglichen Suchaktionen und gezielten Razzien gefasst, andere jedoch haben sich zu bewaffnetem Widerstand gegen die Übergangsregierung entschlossen (MEI, 13.03.2025).
Der Übergangspräsident Ahmed Asch-Scharaa hat die Vision einer neuen „nationalen Armee“ geäußert, die alle ehemaligen Oppositionsgruppen einbezieht. Diese Vision beinhaltet einen Prozess der Entwaffnung, Demobilisierung und Wiedereingliederung, bei dem HTS angeblich die Führung übernehmen soll (DNewsEgy, 03.02.2025). Der syrische Verteidigungsminister Abu Qasra kündigte am 06.01.2025 den Beginn von Sitzungen mit militärischen Gruppierungen an, um Pläne zu deren Integration in das Verteidigungsministerium zu entwickeln (Arabiya, 06.01.2025b). Hochrangige Beamte des neuen Regimes führten Gespräche über die Eingliederung von Milizen in das Verteidigungsministerium und die Umstrukturierung der syrischen Armee mit Vertretern unterschiedlicher bewaffneter Gruppierungen, wie Fraktionen der von der Türkei unterstützten SNA (MAITIC, 09.01.2025). Die Behörden gaben Vereinbarungen mit bewaffneten Rebellengruppen bekannt, diese aufzulösen und in die vereinte syrische Nationalarmee zu integrieren (UNSC, 07.01.2025). Die einzige Möglichkeit, eine kohärente militärische Institution aufzubauen, besteht laut Abu Qasra darin, die Gruppierungen vollständig in das Verteidigungsministerium unter einer einheitlichen Struktur zu integrieren. Die Grundlage für diese Institution muss die Rechtsstaatlichkeit sein (Al Majalla, 24.01.2025). Es bleibt abzuwarten, wie die neue Armee Syriens aussehen wird und ob sie auf einer anderen Struktur als die Armee des Assad-Regimes basieren wird. Dazu gehören Fragen in Bezug auf Brigaden, Divisionen und kleine Formationen sowie Fragen in Bezug auf die Art der Bewaffnung, ihre Form und die Art der Mission. (AlHurra, 12.02.2025).
Die Umstrukturierung des syrischen Militärs hat gerade erst begonnen. Der neue De-facto-Führer hat versprochen, die neue Armee in eine professionelle, auf Freiwilligen basierende Truppe umzuwandeln, um die Professionalität in den Reihen zu fördern und sich von der Wehrpflichtpolitik zu entfernen, die das zusammengebrochene Assad-Regime charakterisierte (TR-Today, 08.01.2025). Medienberichten zufolge wurden mehrere ausländische islamistische Kämpfer in hohe militärische Positionen berufen. Asch-Scharaa hatte Berichten zufolge außerdem vorgeschlagen, ausländischen Kämpfern und ihren Familien aufgrund ihrer Rolle im Kampf gegen Assad die Staatsbürgerschaft zu verleihen (UNSC, 07.01.2025).
Syrische Medien berichten, dass die neue Regierung aktiv Personen für die Armee und die Polizei rekrutiert. Damit soll der dringende Bedarf an Personal gedeckt werden. Neue Soldaten, Unteroffiziere und Offiziere werden Berichten zufolge durch intensive Programme rekrutiert, die von den traditionellen Ausbildungsstandards abweichen. Der Prozess der Vorbereitung von Militär- und Sicherheitskadern wird beschleunigt, um den Bedürfnissen des neuen Staates gerecht zu werden (SCI, o.D.). Am 10.02.2025 gab Übergangspräsident Asch-Scharaa an, dass sich Tausende von Freiwilligen der neuen Armee angeschlossen haben (Arabiya, 10.02.2025a). Viele junge Männer ließen sich einem Bericht des syrischen Fernsehsenders Syria TV zufolge für die neue Armee rekrutieren. Insbesondere seien junge Männer in Idlib in dieser Hinsicht engagiert. Die Rekrutierungsabteilung der neuen syrischen Verwaltung in der Provinz Deir ez-Zor gab bekannt, dass wenige Wochen nach der Übernahme der Kontrolle über die Provinz durch den Staat etwa 1.200 neue Rekruten in ihre Reihen aufgenommen wurden. In den ländlichen Gebieten von Damaskus treten junge Männer v.a. der Kriminalpolizei bei (Syria TV, 21.02.2025). Die Rekrutierungsabteilung von Aleppo teilte am 12.02.2025 mit, dass bis zum 15.02.2025 eine Rekrutierung in die Reihen des Verteidigungsministeriums läuft. Dort ist die Aufnahmebedingung für junge Männer, dass sie zwischen 18 und 22 Jahre alt, ledig und frei von chronischen Krankheiten und Verletzungen sein müssen (Enab, 12.02.2025). Das syrische Verteidigungsministerium hat am 17.03.2025 mehrere Rekrutierungszentren im Gouvernement Dara‘a in Südsyrien eröffnet (NPA, 17.03.2025). Das Innenministerium hat seitdem Rekrutierungszentren in allen von der Regierung kontrollierten Gebieten eröffnet (ISW, 16.04.2025). Berichten zufolge verlangt die neue Regierung von neuen Rekruten eine 21-tägige Scharia-Ausbildung (FDD, 28.01.2025).
Ende Februar 2025 verbreiteten Facebook-Seiten die Behauptung, der GSS habe in Jableh, Banyas und Qardaha Checkpoints eingerichtet, um jeden zu verhaften, der eine Siedlungskarte besitzt. Die Seiten behaupten, dass der GSS die Verhafteten nach Südsyrien verlegt, wo es zu einer Eskalation durch die israelische Besatzung kommt. Die syrische Regierung dementierte die Durchführung von Rekrutierungskampagnen in den Provinzen Latakia und Tartus. Die Rekrutierung basiere weiterhin auf Freiwilligkeit (Syria TV, 26.02.2025).
Beweiswürdigung:
Die Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf die auszugsweise wiedergegebenen aktuellen Länderberichte zu Syrien nach dem Sturz des Assad-Regimes, insbesondere auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation des BFA zu Syrien vom 08.05.2025 (Version 12).
Angesichts der Aktualität und Plausibilität dieser Berichte sowie des Umstandes, dass diese Berichte auf verschiedenen voneinander unabhängigen dort wiedergegebenen Quellen beruhen und ein übereinstimmendes, in sich schlüssiges und nachvollziehbares Gesamtbild liefern, besteht für das kein Grund, an der Richtigkeit dieser Informationen zu zweifeln.
Die Feststellungen hinsichtlich der Person des BF, seiner Familie, seines Werdeganges in Syrien, der Umstände und des Zeitpunktes seiner Ausreise aus Syrien und der Aufenthaltsorte der Familienmitglieder beruhen auf den diesbezüglich unbedenklichen und nachvollziehbaren Angaben des BF gegenüber der Polizei, dem BFA sowie dem erkennenden Gericht sowie den von ihm vorgelegten syrischen Urkunden. Bereits die belangte Behörde ging von einer feststehenden Identität aus.
Die Unbescholtenheit des BF in Österreich ergibt sich aus dem eingeholten Strafregisterauszug.
Dass sowohl XXXX als auch XXXX unter der Kontrolle der neuen syrischen Regierung befinden, ergibt sich aus der Einschau in die aktuelle Version der Syria-Live-Map (https://syria.liveuamap.com).
Aufgrund der angeführten aktuellen Länderberichte war festzustellen, dass das Assad-Regime in Syrien zu bestehen aufgehört hat und mit diesem im Zusammenhang stehenden Verfolgungsszenarien nicht mehr relevant sind. Davon geht im Übrigen auch UNHCR in seinem Positionspapier zur Lage in Syrien nach dem Machtwechsel im Dezember 2024 vom 16.12.2024 (Position on Returns to the Syrian Arab Republic) aus.
Die Feststellung, wonach in Syrien gegenwärtig keine staatliche Wehrpflicht besteht, beruht ebenfalls auf dem aktuellen LIB vom 08.05.2025.
Rechtlich folgt:
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, der Status eines Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention droht.
Gemäß § 3 Abs. 2 AsylG kann die Verfolgung auch auf Ereignissen beruhen, die eingetreten sind, nachdem der Fremde seinen Heimatstaat verlassen hat (objektive Nachfluchtgründe) oder auf Aktivitäten des Fremden beruhen, die dieser seit Verlassen des Herkunftsstaates gesetzt hat, insbesondere, wenn sie Ausdruck und Fortsetzung einer bereits im Herkunftsstaat bestehenden Überzeugung sind (subjektive Nachfluchtgründe).
Gemäß § 3 Abs. 3 AsylG ist der Antrag abzuweisen, wenn dem Fremden eine innerstaatliche Fluchtalternative offensteht oder er einen Asylausschlussgrund gesetzt hat.
Gemäß § 2 Abs. 1 Z 11 und 12 AsylG ist Verfolgung jede Verfolgungshandlung im Sinne des Art. 9 Statusrichtlinie, Verfolgungsgrund ein in Art. 10 StatusRL genannter Grund.
Nach Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK ist als Flüchtling anzusehen, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.
Nach Art. 9 der StatusRL muss eine Verfolgungshandlung i.S.d. GFK aufgrund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sein, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellt oder in einer Kumulierung unterschiedlicher Maßnahmen, die so gravierend sind, dass eine Person davon in ähnlicher Weise betroffen ist, bestehen.
Unter anderem können in diesem Sinne folgende Handlungen als Verfolgung gelten: Anwendung physischer oder psychischer, einschließlich sexueller Gewalt; gesetzliche, administrative, polizeiliche und/oder justizielle Maßnahmen, die als solche diskriminierend sind oder in diskriminierender Weise angewendet werden; unverhältnismäßige oder diskriminierende Strafverfolgung oder Bestrafung; Verweigerung gerichtlichen Rechtsschutzes mit dem Ergebnis einer unverhältnismäßigen oder diskriminierenden Bestrafung; Strafverfolgung oder Bestrafung wegen Verweigerung des Militärdienstes in einem Konflikt, wenn der Militärdienst Verbrechen oder Handlungen umfassen würde, die unter den Anwendungsbereich des Art. 12 Abs. 2 StatusRL fallen; Handlungen, die an die Geschlechtszugehörigkeit anknüpfen oder gegen Kinder gerichtet sind.
Bei der Beurteilung der Frage, ob die Furcht eines Antragstellers vor Verfolgung begründet ist, ist es unerheblich, ob der Antragsteller tatsächlich die Merkmale der Rasse oder die religiösen, nationalen, sozialen oder politischen Merkmale aufweist, die zur Verfolgung führen, sofern ihm diese Merkmale von seinem Verfolger zugeschrieben werden.
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist zentraler Aspekt der in Art. 1 Abschnitt AZ 2 GFK definierten Verfolgung im Herkunftsstaat die wohlbegründete Furcht vor dieser Verfolgung. Eine Furcht kann nur dann wohlbegründet sein, wenn sie im Licht der speziellen Situation des Asylwerbers unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation aus Konventionsgründen fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht.
Voraussetzung für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, dass dem Asylwerber in seinem Herkunftsstaat Verfolgung im Sinn des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, also aus Gründen der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe droht.
Im Fall der Behauptung einer asylrelevanten Verfolgung durch die Strafjustiz im Herkunftsstaat bedarf es einer Abgrenzung zwischen der legitimen Strafverfolgung („prosecution“) einerseits und der die Gewährung von Asyl rechtfertigenden Verfolgung aus einem der Gründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK („persecution“) andererseits. Keine Verfolgung im asylrechtlichen Sinn ist im Allgemeinen in der staatlichen Strafverfolgung zu erblicken. Allerdings kann auch die Anwendung einer gesetzlich für den Fall der Zuwiderhandlung angeordneten, jeden Bürger des Herkunftsstaates gleichermaßen treffenden Sanktion unter bestimmten Umständen eine Verfolgung im Sinne der GFK aus einem dort genannten Grund sein; etwa dann, wenn das den nationalen Normen zuwiderlaufende Verhalten des Betroffenen im Einzelfall auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht und den Sanktionen jede Verhältnismäßigkeit fehlt.
Um feststellen zu können, ob die strafrechtliche Verfolgung wegen eines auf politischer Überzeugung beruhenden Verhaltens des Asylwerbers einer Verfolgung im Sinne der GFK gleichkommt, kommt es auf die in Frage kommenden Rechtsvorschriften, aber auch auf die tatsächlichen Umstände ihrer Anwendung und die Verhältnismäßigkeit der verhängten Strafe an.
Der Gefahr einer allen Wehrdienstverweigerern bzw. Deserteuren im Herkunftsstaat gleichermaßen drohenden Bestrafung kann asylrechtliche Bedeutung zukommen, wenn das Verhalten des Betroffenen auf politischen oder religiösen Überzeugungen beruht oder dem Betroffenen wegen dieses Verhaltens vom Staat eine oppositionelle Gesinnung unterstellt wird und den Sanktionen für Wehrdienstverweigerer jede Verhältnismäßigkeit fehlt, wie dies etwa bei der Anwendung von Folter grundsätzlich der Fall ist (VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124; VwGH 23.01.2019, Ra 2019/19/0009; jüngst VwGH 19.06.2019, Ra 2018/18/0548). Unter dem Gesichtspunkt des Zwanges zur Teilnahme an völkerrechtswidrigen Militäraktionen kann auch eine bloße Gefängnisstrafe eine asylrelevante Verfolgung darstellen (VwGH 25.03.2003, 2001/01/0009; VwGH 28.03.2023, Ra 2023/20/0027, m.w.N.; Putzer, Leitfaden Asylrecht2 (2011), Rn. 97; EuGH 26.02.2015, C-472/13 (Shepherd)). Wird der Asylwerber in seinem Herkunftsstaat dazu gezwungen, gegen Angehörige seiner eigenen Volksgruppe vorzugehen, kann dies ebenfalls in asylrechtlicher Hinsicht relevant sein (VwGH 27.04.2011, 2008/23/0124, m.w.N.).
Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft im Sinn der GFK zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Gewährung von Asyl zum einen nicht zwingend erforderlich, dass bereits in der Vergangenheit Verfolgung stattgefunden hat, zum anderen ist eine solche Vorverfolgung für sich genommen auch nicht hinreichend. Entscheidend ist, ob die betroffene Person im Zeitpunkt der Entscheidung bei Rückkehr in ihren Herkunftsstaat mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit mit Verfolgungshandlungen rechnen müsste. Relevant kann also nur eine aktuelle Verfolgungsgefahr sein; sie muss bei Erlassung der Entscheidung vorliegen. Auf diesen Zeitpunkt hat die der Asylentscheidung immanente Prognose abzustellen, ob der Asylwerber mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung aus den in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründen zu befürchten hat (VwGH 23.05.2023, Ra 2023/20/0110, m.w.N.).
In jedem Fall ist es bei behaupteter Wehrdienstverweigerung erforderlich, ob bzw. welche Verfolgungshandlungen wegen dieses Verhaltens im Herkunftsstaat drohen und bejahendenfalls eine Verknüpfung zu einem der Verfolgungsgründe des Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK bzw. Art. 10 StatusRL herzustellen. Dies hat − was im Übrigen der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union entspricht − auch im Anwendungsbereich des Art. 9 Abs. 2 lit. e StatusRL zu gelten. Allein deshalb, weil einem Wehrdienstverweigerer unter den Voraussetzungen des Art. 9 Abs. 2 lit. e StatusRL Bestrafung durch die Behörden seines Herkunftsstaates droht, kann die Verknüpfung mit einem Verfolgungsgrund nicht als gegeben angesehen werden. Die Plausibilität der Verknüpfung zwischen der Verfolgungshandlung und den Verfolgungsgründen ist nach Auffassung des Gerichtshofes der Europäischen Union von den zuständigen nationalen Behörden in Anbetracht sämtlicher vom Asylwerber vorgebrachten Umstände zu prüfen. Dabei spricht zwar eine starke Vermutung dafür, dass die Verweigerung des Militärdienstes unter den in Art. 9 Abs. 2 lit. e StatusRL genannten Voraussetzungen mit einem der fünf in Art. 10 StatusRL genannten Gründe in Zusammenhang steht. Dies entbindet die Asylbehörde und das nachprüfende Verwaltungsgericht aber nicht von der erforderlichen Plausibilitätsprüfung (VwGH 04.07.2023, Ra 2023/18/0108, m.w.N. aus der Rechtsprechung des Gerichtshofes der Europäischen Union und des deutschen Bundesverwaltungsgerichtes; in diesem Sinne auch VwGH 31.01.2023, Ra 2022/20/0347: In diesem ebenfalls einen syrischen Staatsangehörigen betreffenden Fall hat der Verwaltungsgerichtshof − unter Hinweis auf seine Vorjudikatur − festgehalten, dass auch nach den Ausführungen in EuGH 19.11.2020, C-238/19, eine auf den Einzelfall bezogene Beurteilung unverzichtbar ist).
Es ist für die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten auch nicht ausreichend, wenn der asylwerbende Fremde lediglich angibt, dass er keine Waffe tragen und keine Menschen töten wolle – also Gründe, warum er den Militärdienst nicht ableisten möchte, ins Treffen führt, die grundsätzlich Ausdruck einer politischen oder religiösen Gesinnung sein können. Es müssen nämlich, damit der Status eines Asylberechtigten zuerkannt werden kann, die Verfolgungshandlungen aufgrund eines Konventionsgrundes drohen. Dass die begründete Furcht einer Person vor Verfolgung in kausalem Zusammenhang mit einem oder mehreren Konventionsgründen stehen muss, ergibt sich schon aus der Definition des Flüchtlingsbegriffes in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK, wonach als Flüchtling im Sinne dieses Abkommens anzusehen ist, wer sich aus wohlbegründeter Furcht, „aus Gründen“ (Englisch: „for reasons of“; Französisch: „du fait de“) der Rasse, der Religion, der Nationalität, der politischen Gesinnung oder der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen. Auch Art. 9 Abs. 3 StatusRL verlangt eine Verknüpfung zwischen den als Verfolgung eingestuften Handlungen oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen einerseits und den Verfolgungsgründen andererseits. Dafür reicht es zwar nach jüngerer Ansicht des UNHCR aus, dass der Konventionsgrund ein maßgebender beitragender Faktor ist und er nicht als einziger oder überwiegender Grund für die Verfolgung oder das Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen nachgewiesen werden muss. Das bedeutet aber nicht, dass für die Gewährung von Asyl auf die Prüfung eines kausalen Zusammenhanges zwischen der Verfolgungshandlung (oder dem Fehlen von Schutz vor Verfolgung) und einem Verfolgungsgrund im Sinn der GFK verzichtet werden könnte (beispielsweise kann eine nur auf kriminellen Motiven beruhende Verfolgung keinem der in Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK genannten Gründe zugeordnet werden und eine Asylgewährung nicht rechtfertigen).
Zum Beschwerdeführer:
Wie festgestellt hat der BF bis zu seiner Ausreise aus Syrien den größten Teil seines Lebens in Syrien in XXXX und XXXX (beide Gouvernement Homs) verbracht. Da der BF im Alter von etwa elf bis neunzehn Jahren, sohin in einer prägenden Lebensphase, in XXXX gelebt hat, dort maturiert hat und seine Eltern nach wie vor dort leben, ist XXXX als sein Herkunftsort zu betrachten.
Zur Wehrdienstverweigerung bei der syrischen Armee bzw. sonstigen Verfolgung durch das Assad-Regime:
Wie festgestellt, existiert das syrische Regime unter Baschar Al-Assad seit dem Umsturz im Dezember 2024 nicht mehr. Der vom BF vorgebrachten Befürchtung der Einberufung zum Militärdienst bei der Armee des syrischen Regimes mit der Gefahr der Beteiligung an Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ist damit der Boden entzogen. Dasselbe gilt für eine etwaige Diskriminierung des BF als Sunnit durch alawitische Anhänger des Assad-Regimes. Eine Verfolgung (aus welchen Gründen immer) seitens des nicht mehr vorhandenen Regimes ist daher nicht anzunehmen.
Im Umstand, dass im Heimatland des BF Bürgerkrieg geherrscht hat und dessen Nachwirkungen noch zu spüren sein könnten, liegt nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes für sich genommen keine Verfolgungsgefahr im Sinne der GFK begründet (VwGH 26.11.1998, 98/20/0309, 0310; VwGH 19.10.2000, 98/20/0233). Um asylrelevante Verfolgung vor dem Hintergrund einer Bürgerkriegssituation erfolgreich geltend zu machen, bedarf es daher einer zusätzlichen, auf asylrelevante Gründe gestützten Gefährdung des Asylwerbers, die über die gleichermaßen die anderen Staatsbürger des Heimatstaates treffenden Unbilligkeiten eines Bürgerkrieges hinausgeht. Eine solche hat der BF aber nicht hinreichend nachvollziehbar glaubhaft machen bzw. dartun können.
Zur Volatilität der Lage in Syrien:
Das Bundesverwaltungsgericht verkennt nicht, dass sich die Lage in Syrien in der ersten Dezemberhälfte des Jahres 2024 sehr rasch verändert hat, dass eine neuerliche Lageveränderung durchaus möglich ist und dass noch weitgehend unklar ist, wie sich die Lage in den kommenden Monaten entwickeln wird. Seit dem Sturz des Assad-Regimes am 08.12.2024 gab es allerdings – von den Kämpfen zwischen der SNA und den SDF im Norden abgesehen bzw. im hier nicht betroffenen Gouvernement Suweida (Auseinandersetzungen zwischen drusischen Milizen einerseits und Sicherheitskräften der Regierung sowie lokaler Beduinenmilizen andererseits) – keine größeren Kampfhandlungen mehr. Zudem sprechen die zuletzt stattgefundenen Besuche hochrangiger EU-Vertreter sowie die Lockerung der Sanktionen gegenüber Syrien seitens der USA und der EU für eine gewisse Konsolidierung der Verhältnisse in Syrien. Zudem kommt dem BF ohnehin derzeit subsidiärer Schutz zu.
Es wäre untunlich, mit einer Entscheidung zuzuwarten, bis völlige Klarheit über die künftigen Verhältnisse herrscht, weil nicht abschätzbar ist, ob und wann ein solches Szenario eintritt. Die verfügbaren aktuellen Berichte zur Lage in Syrien wurden – nach vorheriger Gelegenheit zur Stellungnahme – dem Verfahren zugrunde gelegt. Der volatilen Sicherheitslage in Syrien wurde durch die Gewährung subsidiären Schutzes durch die belangte Behörde ohnehin Rechnung getragen.
Zu berücksichtigen ist auch, dass nach der ständigen höchstgerichtlichen Rechtsprechung die Darlegung der entfernten Möglichkeit einer Verfolgung nicht für eine nach § 3 Abs. 1 AsylG erforderliche Glaubhaftmachung einer Verfolgung im Sinne der zum Entscheidungszeitpunkt anzustellenden Prognose genügt (VwGH 14.07.2021, Ra 2021/14/0066, m.w.N.; VwGH 22.01.2021, Ra 2021/01/0003). Eine potentiell immer und zumal im generell volatilen Syrien mögliche Änderung der Lage zum Schlechteren für einen konkreten Beschwerdeführer kann daher nicht zu einer Asylgewährung führen. Sollte sich die Lage in Syrien dergestalt ändern, dass dem subsidiär schutzberechtigten Beschwerdeführer in Syrien (konkret absehbare) asylrelevante Verfolgung droht, steht ihm schließlich die Möglichkeit offen, einen Folgeantrag zu stellen.
Dem BF ist es daher insgesamt nicht gelungen, eine konkret und gezielt gegen seine Person gerichtete aktuelle Verfolgung maßgeblicher Intensität, die ihre Ursache in einem der in der GFK genannten Gründe hätte, glaubhaft zu machen.
Auch vor dem Hintergrund der Feststellungen zur Lage in Syrien kann nicht erkannt werden, dass dem BF aktuell in Syrien eine asylrelevante Verfolgung aus einem der in der GFK genannten Gründen droht.
Im gegenständlichen Fall hat bereits – wenn auch vor dem Machtwechsel in Syrien – eine mündliche Verhandlung stattgefunden. Da der bisher einzige vom BF vorgetragene Fluchtgrund, nämlich eine Verfolgung durch das Assad-Regime, durch den Sturz dieses Regimes zweifelsohne weggefallen ist und eine etwaige Verfolgung des BF durch Alawiten nunmehr – nach der Machtübernahme durch sunnitische Islamisten – ebenso unrealistisch ist, ist der maßgebliche Sachverhalt hinreichend geklärt.
Das Verwaltungsgericht räumte dem BF zweimal (mit Schreiben vom 27.12.2024 und mit Schreiben vom 19.05.2025) die Möglichkeit ein, etwaige neue Fluchtgründe darzulegen sowie zu begründen, warum eine neuerliche mündliche Verhandlung notwendig wäre. Davon machte der BF keinen Gebrauch, sodass davon auszugehen ist, dass dieser selbst eine mündliche Verhandlung nicht mehr für notwendig erachtet.
Es ist daher nicht ersichtlich, weshalb es nach dem Sturz des Assad-Regimes einer weiteren mündlichen Verhandlung bedürfte bzw. was durch eine solche gewonnen wäre.
Der Ausspruch über die Unzulässigkeit der Revision folgt dem Umstand, dass im Wesentlichen Umstände des Einzelfalles zu beurteilen waren und im Rahmen der oben dargestellten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes entschieden wurde.
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