Spruch
IM NAMEN DER REPUBLIK!
Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard SCHLAFFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geb. XXXX , StA. Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom XXXX , Zl. XXXX , zu Recht:
A)
Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.
B)
Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.
Text
Entscheidungsgründe:
I. Verfahrensgang:
Der damals minderjährige Beschwerdeführer (in der Folge: BF) reiste illegal nach Österreich ein und stellte am XXXX einen Antrag auf internationalen Schutz.
Am XXXX Tag wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Zu seinen persönlichen Lebensumständen gab er an, er sei am XXXX in Nangarhar (Afghanistan) geboren, er sei Angehöriger der Volksgruppe XXXX und Moslem. Er sei ledig. Seine Eltern, seine drei Schwestern und seine drei Brüder würden weiterhin in Afghanistan leben. Sein Zielland sei Österreich gewesen, da er im österreichischen Bundesgebiet Verwandte habe. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, sein Vater habe als XXXX gearbeitet. Nach der Machtübernahme durch die Taliban habe der BF Angst gehabt, getötet zu werden. Im Falle einer Rückkehr fürchte er die Taliban.
Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (in der Folge BFA) hatte offenbar Zweifel an der angegebenen Minderjährigkeit des BF und veranlasste eine multifaktorielle medizinische Untersuchung zur Altersfeststellung. Dem Ergebnis des Gutachtens vom XXXX zufolge waren die Untersuchungsergebnisse mit dem angegebenen Alter vereinbar.
Am XXXX wurde der BF vor dem BFA niederschriftlich einvernommen und legte XXXX sowie XXXX vor.
Er bestätigte im Wesentlichen seine bisherigen Angaben und führte weiters aus, er stamme aus der Provinz Nangarhar, Distrikt XXXX , Dorf XXXX , Afghanistan, und bekenne sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islams. Zu seinen Fluchtgründen gab er an, dass sein Vater vor der Machtübernahme durch die Taliban als XXXX tätig gewesen sei. Seit der Machtübernahme der Taliban sei sein Vater verschollen. Seine Mutter habe dem BF nicht verraten, wo sein Vater sei. Seine Mutter habe versucht herauszufinden, wo sich der Vater befinde. Sie habe ihn jedoch nicht gefunden. Seine Mutter habe Angst gehabt, dass der BF auch verschwinden würde. Sie werde dafür sorgen, dass der BF eine Zukunft habe und werde ihn „irgendwo hinschicken“, weshalb der BF aus Afghanistan ausgereist sei. Dem BF wurde eine Frist von drei Wochen gewährt, um eine schriftliche Stellungnahme zu den Länderinformationen einzubringen.
Mit Schreiben vom XXXX brachte der BF eine schriftliche Stellungnahme ein, in welcher im Wesentlichen darauf hingewiesen wurde, dass der BF seinen Heimatstaat als Minderjähriger verlassen habe und darauf in der Entscheidung einzugehen sei.
Mit gegenständlichem Bescheid wies das BFA den Antrag des BF auf internationalen Schutz hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), erkannte ihm den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 8 Abs. 1 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.) und erteilte ihm gemäß § 8 Abs. 4 AsylG 2005 eine befristete Aufenthaltsberechtigung für subsidiär Schutzberechtigte auf ein Jahr (Spruchpunkt III.).
Es habe nicht festgestellt werden können, dass der BF im Herkunftsstaat einer Verfolgung durch staatliche Organe oder Privatpersonen unterliege. Es habe auch aus sonstigen Umständen keine Verfolgung aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung festgestellt werden können.
Gegen diesen Bescheid erhob der BF fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen dessen inhaltliche Rechtswidrigkeit und die Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften geltend gemacht wurde. Im Wesentlichen wurde darin ausgeführt, der BF würde in Afghanistan aufgrund der Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe der Familie (seines Vaters) verfolgt werden und würde ihm aufgrund einer Rückkehr aus Europa eine Abkehr vom Islam unterstellt werden und wäre er somit asylrelevanter Verfolgung aufgrund der politischen Gesinnung und Religion ausgesetzt.
Am XXXX wurde die Beschwerde inklusive des mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsaktes dem BVwG vorgelegt.
II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:
1. Feststellungen:
1.1. Zur Person des Beschwerdeführers:
Der volljährige BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren und ist Staatsangehöriger von Afghanistan. Er gehört der Volksgruppe XXXX an und bekennt sich zur sunnitischen Glaubensrichtung des Islam. Seine Muttersprache ist Dari.
Der BF stammt aus dem Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz Nangarhar, Afghanistan.
Seine Mutter, seine drei Schwestern und drei Brüder leben weiterhin in Afghanistan.
Der BF besuchte XXXX die Schule und verfügt über keine Berufsausbildung oder - erfahrung.
Der BF ist ledig und kinderlos.
Er ist gesund und arbeitsfähig.
Der BF ist im Bundesgebiet strafrechtlich unbescholten.
1.2. Zu den Fluchtgründen des Beschwerdeführers:
Der BF ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt.
1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan:
1.3.1. Auszug aus dem COI-CMS Afghanistan vom 10.04.2024, Version 11:
Politische Lage
Die politischen Rahmenbedingungen in Afghanistan haben sich mit der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 grundlegend verändert (AA 26.6.2023). Die Taliban sind zu der ausgrenzenden, auf die Paschtunen ausgerichteten, autokratischen Politik der Taliban-Regierung der späten 1990er-Jahre zurückgekehrt (UNSC 1.6.2023a). Sie bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USIP 17.8.2022; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen. Seit ihrer Machtübernahme hat die Gruppe jedoch nur vage erklärt, dass sie im Einklang mit dem "islamischen Recht und den afghanischen Werten" regieren wird, und hat nur selten die rechtlichen oder politischen Grundsätze dargelegt, die ihre Regeln und Verhaltensweise bestimmen (USIP 17.8.2022). Die Verfassung von 2004 ist de facto ausgehebelt. Ankündigungen über die Erarbeitung einer neuen Verfassung sind bislang ohne sichtbare Folgen geblieben. Die Taliban haben begonnen, staatliche und institutionelle Strukturen an ihre religiösen und politischen Vorstellungen anzupassen. Im September 2022 betonte der Justizminister der Taliban, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei (AA 26.6.2023).
Nach ihrer Machtübernahme in Afghanistan übernahmen die Taliban auch schnell staatliche Institutionen (USIP 17.8.2022) und erklärten Haibatullah Akhundzada zu ihrem obersten Führer (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. REU 7.9.2021a, VOA 19.8.2021). Er kündigte an, dass alle Regierungsangelegenheiten und das Leben in Afghanistan den Gesetzen der Scharia unterworfen werden (ORF 8.9.2021; vgl. DIP 4.1.2023). Haibatullah hat sich dem Druck von außen, seine Politik zu mäßigen, widersetzt (UNSC 1.6.2023a) und baut seinen Einfluss auf Regierungsentscheidungen auf nationaler und subnationaler Ebene auch im Jahr 2023 weiter aus (UNGA 20.6.2023). Es gibt keine Anzeichen dafür, dass andere in Kabul ansässige Taliban-Führer die Politik wesentlich beeinflussen können. Kurz- bis mittelfristig bestehen kaum Aussichten auf eine Änderung (UNSC 1.6.2023a). Innerhalb weniger Wochen nach der Machtübernahme kündigten die Taliban "Interims"-Besetzungen für alle Ministerien bis auf ein einziges an, wobei die Organisationsstruktur der vorherigen Regierung beibehalten wurde (USIP 17.8.2022) - das Ministerium für Frauenangelegenheiten blieb unbesetzt und wurde später aufgelöst (USIP 17.8.2022; vgl. HRW 4.10.2021). Alle amtierenden Minister waren hochrangige Taliban-Führer; es wurden keine externen politischen Persönlichkeiten ernannt, die überwältigende Mehrheit war paschtunisch, und alle waren Männer. Seitdem haben die Taliban die interne Struktur verschiedener Ministerien mehrfach geändert und das Ministerium für die Verbreitung der Tugend und die Verhütung des Lasters wiederbelebt, das in den 1990er-Jahren als strenge "Sittenpolizei" berüchtigt war, die strenge Vorschriften für das soziale Verhalten durchsetzte (USIP 17.8.2022). Bezüglich der Verwaltung haben die Taliban Mitte August 2021 nach und nach die Behörden und Ministerien übernommen. Sie riefen die bisherigen Beamten und Regierungsmitarbeiter dazu auf, wieder in den Dienst zurückzukehren, ein Aufruf, dem manche von ihnen auch folgten (ICG 24.8.2021; vgl. USDOS 12.4.2022a), wobei weibliche Angestellte aufgefordert wurden, zu Hause zu bleiben (BBC 19.9.2021; vgl. Guardian 20.9.2021). Die für die Wahlen zuständigen Institutionen, sowie die Unabhängige Menschenrechtskommission, der Nationale Sicherheitsrat und die Sekretariate der Parlamentskammern wurden abgeschafft (AA 26.6.2023).
Der Ernennung einer aus 33 Mitgliedern bestehenden geschäftsführenden Übergangsregierung im September 2021 folgten zahlreiche Neuernennungen und Umbesetzungen auf nationaler, Provinz- und Distriktebene in den folgenden Monaten, wobei Frauen weiterhin gar nicht und nicht-paschtunische Bevölkerungsgruppen nur in geringem Umfang berücksichtigt wurden (AA 26.6.2023).
Die Regierung der Taliban wird von Mohammad Hassan Akhund geführt. Er ist Vorsitzender der Minister, eine Art Premierminister. Akhund ist ein wenig bekanntes Mitglied des höchsten Führungszirkels der Taliban, der sogenannten Rahbari-Schura, besser bekannt als Quetta-Schura (NZZ 8.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 18.7.2023).
Stellvertretende vorläufige Premierminister sind Abdul Ghani Baradar (AJ 7.9.2021; vgl. REU 7.9.2021b, Afghan Bios 16.2.2022), der die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinigten Staaten in Doha vertrat und das Abkommen mit ihnen am 29.2.2021 unterzeichnete (AJ 7.9.2021; vgl. VOA 29.2.2020), und Abdul Salam Hanafi (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 7.7.2022b), der unter dem ersten Taliban-Regime Bildungsminister war (Afghan Bios 7.7.2022b; vgl. UNSC o.D.a). Im Oktober 2021 wurde Maulvi Abdul Kabir zum dritten stellvertretenden Premierminister ernannt (Afghan Bios 27.11.2023; vgl. 8am 5.10.2021, UNGA 28.1.2022).
Weitere Mitglieder der vorläufigen Taliban-Regierung sind unter anderem Sirajuddin Haqqani, der Leiter des Haqqani-Netzwerkes (Afghan Bios 4.3.2023; vgl. JF 5.11.2021) als Innenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 4.3.2023) und Amir Khan Mattaqi als Außenminister (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 14.12.2023), welcher die Taliban bei den Verhandlungen mit den Vereinten Nationen vertrat und im ersten Taliban-Regime unter anderem den Posten des Kulturministers innehatte (Afghan Bios 14.12.2023; vgl. UNSC o.D.b). Der Verteidigungsminister der vorläufigen Taliban-Regierung ist Mohammed Yaqoob (REU 7.9.2021b; vgl. Afghan Bios 6.9.2023), dem 2020 der Posten des militärischen Leiters der Taliban verliehen wurde (Afghan Bios 6.9.2023; vgl. RFE/RL 29.8.2020).
Sah es in den ersten sechs Monaten ihrer Herrschaft so aus, als ob das Kabinett unter dem Vorsitz des Premierministers die Regierungspolitik bestimmen würde, wurden die Minister in großen und kleinen Fragen zunehmend vom Emir, Haibatullah Akhundzada, überstimmt (USIP 17.8.2022). Diese Dynamik wurde am 23.3.2022 öffentlich sichtbar, als der Emir in letzter Minute die lange versprochene Rückkehr der Mädchen in die Oberschule kippte (USIP 17.8.2022; vgl. RFE/RL 24.3.2022, UNGA 15.6.2022). Seitdem ist die Bildung von Mädchen und Frauen und andere umstrittene Themen ins Stocken geraten, da pragmatische Taliban-Führer dem Emir nachgeben, der sich von ultrakonservativen Taliban-Klerikern beraten lässt. Ausländische Diplomaten haben begonnen, von "duellierenden Machtzentren" zwischen den in Kabul und Kandahar ansässigen Taliban zu sprechen (USIP 17.8.2022) und es gibt auch Kritik innerhalb der Taliban, beispielsweise als im Mai 2022 ein hochrangiger Taliban-Beamter als erster die Taliban-Führung offen für ihre repressive Politik in Afghanistan kritisierte (RFE/RL 3.6.2022a). Doch der Emir und sein Kreis von Beratern und Vertrauten in Kandahar kontrollieren nicht jeden Aspekt der Regierungsführung. Mehrere Ad-hoc-Ausschüsse wurden ernannt, um die Politik zu untersuchen und einen Konsens zu finden, während andere Ausschüsse Prozesse wie die Versöhnung und die Rückkehr politischer Persönlichkeiten nach Afghanistan umsetzen. Viele politische Maßnahmen unterscheiden sich immer noch stark von einer Provinz zur anderen des Landes. Die Taliban-Beamten haben sich, wie schon während ihres Aufstands, als flexibel erwiesen, je nach den Erwartungen der lokalen Gemeinschaften. Darüber hinaus werden viele Probleme nach wie vor über persönliche Beziehungen zu einflussreichen Taliban-Figuren gelöst, unabhängig davon, ob deren offizielle Position in der Regierung für das Problem verantwortlich ist (USIP 17.8.2022).
In seiner traditionellen jährlichen Botschaft zum muslimischen Feiertag Eid al-Fitr im Jahr 2023 sagte Haibatullah Akhundzada, sein Land wünsche sich positive Beziehungen zu seinen Nachbarn, den islamischen Ländern und der Welt, doch dürfe sich kein Land in deren innere Angelegenheiten einmischen. Er vermied es, direkt auf das Bildungsverbot von Mädchen und die Beschäftigungseinschränkungen von Frauen einzugehen, sagte jedoch, dass die Taliban-Regierung bedeutende Reformen in den Bereichen Kultur, Bildung, Wirtschaft, Medien und anderen Bereichen eingeleitet hat, und "die schlechten intellektuellen und moralischen Auswirkungen der 20-jährigen Besatzung" dabei seien, zu Ende zu gehen (AnA 18.4.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).
Anfang Juni 2023 wurde berichtet, dass es Anzeichen dafür gibt, dass die Taliban die Stadt Kandahar zu ihrem Stützpunkt machen würden. Dies wir als ein Zeichen für den schwindenden Einfluss der gemäßigteren Taliban-Mitglieder in der Hauptstadt Kabul gesehen, während das Regime seine repressive Politik weiter verschärft. In den letzten Monaten haben Vertreter des Regimes Delegationen aus Japan und Katar nach Kandahar eingeladen, anstatt sich mit anderen Beamten in Kabul zu treffen. Der oberste Sprecher der Taliban, Zabihullah Mujahid, und ein zweiter Informationsbeauftragter aus Nordafghanistan, Inamullah Samangani, wurden von ihren Büros in Kabul nach Kandahar verlegt (WP 5.6.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).
Im Mai 2023 traf sich der Außenminister der Taliban mit seinen Amtskollegen aus Pakistan und China in Islamabad. Im Mittelpunkt des Treffens stand die Einbeziehung Afghanistans in den chinesisch-pakistanischen Wirtschaftskorridor (CPEC) sowie die Situation von Frauen in Afghanistan (AnA 5.5.2023; vgl. VOA 6.5.2023).
Am 22.11.2023 verkündeten die Taliban den Abschluss einer zweitägigen Kabinettssitzung in der Provinz Kandahar unter der Leitung von Hebatullah Akhundzada. Auffallend war, dass Themen wie das Recht der Frauen auf Arbeit und Zugang zu Bildung sowie ihre Teilhabe an der Gesellschaft nicht Gegenstand der Beratungen waren. Es wurden Gespräche über Themen wie die Rückführung von Migranten, die Entwicklung diplomatischer Beziehungen zur Bewältigung bestehender Probleme, Import-Export- und Transitfragen sowie die Beibehaltung der Geldpolitik der Taliban geführt (AT 22.11.2023; vgl. AMU 22.11.2023).
Internationale Anerkennung der Taliban
Mit Anfang 2024 hat noch kein Land die Regierung der Taliban anerkannt (TN 9.1.2024; vgl. VOA 10.12.2023) dennoch sind Vertreter aus Indien, China, Usbekistan, der Europäischen Union, Russland und den Vereinigten Arabischen Emiraten in Kabul präsent (TN 30.10.2022). Im März 2023 gab der Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid bekannt, dass Diplomaten in mehr als 14 Länder entsandt wurden, um die diplomatischen Vertretungen im Ausland zu übernehmen (PBS 25.3.2023; vgl. OI 25.3.2023). Im November 2023 sagte der stellvertretende Taliban-Außenminister, dass derzeit 20 Botschaften in Nachbarländern aktiv wären (TN 29.11.2023), einschließlich der afghanischen Botschaft in Teheran (TN 27.2.2023) und des strategisch wichtigen Generalkonsulats in Istanbul (Afintl 27.2.2023; vgl. KP 23.2.2023a). Berichten zufolge nahm auch die Türkei im Oktober 2023 einen neuen von den Taliban ernannten Diplomaten in der afghanischen Botschaft in Ankara auf (Afintl 14.2.2024). Eine Reihe von Ländern verfügt auch weiterhin über offizielle Botschafter in Afghanistan. Dazu gehören China und andere Nachbarländer wie Pakistan, Iran und die meisten zentralasiatischen Republiken, aber auch Russland, Saudi-Arabien, Katar, die Vereinigten Arabischen Emirate und Japan (AAN/Ruttig 7.12.2023). Aber auch westliche Länder (mit Ausnahme Australiens) haben weder ihre Botschaften in Kabul offiziell geschlossen noch die diplomatischen Beziehungen offiziell abgebrochen. Vielmehr unterhalten sie kein diplomatisches Personal im Land. Einige Länder haben immer noch amtierende Botschafter oder nachrangige Diplomaten, die nicht in Kabul ansässig sind, und es gibt auch eine (schrumpfende) Anzahl von Sonderbeauftragten für Afghanistan (im Rang eines Botschafters). Die meisten westlichen Kontakte mit Taliban-Beamten finden in Katars Hauptstadt Doha statt, wo Diplomaten unterhalb der Botschafterebene ihre Länder bei den Treffen vertreten (AAN/Ruttig 7.12.2023).
Am 24.11.2023 entsandten die Taliban ihren ersten Botschafter in die Volksrepublik China (KP 26.11.2023; vgl. AMU 25.11.2023). Dieser Schritt folgt auf die Ernennung eines Botschafters Chinas in Afghanistan zwei Monate zuvor, womit China das erste Land ist, das einen Botschafter nach Kabul unter der Taliban-Regierung entsandt hat (AMU 25.11.2023; vgl. VOA 10.12.2023). Nach Ansicht einiger Analysten sowie ehemaliger Diplomatinnen und Diplomaten bedeutet dieser Schritt die erste offizielle Anerkennung der Taliban-Übergangsregierung durch eine große Nation (VOA 31.1.2024; vgl. REU 13.9.2023). Nach Angaben des US-Außenministeriums prüfen die USA die Möglichkeit von konsularischem Zugang in Afghanistan. Dies solle keine Anerkennung der Taliban-Regierung bedeuten, sondern dem Aufbau funktionaler Beziehungen dienen, um eigene Ziele besser verfolgen zu können (USDOS 31.10.2023). Ebenso am 24.11.2023 wurde die afghanische Botschaft in Neu-Delhi, die von loyalen Diplomaten der Vor-Taliban-Regierung geleitet wurde, endgültig geschlossen. Einige Tage später erklärten Taliban-Vertreter, dass die Botschaft bald wieder eröffnet und von ihren Diplomaten geleitet werden wird (Wilson 12.12.2023; vgl. VOA 29.11.2023).
Drogenbekämpfung
Im April 2022 verfügte der oberste Taliban-Führer Haibatullah Akhundzada, dass der Anbau von Mohn, aus dem Opium, die wichtigste Zutat für die Droge Heroin, gewonnen werden kann, streng verboten ist (BBC 6.6.2023).
Die vom Büro der Vereinten Nationen für Drogen- und Verbrechensbekämpfung (UNODC) im Jahr 2023 durchgeführte Opiumerhebung in Afghanistan ergab, dass der Schlafmohnanbau nach einem von den Taliban-Behörden im April 2022 verhängten Drogenverbot um schätzungsweise 95 % zurückgegangen ist (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023), wobei ein anderer Experte den Rückgang des Mohnanbaus zwischen 2022 und 2023 auf 80 % schätzt (BBC 6.6.2023). Der Opiumanbau ging in allen Teilen des Landes von 233.000 Hektar auf 10.800 Hektar im Jahr 2023 zurück, was zu einem Rückgang des Opiumangebots von 6.200 Tonnen im Jahr 2022 auf 333 Tonnen im Jahr 2023 führte. Der drastische Rückgang hatte unmittelbare humanitäre Folgen für viele gefährdete Gemeinschaften, die auf das Einkommen aus dem Opiumanbau angewiesen sind. Das Einkommen der Bauern aus dem Verkauf der Opiumernte 2023 an Händler sank um mehr als 92 % von geschätzten 1,36 Milliarden Dollar für die Ernte 2022 auf 110 Millionen Dollar im Jahr 2023 (UNODC 11.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Der weniger rentable Weizenanbau hat den Mohn auf den Feldern verdrängt - und viele Landwirte berichten, dass sie finanziell darunter leiden (BBC 6.6.2023).
Am 30.9.2023 veröffentlichte der Oberste Gerichtshof der Taliban eine Reihe von Drogenstrafverfahren, die Strafen für den Anbau, den Verkauf, den Transport, die Herstellung und den Konsum von Mohn, Marihuana und anderen Rauschmitteln vorsehen. Die vorgeschriebenen Freiheitsstrafen reichen von einem Monat bis zu sieben Jahren ohne die Möglichkeit, eine Geldstrafe zu zahlen (UNGA 1.12.2023).
Anfang 2024 verkündete der amtierende Verteidigungsminister der Taliban, dass im Zuge der Bekämpfung der Drogenproduktion im Jahr 2023 4.472 Tonnen Rauschgift vernichtet, 8.282 an der Produktion und am Schmuggel beteiligte Personen verhaftet und 13.904 Hektar Mohnanbaufläche gerodet wurden. Experten gehen jedoch davon aus, dass die Armut in den ländlichen und landwirtschaftlichen Gemeinden wieder zum Mohnanbau führen könnte (VOA 3.1.2024). So gab ein Farmer, dessen Feld von den Taliban wegen Mohnanbaus zerstört wurde an, dass er durch Weizenanbau nur einen Bruchteil dessen verdienen würde, was er mit Mohn verdienen könnte (BBC 6.6.2023).
Sicherheitslage
Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.8.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.1.2022, vgl. UNAMA 27.6.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.1.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.6.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.6.2023).
UNAMA registrierte im Zeitraum 15.08.2021 - 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.6.2023; vgl. AA 26.6.2023) und vom 20.5.2023 bis 22.10.2023 mindestens 344 zivile Opfer, davon 96 Tote (UNGA 18.9.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.6.2023).
Im Jahr 2023 war ein Rückgang der von ACLED (Armed Conflict Location Event Data Project) und UCDP (Uppsala Conflict Data Program) erfassten sicherheitsrelevanten Vorfälle zu verzeichnen. Die Zahl der von ACLED bis September 2023 erfassten Ereignisse ging im Vergleich zum selben Zeitraum im Jahr 2022 um 34,8 % zurück (1.979 gegenüber 689 Ereignissen), während die UCDP-Daten für denselben Zeitraum einen Rückgang um 48,2 % anzeigten (720 gegenüber 347 Ereignissen) (EUAA 12.2023; vgl. ACLED 17.10.2023).
Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:
19.8.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)
1.1.2022 - 21.5.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)
22.5.2022 - 16.8.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)
17.8.2022 - 13.11.2022: 1.587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)
14.11.2022 - 31.1.2023: 1.088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)
1.2.2023 - 20.5.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.6.2023)
25.5.2023 - 31.7.2023: 1.259 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 1 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 18.9.2023)
1.8.2023 - 21.10.2023: 1.414 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 2 % gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 1.12.2023)
Ende 2022 und während des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.2.2023; vgl. UNGA 20.6.2023, UNGA 18.9.2023, UNGA 20.6.2023), wobei diese nach Einschätzung der Vereinten Nationen den Taliban die Kontrolle über ihr Gebiet nicht streitig machen können (UNGA 1.12.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.4.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront (AFF) im Distrikt Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.6.2023).
Ca. 50 % der sicherheitsrelevanten Vorfälle des Jahres 2023 entfielen auf die Regionen im Norden, Osten und Westen wobei die Provinzen Nangarhar, Kunduz, Herat (UNGA 20.6.2023), Takhar (UNGA 18.9.2023) und Kabul am stärksten betroffen waren (UNGA 1.12.2023).
Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.7.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlich TTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.7.2023).
Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.1.2022; vgl. UNGA 15.6.2022, UNGA 14.9.2022, UNGA 7.12.2022), so nahmen auch diese im Lauf der Jahre 2022 (UNGA 7.12.2022; vgl. UNGA 27.2.2023) und in 2023 wieder ab (UNGA 20.6.2023; vgl. UNGA 18.9.2023, UNGA 1.12.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.1.2023; vgl. UNAMA 22.1.2024). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.6.2023).
Mit Verweis auf das United Nations Department of Safety and Security (UNDSS) berichtet IOM (International Organization for Migration), dass organisierte Verbrechergruppen in ganz Afghanistan an Entführungen zur Erlangung von Lösegeld beteiligt sind. 2023 wurden 21 Entführungen dokumentiert, 2024 waren es, mit Stand Februar 2024, zwei. Anscheinend werden nicht alle Entführungen gemeldet, und oft zahlen die Familien das Lösegeld. Die meisten Entführungen (soweit Informationen verfügbar waren) fanden in oder in der Nähe von Wohnhäusern statt und nicht auf der Straße. Von den 21 im Jahr 2023 gemeldeten Entführungen ereigneten sich vier in Kabul. Zwei der Vorfälle in Kabul betrafen die Entführung ausländischer Staatsangehöriger, wobei nur wenige Einzelheiten über die Umstände der Entführungen bekannt wurden. Die Taliban-Sicherheitskräfte reagierten aktiv auf Entführungsfälle. Im Juni 2023 leiteten die Taliban beispielsweise in Kabul eine erfolgreiche Rettungsaktion eines entführten ausländischen Staatsangehörigen. In der Provinz Balkh führte eine Reaktion der Taliban gegen die Entführer im Februar 2023 zum Tod eines Entführers und zur Festnahme von zwei weiteren Personen (IOM 22.2.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul-Stadt, Herat-Stadt und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3 % der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 70,7 % bzw. 79,7 % der Befragen an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.1.2022).
Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul-Stadt. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 3.2.2023).
Verfolgungungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten
Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitsbehörden abzusehen (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer "schwarzen Liste" der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.8.2021a; vgl. DW 20.8.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 1.11.2021; vgl. NYT 29.8.2021), unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.8.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Irisscans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.3.2022). So wurde beispielsweise berichtet, dass ein ehemaliger Militäroffizier nach seiner Abschiebung von Iran nach Afghanistan durch ein biometrisches Gerät identifiziert wurde und danach von den Taliban gewaltsam zum Verschwinden gebracht wurde. Ein weiterer Rückkehrer aus Iran berichtet, dass im Zuge der Abschiebung aus Iran Daten der Rückkehrer vom iranischen Geheimdienst an die Taliban weitergegeben werden (KaN 18.10.2023).
Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung nutzt soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.8.2021; vgl. BBC 20.8.2021a, 8am 14.11.2022), was dazu führt, dass Afghanen seit der Machtübernahme der Taliban in den sozialen Medien Selbstzensur verüben, aus Angst und Unsicherheit (Internews 12.2023). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 9.1.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.8.2021). Ein hochrangiges Mitglied der ehemaligen Streitkräfte berichtet, dass ihm vor seiner Rückkehr verschiedene Versprechen gemacht wurden, er bei Ankunft auf dem Flughafen in Kabul jedoch wie ein Feind behandelt wurde. Er wurde sofort erkannt, da die Taliban sein Bild und weitere Informationen zu seiner Person über die sozialen Medien verbreiteten. Mit Stand Oktober 2023 lebt er in Kabul, sein Haus wurde mehrfach durch die Taliban durchsucht und sein Bankkonto gesperrt. Ein anderes Mitglied der ehemaligen Streitkräfte gab an, dass seine Informationen vor seiner Rückkehr auf Twitter [Anm.: jetzt X] verbreitet wurden und ein weiterer Rückkehrer berichtete, dass er eine biometrische Registrierung durchlaufen musste (KaN 18.10.2023).
Im Sommer 2023 wurde berichtet, dass die Taliban ein groß angelegtes Kameraüberwachungsnetz für afghanische Städte aufbauen (AI 5.9.2023; vgl. VOA 25.9.2023), das die Wiederverwendung eines Plans beinhalten könnte, der von den Amerikanern vor ihrem Abzug 2021 ausgearbeitet wurde, so ein Sprecher des Taliban-Innenministeriums. Die Taliban-Regierung hat sich auch mit dem chinesischen Telekommunikationsausrüster Huawei über eine mögliche Zusammenarbeit beraten, sagte der Sprecher (VOA 25.9.2023; vgl. RFE/RL 1.9.2023), wobei Huawei bestritt, beteiligt zu sein (RFE/RL 1.9.2023). Beobachter befürchten jedoch, dass die Taliban ihr Netz von Überwachungskameras auch dazu nutzen werden, abweichende Meinungen zu unterdrücken und ihre repressive Politik durchzusetzen (RFE/RL 1.9.2023), einschließlich der Einschränkung des Erscheinungsbildes der Afghanen, der Bewegungsfreiheit, des Rechts zu arbeiten oder zu studieren und des Zugangs zu Unterhaltung und unzensierten Informationen (RFE/RL 1.9.2023).
Regionen Afghanistans
[…] Afghanistan verfügt über 34 Provinzen, die in Distrikte gegliedert sind. Auf einer Fläche von 652.230 Quadratkilometern (CIA 1.2.2024) leben ca. 34,3 (NSIA 4.2022) bis 39,2 Millionen Menschen (CIA 1.2.2024). Es grenzt an sechs Länder: China (91 km), Iran (921 km) Pakistan (2.670 km), Tadschikistan (1.357 km), Turkmenistan (804 km), Usbekistan (144 km) (CIA 1.2.2024). Seit der beinahe kampflosen Einnahme Kabuls durch die Taliban am 15.8.2021 steht Afghanistan nahezu vollständig unter der Kontrolle der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. EUAA 12.2023). […]
Kabul-Stadt
[…] Kabul-Stadt ist die Hauptstadt Afghanistans und verfügt über eine geschätzte Einwohnerzahl zwischen 4,589.000 (CIA 1.2.2024) und ca. 4,801.200 Personen (NSIA 4.2022). Die Stadt ist aufgeteilt in 22 Bezirke und verfügt über einen internationalen Flughafen, der sich im 15. Stadt-Bezirk befindet (AAN 2019). Die Bevölkerung besteht aus Paschtunen, Tadschiken, Hazara, Usbeken Turkmenen, Belutschen, Sikhs und Hindus sowie Kutschi (PAN o.D.; vgl. NPS o.D.a).
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
2023
Bei einer Explosion außerhalb des Militärflughafens von Kabul wurden am 1.1.2023 mehrere Menschen getötet oder verletzt (REU 1.1.2023; vgl. RFE/RL 1.1.2023). Nach Angaben der Taliban war für den Angriff die Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) verantwortlich. Am 5.1.2023 kam es zu Razzien in Kabul und Nimroz, die gegen die Verantwortlichen der Attacke gerichtet waren. Acht ISKP-Mitglieder wurden getötet und neun weitere verhaftet (AP 5.1.2023; vgl. AJ 5.1.2023).
Am 11.1.2023 starben mindestens zehn Menschen bei einer Explosion nahe dem Außenministerium der Taliban. Der ISKP übernahm die Verantwortung für den Angriff (RFE/RL 13.1.2023; vgl. BBC 12.1.2023).
Im Februar 2023 gaben die Taliban bekannt, dass sie am 13.2.2023 (VOA 14.2.2023) und am 27.2.2023 Razzien in ISKP-Verstecken in Kabul durchgeführt und mehrere Mitglieder der militanten Gruppe sowie zwei wichtige Kommandanten des Islamischen Staates getötet hätten (VOA 27.2.2023; vgl. KaN 27.2.2023).
Am 23.2.2023 wurden bei einem Bombenanschlag in Kabul nach Angaben lokaler Quellen ein Taliban-Kommandeur getötet und vier Menschen verletzt (MEHR 23.2.2023; vgl. BAMF 30.6.2023).
Am 21.3.2023 haben die Taliban nach eigenen Angaben ein ISKP-Versteck in Kabul ausgehoben und dabei drei ISKP-Mitglieder getötet (BAMF 30.6.2023; vgl. KaN 22.3.2023).
Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden bei einem Selbstmordanschlag vor dem Außenministerium am 27.3.2023 in Kabul mindestens sechs Menschen getötet und zahlreiche weitere verletzt (VOA 27.3.2023; vgl. AJ 27.3.2023). Der ISKP bekannte sich zu dem Anschlag (VOA 27.3.2023).
Am 21.8.2023 wurden bei der Detonation einer Haftbombe zwei Personen in Kabul getötet. Keine Gruppierung hat die Verantwortung für die Explosion übernommen (Crisis 24 22.2.2024; vgl. PAN 21.8.2023).
Zwischen Oktober 2023 und Jänner 2024 kam es zu einer Reihe von IED (improvisierte Sprengsätze)-Angriffen im vornehmlich von Hazara besiedelten Distrikt Dasht-e Barchi für die der ISKP die Verantwortung übernahm. So wurden am 26.10.2023 bei einem Angriff auf einen Sportklub mindestens vier Menschen getötet (FR24 27.10.2023; vgl. VOA 28.10.2023). Bei einem Angriff auf einen Minibus am 7.11.2023 wurden mindestens sieben Menschen getötet und etwa 20 verwundet (UNAMA 22.1.2024; vgl. TN 7.11.2023).
2024
Am 6.1.2024 kam es zu einer Explosion eines Minibusses im Distrikt Dasht-e Barchi (VOA 6.1.2024; vgl. RFE/RL 7.1.2024). Die Angaben zu den Opferzahlen schwanken, jedoch wurden nach Angaben von UNAMA mindestens 25 Menschen getötet oder verwundet (RFE/RL 7.1.2024; vgl. AP 7.1.2024).
Am 11.1.2024 kam es erneut zu einer Explosion in Dasht-e Barchi, bei der zwei Menschen getötet wurden (RFE/RL 12.1.2024; vgl. AP 11.1.2024). Es bekannte sich niemand zu dem Anschlag (AP 11.1.2024).
Ost-Afghanistan
[…] Der Osten Afghanistans grenzt an Pakistan und ist ein wichtiger Teil des paschtunischen Heimatlandes, dessen Stammeseinfluss sich bis nach Westpakistan erstreckt. Jalalabad, die Hauptstadt der Provinz Nangarhar, liegt auf halbem Weg zwischen Torkham (Ende des Khyber-Passes/Grenze zu Pakistan) und Kabul. Sie gilt als die wichtigste afghanische Stadt im Osten und als das Tor nach Afghanistan vom Khyber-Pass aus. Berge und Täler (oft sehr abgelege) dominieren die Region (NPS o.D.d). […]
Distrikte nach Provinz (NSIA 4.2022)
Kabul: Bagrami, Chahar Asyab, Dehsabz, Estalef, Farza, Guldara, Kabul, Kalakan, Khak-e-Jabar, Mir Bacha Kot, Musahi, Paghman, Qara Bagh, Shakar Dara, Surubi/Surobi/Sarobi
Kapisa: Alasay, Hesa Awal Kohistan, Hesa Duwum Kohistan, Koh Band, Mahmud Raqi, Nijrab, Tagab
Khost: Ali Sher (Tirzayee), Baak, Gurbuz, Jaji Maidan, Khost (Matun), Manduzay (Esmayel Khil), Muza Khel, Nadir Shah Kot, Qalandar, Sabari (Yaqubi), Shamul, Spera, Tanay
Kunar: Bar Kunar (auch Asmar), Chapa Dara, Sawkay (auch Chawkay), Dangam, Dara-e-Pech (auch Manogi), Ghazi Abad, Khas Kunar, Marawara, Narang wa Badil, Nari, Noorgal, Sar Kani, Shigal, Watapoor sowie der temporäre Distrikt Sheltan
Laghman: Alingar, Alishing, Dawlat Shah, Mehtarlam, Qarghayi, Bad Pash (also Bad Pakh)
Logar: Azra, Baraki Barak, Charkh, Khar War, Khushi, Mohammad Agha, Pul-e-Alam
Nangarhar: Achin, Bati Kot, Behsud, Chaparhar, Dara-e-Nur, Deh Bala (auch Haska Mena), Dur Baba, Goshta, Hesarak, Jalalabad, Kama, Khugyani, Kot, Kuzkunar, Lalpoor, Muhmand Dara, Nazyan, Pachiragam, Rodat, Sher Zad, Shinwar, Surkh Rud
Paktia: Ahmadaba, Jaji, Dand Patan, Gardez, Jani Khel, Laja Ahmad Khel (auch Laja Mangel), Samkani (auch Chamkani, Tsamkani), Sayyid Karam (auch Mirzaka), Shwak, Wuza Zadran, Zurmat sowie die vier temporären Distrikte Laja Mangel, Mirzaka, Garda Siray, Rohany Baba
Paktika: Barmal, Dila Wa Khushamand, Gomal, Giyan, Jani Khel, Mata Khan, Nika (Naka), Omna, Surobi, Sar Rawzah, Sharan, Turwo, Urgoon, Wazakhwah, Wormamay, Yahya Khel, Yosuf Khel, Zarghun Shahr (auch Khairkot), Ziruk sowie die vier temporären Distrikte Shakeen, Bak Khil, Charbaran, Shakhil Abad
Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen
2023
Die National Resistance Front (NRF) behauptete, am 24.1.2023 in Kapisa drei Taliban-Kämpfer getötet und zwei weitere verletzt zu haben (BAMF 30.6.2023; vgl. 8am 25.1.2023).
Die Afghanistan Freedom Front (AFF) gab bekannt, dass drei Taliban-Mitglieder getötet und vier weitere verwundet wurden, nachdem sie am 8.5.2023 einen Raketenangriff auf das Gouverneursbüro der Taliban in Mahmud-i-Raqi, der Hauptstadt von Kapisa, verübt hatten (Afintl 10.5.2023; vgl. 8am 9.5.2023). Ein Sprecher der Taliban in Kapisa wies jedoch die Behauptungen der AFF zurück (Afintl 10.5.2023).
Im Distrikt Paghman in Kabul wurden im Juli 2023 vier Menschen wegen "moralischer Verbrechen" öffentlich ausgepeitscht (ANI 12.7.2023; vgl. AMU 12.7.2023), darunter auch eine Frau (BAMF 31.12.2023).
Die NRF gab 5.8.2023 an, im Distrikt Shakar Dara in Kabul vier Mitglieder der Taliban getötet zu haben. Die Taliban haben nicht auf die Erklärung der NRF reagiert (Afintl 5.8.2023).
Am 19.8.2023 wurde Berichten zufolge ein hochrangiger Kommandant der pakistanischen Taliban (TTP) in Nangarhar durch einen Luftangriff getötet (KaN 19.8.2023; vgl. BAMF 31.12.2023).
Berichten zufolge wurden bei einem Angriff der AFF in Laghman am 3.9.2023 zwei Taliban getötet und vier weitere verletzt (KaN 3.9.2023). Darauf erfolgte ein Gegenangriff der Taliban gegen die AFF in verschiedenen Regionen des Distriktes Dawlat Shah in Laghman (Afintl 31.8.2023).
Berichten zufolge wurden am 6.12.2023 in Kunar 25 Schüler der Amra Khan High School aus der Stadt Asad-Abad während ihrer Abschlussfeier in einem Park festgenommen, weil sie sich mit der Flagge der [Anm.: ehemaligen] Republik gezeigt hätten (BAMF 31.12.2023; vgl. 8am 6.12.2023).
Erreichbarkeit
Straßen sind die wichtigsten Transportwege in Afghanistan, das über ein Straßennetz von etwa 3.300 km regionalen Fernstraßen, 4.900 km nationalen Fernstraßen, 9.700 km Provinzstraßen, 17.000-23.000 km ländlichen Straßen und etwa 3.000 km städtischen Straßen, darunter 1.060 km in Kabul-Stadt, verfügt. 7 % der Straßen in Afghanistan sind asphaltiert (TSI 19.6.2022). Die ca. 2.300 km lange sogenannte "Ring Road" verbindet die vier größten Städte Afghanistans, nämlich Kabul, Kandahar, Herat und Mazar-e Sharif (TSI 19.6.2022; vgl. RTP 6.4.2022). 700 km grenzüberschreitende Straßen verbinden die Ring Road mit den Nachbarländern (TSI 19.6.2022).
Medien berichten weiterhin von Taliban-Kontrollpunkten an den Straßen (IOM 22.2.2024; vgl. VOA 14.8.2022, AP 3.5.2023, UN-AFGH 7.3.2023) und in den Grenzregionen Afghanistans (8am 24.7.2022; vgl. RFE/RL 19.2.2022), beispielsweise zwischen dem Flughafen Kabul und Kabul-Stadt (NPR 9.6.2022; vgl. VOA 12.5.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).
Dennoch wurden im Vergleich zur Zeit vor der Machtübernahme der Taliban Hunderte Checkpoints an Straßen und Autobahnen abgebaut, weil die Taliban nicht genügend Personal haben, um sie aufrechtzuerhalten, und weil sie in den ländlichen Dörfern, in denen ihre Kämpfer während des jahrzehntelangen Aufstands stationiert waren, keine größere Bedrohung sehen (EAR 24.10.2023; vgl. ICG 12.8.2022).
Nach der Machtübernahme der Taliban sind die Treibstoffpreise zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WEA 17.7.2022). Im Februar 2023 kostete ein Liter Diesel in Kabul ca. 48 AFN (WFP 27.8.2023), mit Februar 2024 lag der Preis für Treibstoff in Kabul zwischen 62 AFN (Diesel) (WFP 18.2.2024) und 70 AFN (IOM 22.2.2024).
Transportwesen
Busse und Taxis sind, abgesehen von Flugzeugen, die einzigen öffentlichen Verkehrsmittel, die in Afghanistan zur Verfügung stehen (RA KBL 23.1.2023). Sie sind 24 Stunden am Tag verfügbar (IOM 12.4.2022). Schätzungen zufolge gibt es ca. zehn führende Anbieter (RA KBL 23.1.2023).
Mit Stand Februar 2024 kosten eine Busfahrt von Kabul nach Mazar-e Sharif AFN 850 (ca. EUR 10,53) und ein Taxi AFN 1.300 (EUR 16,10) (IOM 22.2.2024).
Flugverbindungen
Afghanistan verfügt über mehrere internationale und nationale Flughäfen, wie den internationalen Hamid-Karzai-Flughafen in Kabul, der mit Stand 13.2.2024 unter anderem Flüge zwischen Afghanistan und den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi Arabien, der Türkei, Russland, Pakistan und Indien anbietet (Flightradar 24 13.2.2024a), oder der internationale Flughafen in Mazar-e Sharif, der mit Stand 13.2.2024 die Türkei und Pakistan anfliegt (Flightradar 24 13.2.2024b). Internationale Flüge werden auch auf den Flughäfen in Kandahar (Flightradar 24 13.1.2024) und Herat angeboten (Flightradar 24 13.2.2024c). Die Flughäfen Jalalabad, Khost, Lashkargah, Farah, Kunduz, Faiz Abad, Kandahar und Balkh bieten derzeit nur Inlandsflüge innerhalb Afghanistans an (Flightradar 24 13.2.2024d; vgl. IOM 22.2.2024).
Grenzübergänge
Die Taliban haben die Überquerung der Grenze nach Pakistan und Iran ohne gültige Papiere verboten (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. USDOS 20.3.2023) und man benötigt für das Verlassen von Afghanistan einen gültigen Reisepass und eine Einreiseerlaubnis des Ziellandes (RA KBL 11.3.2024). Jedoch wird dieses Verbot von Schmugglern durch Bestechung von Grenzbeamten umgangen (RFE/RL 3.6.2022b; vgl. RFE/RL 27.5.2022). Am Grenzübergang Chaman [Belutschistan – Kandahar] galt eine Ausnahmeregelung für Einwohner der benachbarten Grenzregionen, mit dem afghanischen Identitätsausweis Tazkira einzureisen (ExT 2.10.2023). Mit 1.11.2023 wurde diese Möglichkeit aufgehoben und es gilt nun für alle eine Pass- und Visa-Vorschrift zur Einreise (DAWN 13.11.2023; vgl. VOA 3.10.2023).
Berichten zufolge kam es in den ersten zwei Jahren seit der Machtübernahme der Taliban bis September 2023 zu mindestens 50 Zwischenfällen an den Grenzen Afghanistans zu Iran, Pakistan, Tadschikistan und Usbekistan (AT 4.9.2023). So kam es im Jahr 2022 beispielsweise zu Zusammenstößen zwischen Taliban und Grenzsoldaten an den Grenzen zwischen Afghanistan und Pakistan (AJ 13.12.2022; vgl. DAWN 22.11.2022, AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023) sowie Afghanistan und Iran (REU 31.7.2022; vgl. AJ 31.5.2023, AA 26.6.2023), die sich im Jahr 2023 fortsetzten (AJ 31.5.2023; vgl. VOA 5.6.2023, UNGA 20.6.2023, UNGA 1.12.2023).
Es kommt zu temporären Schließungen pakistanischer (AJ 6.9.2023; vgl. VOA 21.2.2023) und iranischer Grenzübergange (TN 23.1.2023; vgl. AnA 23.1.2023, AJ 31.5.2023). Beispielsweise wurde am 6.9.2023 der Grenzübergang Torkham zwischen Afghanistan und Pakistan vorübergehend geschlossen, nachdem es zu einem Schusswechsel zwischen Sicherheitskräften beider Länder kam (AJ 6.9.2023; vgl. REU 7.6.2023, UNGA 1.12.2023), wobei der Grenzübergang neun Tage später wieder geöffnet wurde (REU 15.9.2023).
Zentrale Akteure
Taliban
Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe (CFR 17.8.2022), die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.8.2022; vgl. USDOS 20.3.2023). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das "Islamische Emirat Afghanistan" (USDOS 20.3.2023; vgl. VOA 1.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.8.2022).
Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.8.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 7.7.2022a; vgl. CFR 17.8.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022; vgl. Afghan Bios 7.7.2022a, REU 7.9.2021a).
Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban sich von "einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität" zu entwickeln (EUAA 8.2022; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021) und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022; vgl. REU 10.9.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022; vgl. DW 11.10.2021).
Haqqani-Netzwerk
Das Haqqani-Netzwerk hat seine Wurzeln im Afghanistan-Konflikt der späten 1970er-Jahre. Mitte der 1980er-Jahre knüpfte Jalaluddin Haqqani, der Gründer des Haqqani-Netzwerks (GSSR 12.11.2023), eine Beziehung zum Führer von al-Qaida, Osama bin Laden (UNSC o.D.c; vgl. FR24 21.8.2021). Jalaluddin schloss sich 1995 der Taliban-Bewegung an (UNSC o.D.c; vgl. ASP 1.9.2020), behielt aber seine eigene Machtbasis an der Grenze zwischen Afghanistan und Pakistan (UNSC o.D.c). Der Kern der Ideologie der Gruppe ist eine antiwestliche, regierungsfeindliche und "sunnitisch-islamische Deobandi"-Haltung, die an die Einhaltung orthodoxer islamischer Prinzipien glaubt, die durch die Scharia geregelt werden, und die den Einsatz des Dschihad zur Erreichung der Ziele der Gruppe befürwortet. Die Haqqanis lehnen äußere Einflüsse innerhalb des Islams strikt ab und fordern, dass die Scharia das Gesetz des Landes ist (GSSR 12.11.2023).
Nach dem Sturz der Taliban im Jahr 2001 übernahm Jalaluddins Sohn, Sirajuddin Haqqani, die Kontrolle über das Netzwerk (UNSC o.D.c, vgl. VOA 4.8.2022). Er ist seit 2015 auch einer der Stellvertreter des Taliban-Anführers Haibatullah Akhundzada (FR24 21.8.2021; vgl. UNSC o.D.c). Das Haqqani-Netzwerk gilt dank seiner finanziellen und militärischen Stärke - und seines Rufs als skrupelloses Netzwerk - als halbautonom (FR24 21.8.2021), auch wenn es den Taliban angehört (UNSC 21.11.2023; vgl. FR24 21.8.2021).
Das Netzwerk unterhält Verbindungen zu al-Qaida und, zumindest zeitweise bis zur Machtübernahme der Taliban, der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) (VOA 30.8.2022; vgl. UNSC 26.5.2022). Es wird angemerkt, dass nach der Machtübernahme und der Eskalation der ISKP-Angriffe kein Raum mehr für Unklarheiten in der strategischen Konfrontation der Taliban mit ISKP bestand und es daher nicht im Interesse der Haqqanis lag, solche Verbindungen zu pflegen (UNSC 26.5.2022). Zudem wird vermutet, dass auch enge Verbindungen zum pakistanischen Geheimdienst (VOA 30.8.2022; vgl. DT 7.5.2022) und den Tehreek-e-Taliban (TTP), den pakistanischen Taliban, bestehen (UNSC 26.5.2022).
Sicherheitsbehörden
Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.8.2022) und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Milizen-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte der Taliban-Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen (AA 26.6.2023; vgl. CPJ 1.3.2022). Dem Taliban-Stabschef der Streitkräfte zufolge bestünde die Armee mit Stand März 2023 aus 150.000 Taliban-Kämpfern und solle kommendes Jahr auf 170.000 vergrößert werden. Angestrebt sei eine 200.000 Mann starke Armee (AA 26.6.2023). Der Geheimdienst (General Directorate for [Anm.: auch "of"] Intelligence, GDI), ein Nachrichtendienst, der früher als "National Directorate of Security" (NDS) bekannt war (CPJ 1.3.2022; vgl. AA 26.6.2023), wurde dem Taliban-Staatsoberhaupt Emir Hibatullah Akhundzada direkt unterstellt. Das Innenministerium der Taliban-Regierung hat wiederholt angekündigt, Polizisten, u. a. im Bereich der Verkehrspolizei, zu übernehmen. Dies ist nach Angaben von UNAMA zumindest in Kabul teilweise erfolgt. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen. Eine breit angelegte Integration der bisherigen Angehörigen der Sicherheitskräfte hat bisher nicht stattgefunden (AA 26.6.2023) und auch ein internationaler Analyst führte an, dass die Zahl der rekrutierten ehemaligen Sicherheitskräfte begrenzt sei und es sich im Allgemeinen um Spezialisten handele (EUAA 12.2023). Experten zufolge sind die Taliban jedoch noch weit davon entfernt, eine funktionierende Luftwaffe zu verwirklichen, die den Luftraum im Falle ausländischer Übergriffe oder inländischer Aufstände sichern könnte. Der Bestand an Hubschraubern und Fluggeräten gilt als veraltet und es gibt zumindest fünf bestätigte Unfälle in der Militärluftfahrt seit der Machtübernahme, wobei Pilotenfehler als wahrscheinlichste Ursache gelten. Nach Ansicht eines Afghanistan-Experten, müssten die Taliban in erheblichem Umfang Piloten ausbilden und Strategien für die Kommunikation und Koordination mit den Bodentruppen entwickeln, um eine funktionsfähige Luftwaffe aufzubauen. Zwar versuchen die Taliban, Piloten auszubilden, veröffentlichen jedoch keine Zahlen über die Anzahl ihrer Piloten und Techniker und auf Grundlage von Fotos und Videos wird mit Stand Mai 2023 von etwa 50 einsatzfähigen Flugzeugen und Hubschraubern ausgegangen (RFE/RL 25.5.2023).
NGOs und Menschenrechtsaktivisten
Die Lage von Menschenrechtsaktivisten in Afghanistan hat sich seit der Machtübernahme durch die Taliban verschlechtert (FH 1.2023; vgl. USDOS 12.4.2022a, AA 26.6.2023). Sie sind unter den Taliban nicht nur in ihrer Arbeit eingeschränkt, sondern müssen auch aktiv um ihr Überleben im Land kämpfen, da das Taliban-Regime und andere Akteure sie mit Gewalt, Diskriminierung und Propaganda bedrohen. Menschenrechtsverteidiger im ganzen Land sind mehrfachen Risiken und Bedrohungen ausgesetzt, wie z. B. Entführung und Inhaftierung, körperliche und psychische Gewalt, Diffamierung, Hausdurchsuchungen, willkürliche Verhaftung und Folter, Androhung von Einschüchterung und Schikanen sowie Gewalt gegen Aktivisten oder Familienmitglieder durch die Taliban, einschließlich Mord (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023). Anfang Februar 2022 führten die Taliban beispielsweise flächendeckend Hausdurchsuchungen zunächst in Kabul, anschließend auch in angrenzenden Provinzen durch. Sie werden punktuell landesweit fortgesetzt, v. a. in Kabul und anderen Großstädten (AA 26.6.2023).
Einige afghanische Menschenrechtsorganisationen wollen ihre Arbeit aus dem Ausland fortsetzen und bauen zu diesem Zweck ihre oftmals zusammengebrochenen Informationsnetzwerke wieder auf (AA 26.6.2023). Die Afghan Independent Human Rights Commission (AIHRC), deren Rolle in der Verfassung aus Zeiten der Republik verankert ist, war seit August 2021 faktisch aufgelöst. Im Mai 2022 ist per Dekret die rückwirkende Auflösung auch formell beschlossen worden, der von der Taliban-Regierung beschlossene Haushalt sieht keine Mittel für die Institution vor. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Menschenrechtskommission bauen ein unabhängiges Menschenrechtsinstitut im Exil auf (AA 26.6.2023; vgl. AIHRC 26.5.2022).
Trotz der weitreichenden und zunehmenden Unterdrückung des Widerstands gegen die Taliban-Herrschaft hat die NGO Afghan Witness seit der ersten Demonstration im August 2021 fast 70 von Frauen geführte Straßendemonstrationen verifiziert, die zum großen Teil gegen die zunehmenden Einschränkungen des Zugangs von Mädchen und Frauen zu Bildung und Arbeit protestierten. Zwischen dem 1.3.2023 und dem 27.6.2023 hat Afghan Witness 95 separate Frauenproteste aufgezeichnet und analysiert, darunter 84 Proteste in Innenräumen und 11 Straßendemonstrationen in 12 Provinzen in Afghanistan (AfW 15.8.2023). Ab Mitte Jänner 2022 werden Aktivistinnen der seit August 2021 vor allem in Kabul aktiven Protestbewegung sukzessive durch die Sicherheitskräfte der Taliban festgenommen (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023) und es gibt Berichte über Haftbedingungen, u. a. zu Misshandlungen und sexuellen Übergriffen, auch wenn diese schwer zu verifizieren sind (AA 26.6.2023). Die Taliban-Behörden reagierten auch mit Gewalt auf Demonstranten (HRW 30.11.2023; vgl. AI 7.12.2023) und setzten scharfe Munition ein, um diese aufzulösen (HRW 12.10.2022; vgl. Guardian 2.10.2022). Human Rights Watch (HRW) berichtet, dass Frauen zusammen mit Familienmitgliedern, einschließlich kleiner Kinder, verhaftet wurden (HRW 30.11.2023; vgl. AI 7.12.2023). Sie werden unter missbräuchlichen Bedingungen festgehalten und manchmal gefoltert. Wenn sie freigelassen werden, verlangen die Taliban Urkunden über den Besitz ihrer Familie und drohen, diesen zu konfiszieren, wenn die Frau ihren Aktivismus fortsetzt (HRW 30.11.2023).
Berichte über Verhaftungen von Menschenrechtsaktivistinnen setzten sich über die Jahre 2022 (AI 16.11.2022; vgl. HRW 20.10.2022, Rukhshana 4.8.2022, AfW 15.8.2023) und 2023 fort (HRW 11.1.2024; vgl. AJ 21.7.2023, RFE/RL 21.8.2023, AfW 15.8.2023). So wurden beispielsweise Ende 2022 mehrere Frauen aufgrund der Teilnahme an Protesten gegen das Universitätsverbot verhaftet (BBC 22.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022) oder im Juli 2023 Proteste gegen die Schließung von Schönheitssalons gewaltsam aufgelöst (RFE/RL 19.7.2023; vgl. DW 20.7.2023).
Am 24.12.2022 erließen die Taliban-Behörden ein Dekret, das Frauen die Arbeit in NGOs verbietet (OHCHR 27.12.2022; vgl. Guardian 26.12.2022). Fünf führende NGOs haben daraufhin ihre Arbeit in Afghanistan eingestellt. Care International, der Norwegische Flüchtlingsrat (NRC) und Save the Children erklärten, sie könnten ihre Arbeit "ohne unsere weiblichen Mitarbeiter" nicht fortsetzen. Auch das International Rescue Committee stellte seine Dienste ein, während Islamic Relief erklärte, es stelle den Großteil seiner Arbeit ein (BBC 26.12.2022; vgl. Guardian 26.12.2022).
Allgemeine Menschenrechtslage
Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.6.2023).
Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 9.8.2022; vgl. AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023).
Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.6.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023, USDOS 20.3.2023, UNGA 1.12.2023), darunter Hausdurchsuchungen (AA 26.6.2023), Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, AfW 15.8.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.8.2022, AA 26.6.2023, AfW 15.8.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 11.1.2024; vgl. AA 26.6.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.6.2023; vgl. HRW 11.1.2024, AfW 15.8.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.6.2023). Die NGO Afghan Witness berichtet im Zeitraum vom 15.1.2022 bis Mitte 2023 von 3.329 Menschenrechtsverletzungen, die sich auf Verletzungen des Rechts auf Leben, des Rechts auf Freiheit von Folter, der Pressefreiheit, der Versammlungsfreiheit, der Rechte der Frauen und mehr beziehen. Für denselben Zeitraum gibt es auch immer wieder Berichte über die Tötung und Inhaftierung ehemaliger ANDSF-Mitglieder. Hier wurden durch Afghan Witness 112 Fälle von Tötungen und 130 Inhaftierungen registriert, wobei darauf hingewiesen wurde, das angesichts der hohen Zahl von Fällen, in denen Opfer und Täter nicht identifiziert wurden, die tatsächliche Zahl wahrscheinlich höher ist (AfW 15.8.2023).
Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.10.2022, Guardian 2.10.2022) und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.2.2022a, AI 15.8.2022).
Afghan Witness konnte zwischen dem ersten und zweiten Jahr der Taliban-Herrschaft einige Unterschiede erkennen. So gingen die Taliban im ersten Jahr nach der Machtübernahme im August 2021 hart gegen Andersdenkende vor und verhafteten Berichten zufolge Frauenrechtsaktivisten, Journalisten und Demonstranten. Im zweiten Jahr wurde hingegen beobachtet, dass sich die Medien und die Opposition im Land aufgrund der Restriktionen der Taliban und der Selbstzensur weitgehend zerstreut haben, obwohl weiterhin über Verhaftungen von Frauenrechtsaktivisten, Bildungsaktivisten und Journalisten berichtet wird. Frauen haben weiterhin gegen die Restriktionen und Erlasse der Taliban protestiert, aber die Proteste fanden größtenteils in geschlossenen Räumen statt - offenbar ein Versuch der Demonstranten, ihre Identität zu verbergen und das Risiko einer Verhaftung oder Gewalt zu verringern. Trotz dieser Drohungen sind Frauen weiterhin auf die Straße gegangen, um gegen wichtige Erlasse zu protestieren (AfW 15.8.2023).
Religionsfreiheit
Etwa 99 % der afghanischen Bevölkerung sind Muslime. Die Sunniten werden auf 80 bis 89,7 % und die Schiiten auf 7 bis 15 % der Gesamtbevölkerung geschätzt (CIA 1.2.2024; vgl. AA 26.6.2023). Andere Glaubensgemeinschaften machen weniger als 0,3 % der Bevölkerung aus (CIA 1.2.2024; vgl. USDOS 15.5.2023). Die Zahl der Ahmadiyya-Muslime im Land geht in die Hunderte. Zuverlässige Schätzungen über die Gemeinschaften der Baha'i und der Christen sind nicht verfügbar. Es gibt eine geringe Anzahl von Anhängern anderer Religionen. Es gibt keine bekannten Juden im Land (USDOS 15.5.2023).
Anhänger des Baha'i-Glaubens leben vor allem in Kabul und in einer kleinen Gemeinde in Kandahar. Im Mai 2007 befand der Oberste Gerichtshof, dass der Glaube der Baha'i eine Abweichung vom Islam und eine Form der Blasphemie sei. Auch wurden alle Muslime, die den Baha'i-Glauben annehmen, zu Abtrünnigen erklärt. Internationalen Quellen zufolge leben Baha'is weiterhin in ständiger Angst vor Entdeckung und zögerten, ihre religiöse Identität preiszugeben (USDOS 15.5.2023).
Sikhs sehen sich seit Langem Diskriminierungen im mehrheitlich muslimischen Afghanistan ausgesetzt (EUAA 23.3.2022; vgl. DW 8.9.2021). Als die Taliban im August 2021 nach dem Abzug der US-Truppen die Macht in der Hauptstadt wiedererlangt hatten, floh eine weitere Welle von Sikhs aus Afghanistan (EUAA 23.3.2022; vgl. TrI 12.11.2021). Nach der Machtübernahme gaben die Taliban öffentliche Erklärungen ab, wonach deren Rechte geschützt werden würden (EUAA 23.3.2022; vgl. USCIRF 3.2023, USDOS 15.5.2023). Trotz dieser Zusicherungen äußerten sich Sikh-Führer in Medienerklärungen im Namen ihrer Gemeinschaft jedoch besorgt über deren Sicherheit (EUAA 23.3.2022; vgl. USDOS 15.5.2023). Berichten zufolge lebten mit Ende 2022 nur noch neun Sikhs und Hindu in Afghanistan (USDOS 15.5.2023).
Die Möglichkeiten der konkreten Religionsausübung für Nicht-Muslime waren und sind durch gesellschaftliche Stigmatisierung, Sicherheitsbedenken und die spärliche Existenz von Gebetsstätten extrem eingeschränkt (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023). Mit der rigorosen Durchsetzung ihrer strengen Auslegung der Scharia gegenüber allen Afghanen verletzen die Taliban die Religions- und Glaubensfreiheit von religiösen Minderheiten (USCIRF 3.2023). Nominal haben die Taliban religiösen Minderheiten die Zusicherung gegeben, ihre Religion auch weiterhin ausüben zu können (USCIRF 3.2023; vgl. AA 26.6.2023); insbesondere der größten Minderheit, den überwiegend der schiitischen Konfession angehörigen Hazara. In der Praxis ist der Druck auf Nicht-Sunniten jedoch hoch und die Diskriminierung von Schiiten im Alltag verwurzelt (AA 26.6.2023).
Trotz ständiger Versprechen, alle in Afghanistan lebenden ethnischen und religiösen Gemeinschaften zu schützen, ist die Taliban-Regierung nicht in der Lage oder nicht willens, religiöse und ethnische Minderheiten vor radikaler islamistischer Gewalt zu schützen, insbesondere in Form von Angriffen der Gruppierung Islamischer Staat Khorasan Provinz (ISKP) und Fraktionen der Taliban selbst (USCIRF 3.2023).
In einigen Gebieten Afghanistans (unter anderem Kabul) haben die Taliban alle Männer zur Teilnahme an den Gebetsversammlungen in den Moscheen verpflichtet und/oder Geldstrafen gegen Einwohner verhängt, die nicht zu den Gebeten erschienen sind (RFE/RL 19.1.2022) bzw. gedroht, dass Männer, die nicht zum Gebet in die Moschee gehen, strafrechtlich verfolgt werden könnten (BAMF 10.1.2022; vgl. RFE/RL 19.1.2022).
Ethnische Gruppen
In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.3.2022; vgl. CIA 1.2.2024). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 1.2.2024), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 5.1.2022).
Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42 %), Tadschiken (ca. 27 %), Hazara (ca. 9-20 %) und Usbeken (ca. 9 %), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2 %) (AA 26.6.2023).
Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 20.3.2023).
Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 26.6.2023).
Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind. Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 26.6.2023).
Relevante Bevölkerungsgruppen
Kinder
Ca. 40 % (CIA 1.2.2024) bis 43 % (UNFPA 2023) der afghanischen Bevölkerung (ca. 15,6 Millionen) ist unter 14 Jahren und das Bevölkerungswachstum liegt 2023 bei 2,26 % (CIA 1.2.2024). Das Medianalter in Afghanistan liegt zwischen 17 (WoM 2023) und 19,5 Jahren (CIA 1.2.2024) und die Geburtenrate liegt im Jahr 2023 bei ca. 4,5 Kindern pro Frau (CIA 1.2.2024; vgl. UNFPA 2023).
Weiterhin fortbestehende Probleme sind sexueller Missbrauch an Kindern und Jugendlichen sowie Kinderarbeit und Prostitution (AA 26.6.2023). Die NGO Rawadari dokumentierte Vorfälle über sexuellen Missbrauch in Madrassas, die von den Ausbildern dieser Einrichtungen begangen werden, wobei aufgrund des hohen Grades der Stigmatisierung viele dieser Fälle verheimlicht werden (Rawadari 11.2023). Berichten zufolge sind auch Früh- und Zwangsverheiratungen weiterhin weit verbreitet (USDOS 20.3.2023; vgl. AI 7.8.2023), obwohl die Taliban Anfang Dezember 2021 ein Verbot der Zwangsverheiratung in Afghanistan verkündeten. In dem Erlass wurde kein Mindestalter für die Eheschließung genannt, das bisher auf 16 Jahre festgelegt war (AP 3.12.2021; vgl. AJ 3.12.2021). NGOs führen dies auf Faktoren zurück, von denen viele direkt auf Einschränkungen durch und das Verhalten der Taliban zurückzuführen sind. Zu den häufigsten Ursachen für Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratung seit August 2021 gehören die wirtschaftliche und humanitäre Krise, fehlende Bildungs- und Berufsperspektiven für Mädchen (AI 7.2022), das Bedürfnis der Familien, ihre Töchter vor der Heirat mit einem Taliban-Mitglied zu schützen (AI 7.2022; vgl. RFE/RL 14.12.2022), Familien, die Frauen und Mädchen zwingen, Taliban-Mitglieder zu heiraten und Taliban-Mitglieder, die Frauen und Mädchen zwingen, sie zu heiraten (AI 7.2022). Rawadari konnte mehrere Fälle von Zwangsverheiratungen junger (minderjähriger) Mädchen, beispielsweise in Kandahar und Helmand, mit älteren Männern gegen Geld feststellen und verifizieren. Auch über Zwangsehen von Minderjährigen mit Mitgliedern der Taliban wird berichtet (Rawadari 11.2023).
Die Kinderarbeit ist seit der Machtübernahme der Taliban in Afghanistan angestiegen (RFE/RL 17.5.2023). Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News berichtet im November 2023, dass jedes fünfte Kind in Afghanistan von Kinderarbeit betroffen ist. Es wird ausgeführt, dass die Zahl der arbeitenden Kinder in den Provinzen Khost, Bamyan und Helmand im Landesvergleich besonders hoch ist, während andere Provinzen wie Kabul, Badakhshan und Laghman weniger davon betroffen sind (PAN 23.11.2023). Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2023, im Zuge dessen Erwachsene und Kinder in sechs Provinzen Afghanistans (Balkh, Faryab, Jawzjan, Kabul, Nangarhar und Sar-e-Pul) interviewt wurden, sind mehr als ein Drittel der befragten Kinder zur Arbeit gezwungen, um ihren Familien zu helfen. Ebenso gaben mehr als 75 % der befragten Kinder an, dass sie weniger essen würden, als im selben Zeitraum des Vorjahres (STC 15.8.2023). Human Rights Watch schätzt, dass in Afghanistan Millionen von Kindern von Unterernährung betroffen sind (HRW 12.2.2024), während UNICEF die Zahl der von akuter Unterernährung betroffenen Kinder für das Jahr 2023 auf rund 2,3 Millionen schätzt (UNICEF 7.8.2023). Nach Angaben von Save the Children ist das Ausmaß des Hungers im Norden Afghanistans höher, wo Familien stark von der Landwirtschaft abhängig sind (STC 15.8.2023).
Kinder litten bis zur Machtübernahme der Taliban besonders unter dem bewaffneten Konflikt und wurden Opfer von Zwangsrekrutierung, vor allem vonseiten der Taliban (AA 26.6.2023; vgl. USDOS 20.3.2023) und einige Quellen berichten, dass es auch nach der Machtübernahme zu Zwangsrekrutierungen von Kindern kam (Rawadari 11.2023; vgl. USDOS 15.6.2023). Einem afghanischen Analysten zufolge haben die Taliban eine Kommission gebildet, um Kindersoldaten aus ihren Reihen zu entfernen, und heute vermeiden die Taliban in der Regel die Rekrutierung zu junger Männer, indem sie Kinder ohne Bart ablehnen (EUAA 12.2023). Rawadari berichtet jedoch, dass beispielsweise einige Moschee-Imame und Taliban-Funktionäre in den südlichen Provinzen das Erlernen gewaltsamer Kriegstaktiken offen fördern und die Kinder ermutigen, sich den Reihen der Taliban anzuschließen (Rawadari 11.2023).
Bacha Bazi
Während das Eingestehen oder Diskutieren von Sex zwischen Männern in der heutigen Zeit ein großes Tabu ist und gleichgeschlechtliche Beziehungen illegal sind, ist Sex zwischen Männern ein offenes Geheimnis in Afghanistan. Die Einstellung zu Homosexualität - ebenso wie die sexuelle Gewalt gegen Männer und Jungen - ist stark von Bacha Bazi ("Jungenspiel") geprägt, einer seit Langem bestehenden Missbrauchspraxis - im Unterschied zu einvernehmlichen gleichgeschlechtlichen Beziehungen - bei der feminisierte, vorpubertäre Jungen von Kriegsherren, Polizeikommandeuren und anderen mächtigen Männern in einer Art sexueller Sklaverei gehalten werden (HRW 1.2022; vgl. USDOL 28.9.2022).
Die Taliban hatten lange Zeit darauf bestanden, dass Bacha Bazi gegen das islamische Recht verstößt; mehrere Menschenrechtsgruppen berichteten jedoch, dass Bacha Bazi in vielen Teilen des Landes verbreitet ist, auch durch Taliban-Mitglieder. In mindestens vier Fällen im ganzen Land berichteten Jungen im Alter von 14-16 Jahren im Jahr 2022, dass sie von den Taliban missbraucht wurden. Berichten zufolge haben die Vorfälle im Zusammenhang mit Bacha Bazi im Laufe des Jahres 2022 zugenommen, obwohl die Praxis verboten ist (USDOS 20.3.2023).
Außerhalb dieser Praxis werden Jugendliche und vulnerable erwachsene Männer häufig zur Zielscheibe sexueller Gewalt, und die Behörden fügen den Opfern oft noch mehr Schaden zu und unternehmen kaum Anstrengungen, die Täter zu bestrafen. Aktivisten, die solche Gewalt anprangerten, waren manchmal Repressalien ausgesetzt (HRW 1.2022). Da es nicht genügend Heime für Jungen gab, nahmen die Behörden missbrauchte Jungen, darunter viele Opfer von Bacha Bazi, in Rehabilitationszentren für Jugendliche in Gewahrsam, weil ihnen Gewalt drohte, wenn sie zu ihren Familien zurückkehrten, und keine andere Unterkunft zur Verfügung stand (USDOS 20.3.2023).
Schulbildung in Afghanistan
Hilfsorganisationen warnen davor, dass dem öffentlichen Bildungssektor in Afghanistan aufgrund der Geschlechterpolitik der Taliban und des Mangels an ausländischen Geldern der Zusammenbruch droht. Ausländische Geber lehnen die Bildungspolitik der Taliban, insbesondere den Ausschluss von Mädchen von höheren Schulen, ab. Nach Angaben der Vereinten Nationen hatte der jahrzehntelange Konflikt in Afghanistan verheerende Auswirkungen auf das Schulsystem. Im Jänner und Februar 2022 zahlte das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen (UNICEF) afghanischen Lehrern ein Unterstützungsgehalt von 100 Dollar pro Person, stellte die Zahlungen jedoch ein, nachdem die Taliban ihre Zusage, im März 2022 wieder Sekundarschulen für Mädchen zu eröffnen, nicht eingehalten hatten. Hochrangige Taliban-Vertreter, wie der Minister für höhere Bildung, haben sich öffentlich über moderne Bildung beschwert und eine strenge Islamisierung des afghanischen Bildungssystems versprochen (VOA 16.9.2022). Darüber hinaus wandeln die Taliban öffentliche Schulen zunehmend in religiöse Seminare um (VOA 16.9.2022; vgl. RFE/RL 25.6.2022) und überarbeiten den Lehrplan (VOA 16.9.2022; vgl. 8am 17.12.2022, DIP 21.12.2022). Es wird auch darüber berichtet, dass die Gewalt gegen Kinder in den Schulen zugenommen hat. Nach Angaben der NGO Rawadari geht diese Gewalt vor allem von dem neuen Lehrpersonal aus, welches durch die Taliban eingestellt wurde (Rawadari 11.2023).
Die Taliban-Behörden setzen die Umgestaltung des modernen Bildungssystems fort, indem sie Taliban-Mitgliedern neue Lernmöglichkeiten boten und die Möglichkeiten für Frauen und Mädchen einschränkten (UNGA 1.12.2023). Zunächst wurde Mädchen den Besuch von höheren Schulen untersagt, die Geschlechtertrennung und eine neue Kleiderordnung an öffentlichen Universitäten durchgesetzt und versprochen, den nationalen Lehrplan zu überarbeiten (RFE/RL 25.6.2022). Später wurde Frauen der Besuch von Universitäten komplett verboten (HRW 20.12.2022; vgl. RFE/RL 22.12.2022). Am 6.11.2023 erklärte der Taliban-Minister für auswärtige Angelegenheiten in einem Medieninterview, dass die Frage der Frauenbildung von den Taliban-Ministerien für Bildung und Hochschulbildung geprüft werde. Die Taliban-Behörden förderten weiterhin Madrassas als wichtiges Element ihres Bildungsprogramms. Der Taliban-Minister für Bildung trat in ganz Afghanistan öffentlich auf und betonte, dass in öffentlichen Schulen und Madrassas sowohl moderne als auch religiöse Fächer unterrichtet werden sollten, um die Kluft zwischen beiden zu beseitigen. In den Provinzen wurde mit dem Bau neuer Madrassas für männliche und weibliche Schüler begonnen, und es sind weitere geplant, wobei die Mädchen jedoch weiterhin nur die Primarstufe der Schulen besuchen können (UNGA 1.12.2023).
Das afghanische Medium Hasht-e Subh veröffentlichte im Dezember 2022 den endgültigen Plan der Taliban zur Änderung der Lehrpläne (8am 17.12.2022; vgl. DIP 21.12.2022). Demzufolge werden nicht nur mehrere Lehrbücher und Fächer aus dem Lehrplan gestrichen (8am 17.12.2022; vgl. HRW 11.12.2023), sondern auch zahlreiche Vorschläge unterbreitet, die den Inhalt der Lehrbücher weitgehend verändern und den Lehrplänen der früheren Taliban-Herrschaft in den späten 1990er-Jahren ähneln. In den Lehrbüchern sollen alle Bilder von Lebewesen entfernt werden; besonders bedenklich sind für die Taliban Darstellungen von kleinen Mädchen und Menschen beim Sport sowie Bilder von Anatomie in Biologie-Lehrbüchern. Ebenfalls verboten ist jede positive Erwähnung von Demokratie und Menschenrechten, die Förderung von Frieden, Frauenrechten und Bildung, die Vereinten Nationen (dem Bericht zufolge eine "böse Organisation"), die Erwähnung von Musik, Fernsehen, Partys und Feiern, einschließlich Geburtstagen, nicht-muslimische Persönlichkeiten wie Wissenschaftler oder Erfinder (Thomas Edison wird als Beispiel genannt), die Erwähnung von Minen und deren Gefahren (wegen ihrer Verbindung zu den Taliban), Radio ("koloniale Medien"), Bevölkerungsmanagement und die Erwähnung von Wahlen. Selbst historische und literarische Persönlichkeiten Afghanistans, die die Taliban ablehnen, wie berühmte Dichter und schiitische Persönlichkeiten, werden aus dem Lehrplan gestrichen. Alte afghanische Kulturtraditionen, vom Attan-Tanz und Nawruz bis hin zu einheimischen Musikinstrumenten und der farbenfrohen traditionellen Kleidung der Frauen, sollen aus den Lehrbüchern gestrichen werden. Andere Traditionen können zwar erwähnt werden, aber nur, um zu erklären, warum sie schändlich sind; so sollen die Lehrer beispielsweise die "Hässlichkeit" der riesigen Buddhas von Bamyan hervorheben und die Zerstörung solcher Idole durch die Taliban feiern. "Nicht-islamische Überzeugungen" wie "Liebe zu allen Menschen" sollten weggelassen werden. Mitglieder des Taliban-Revisionsausschusses erklären, dass der Zweck des Lehrplans darin besteht, "die ideologischen Interessen der Taliban aufrechtzuerhalten und zu erweitern", und nach Einschätzung von Hasht-e Subh "versuchen die Taliban, eine Ideologie zu kultivieren, die in Konflikt mit anderen Religionen und Kulturen steht". In ihren eigenen Worten empfiehlt das Taliban-Komitee, dass die "Saat des Hasses gegen westliche Länder in die Köpfe der Schüler gepflanzt werden sollte" (8am 17.12.2022; vgl. DIP 21.12.2022).
Im Juli 2023 schlossen die Taliban Lehrerausbildungszentren im ganzen Land (BAMF 31.12.2023; vgl. TN 12.7.2023). Laut Bildungsministerium der Taliban seien die Lehrerausbildungszentren "ineffektiv und unnötig" (KP 13.7.2023; vgl. 8am 16.7.2023). Berichten zufolge ist das Taliban-Bildungsministerium dabei, männliche und weibliche Lehrkräfte, die zuvor in den im Juli abgeschafften Lehrerausbildungszentren beschäftigt waren, in andere Abteilungen, Schulen und Madrassas zu versetzen. Am 4.9.2023 gab die nationale Prüfungsbehörde die Ergebnisse der jährlichen Hochschulaufnahmeprüfung des Landes bekannt. Keiner der 84.234 teilnehmenden Abiturienten war weiblich (UNGA 1.12.2023). Human Rights Watch berichtet, dass Frauen verboten wurde, männliche Schüler zu unterrichten, wodurch weibliche Lehrkräfte ihrer Arbeit beraubt wurden und die Schüler in weiterer Folge oft von unqualifizierten männlichen Ersatzlehrern unterrichtet werden. Körperliche Züchtigung, schon lange ein Problem an afghanischen Schulen, hat ebenso zugenommen (HRW 11.12.2023).
Anm.: Weitere Informationen zur Schulbildung von Mädchen finden sich im Unterkapitel "Bildung für Frauen und Mädchen" im Kapitel "Frauen".
Bewegungsfreiheit
Afghanistan befindet sich aktuell weitgehend unter der Kontrolle der Taliban; Widerstandsgruppen gelingt es bislang nicht oder nur vorübergehend, effektive territoriale Kontrolle über Gebiete innerhalb Afghanistans auszuüben. Dauerhafte Möglichkeiten, dem Zugriff der Taliban auszuweichen, bestehen daher gegenwärtig nicht. Berichte über Verfolgungen machen deutlich, dass die Taliban aktiv versuchen "Ausweichmöglichkeiten" im Land zu unterbinden (AA 26.6.2023).
Nach der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 war der Reiseverkehr zwischen den Städten im Allgemeinen ungehindert möglich (USDOS 20.3.2023). Die Taliban setzen jedoch Kontrollpunkte ein, um den Verkehr innerhalb des Landes zu regeln, und es wird berichtet, dass sie Reisende durchsuchen und nach bekannten oder vermeintlichen Regimegegnern fahnden. Außerdem werden Mobiltelefone und Social-Media-Aktivitäten der Reisenden überprüft (FH 9.3.2023). So wurde im Jahr 2022 berichtet, dass zwischen dem Flughafen von Kabul und der Stadt Kabul bewaffnete Taliban Kontrollpunkte besetzen und die Straßen patrouillierten (VOA 12.5.2022; vgl. NPR 9.6.2022). Einem ehemaligen afghanischen Militärkommandanten zufolge überprüfen Taliban-Kräfte die Namen und Gesichter von Personen an Kontrollpunkten anhand von "Listen mit Namen und Fotos ehemaliger Armee- und Polizeiangehöriger" (HRW 30.3.2022). Meistens handelt es sich um Routinekontrollen (IOM 22.2.2024), bei denen nur wenig kontrolliert wird (SIGA 25.7.2023). Wenn jedoch ein Kontrollpunkt aus einem bestimmten Grund eingerichtet wird, kann diese Durchsuchung darauf abzielen, bestimmte Gegenstände wie Drogen, Waffen oder Sprengstoff aufzuspüren. Kontrollpunkte, die von den Taliban besetzt sind, sind über ganz Afghanistan verteilt und befinden sich in der Regel entlang der Hauptversorgungsrouten und in der Nähe der Zugänge zu größeren Städten. Die Haltung und der Umfang der Durchsuchungen an diesen Kontrollpunkten variieren je nach Sicherheitslage. Darüber hinaus werden je nach Bedarf Kontrollpunkte und Straßensperren für Suchaktionen, Sicherheitsvorfälle oder VIP-Bewegungen eingerichtet (IOM 22.2.2024).
Seit Dezember 2021 ist es afghanischen Frauen untersagt, ohne einen Mahram Fernreisen zu unternehmen. Innerhalb besiedelter Gebiete konnten sich Frauen freier bewegen, obwohl es immer häufiger Berichte über Frauen ohne Mahram gab, die angehalten und befragt wurden (USDOS 20.3.2023). Das Taliban-Ministerium für die Verbreitung von Tugend und die Verhinderung von Lastern hat es Fahrern verboten, allein reisende Frauen mitzunehmen (RFE/RL 19.1.2022; vgl. DW 26.12.2021). Zu darüber hinausgehenden Bewegungseinschränkungen liegen IOM-Afghanistan keine offiziellen Berichte vor. Es gab jedoch Fälle, in denen Bürger misshandelt wurden, weil sie sich nicht an die von den Taliban auferlegten üblichen Regeln hielten. IOM berichtet auch über eine steigende Anzahl von Vorfällen, bei denen UNSMS-Personal (United Nations Security Management System) vorübergehend angehalten wurde, wobei hier die Vorgehensweise der Taliban je nach Ort unterschiedlich ist (IOM 22.2.2024).
Anm.: Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022).
Grundversorgung und Wirtschaft
Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.6.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNDP 18.4.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.7.2022; vgl. UNDP 18.4.2023, NH 31.1.2024). Die humanitäre Lage bleibt angespannt (AA 26.6.2023; vgl. UNGA 1.12.2023). Während Afghanistan gute Fortschritte bei der Aufrechterhaltung von Stabilität und Sicherheit gemacht zu haben scheint, hat sich die afghanische Wirtschaft von dem erheblichen Produktionsrückgang seit 2020 nicht erholt. Dies ist größtenteils auf eingeschränkte Bankdienstleistungen und Operationen des Finanzsektors, Unterbrechungen in Handel und Gewerbe, geschwächte und isolierte wirtschaftliche Institutionen und fast keine ausländischen Direktinvestitionen oder Geberunterstützung für die produktiven Sektoren zurückzuführen (UNDP 12.2023).
Fast zwei Drittel der afghanischen Haushalte haben auch zwei Jahre nach dem Regimewechsel mit einem extrem hohen Maß an Entbehrungen zu kämpfen. Im Jahr 2023 sind laut einem Bericht von UNDP (United Nations Development Programme) 69 % der afghanischen Bevölkerung existenzgefährdet, da sie keinen Zugang zu medizinischer Versorgung, lebensnotwendigen Gütern, angemessenen Lebensbedingungen und Beschäftigungsmöglichkeiten haben, die für ein Leben auf dem Existenzminimum notwendig sind. Dies ist eine Verbesserung um 19 % im Vergleich zu den 85 % im Jahr 2022 (UNDP 12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programmes hatten im Dezember 2023 38 % der Haushalte im Rahmen der Nahrungsmittelaufnahme hohe Bewältigungsstrategien aufzuwenden, was einen Rückgang um 5 % gegenüber September 2023 bedeutet. Zu diesen verbrauchsorientierten Bewältigungsstrategien zählen beispielsweise der Kauf billigerer Nahrungsmittel, das Borgen von Lebensmitteln von Verwandten oder Freunden, die Einschränkung der Portionsgröße bei Erwachsenen oder das Reduzieren der Anzahl der Mahlzeiten pro Tag (WFP 11.2.2024).
Nach Angaben der Taliban-Behörden wurden die Gehälter aller Staatsbediensteten, einschließlich der Frauen, die zu Hause bleiben mussten, weiter gezahlt. Das Taliban-Ministerium für Märtyrer- und Behindertenangelegenheiten gab Anfang September bekannt, dass es die Zahlungen für die Familien von Märtyrern und Behinderten aus den Zeiten der Republik und der de facto-Taliban-Behörde abgewickelt habe, obwohl die Pensionen der pensionierten Staatsbediensteten aus der Zeit der Republik nicht ausgezahlt wurden (UNGA 1.12.2023). Laut einem Rechtsanwalt in Kabul ist das Rentensystem in Afghanistan derzeit ausgesetzt. Mit Stand Februar 2024 gibt es keine wirksamen Vorschriften und Gesetze der Taliban, die zeigen, wie ein Rentensystem funktionieren soll (RA KBL 19.2.2024).
Seit April 2023 ist ein anhaltender deflationärer Trend zu beobachten, der durch schwindende Ersparnisse der Haushalte, geringere öffentliche Ausgaben, höhere Arbeitslosigkeit und negative Auswirkungen auf die Einkommen der Landwirte aufgrund des Verbots des Opiumanbaus gekennzeichnet ist (WFP 11.2.2024). Insgesamt haben sich die Lebensbedingungen der Haushalte im Jahr 2023 leicht verbessert, was größtenteils auf internationale Hilfe zurückzuführen ist. Trotz eines Anstiegs des durchschnittlichen monatlichen Realeinkommens der Haushalte um 76 % im Vergleich zu 2022 ist der Subsistenzbedarf von mehr als der Hälfte der Haushalte immer noch höher als ihr Einkommen (UNDP 12.2023).
Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der sozioökonomischen Krise betroffen (UNDP 12.2023) und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 11.1.2024). 2023 ist der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen weiblichen Haushaltsmitglieder über alle Beschäftigungsarten hinweg um fast die Hälfte zurückgegangen, während der Beschäftigungsanteil der erwerbstätigen männlichen Haushaltsmitglieder im gleichen Zeitraum um 11 % gestiegen ist (UNDP 12.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 11.1.2024; vgl. UNDP 18.4.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 11.1.2024).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90 % der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 3.2.2023).
Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.6.2023).
Naturkatastrophen
Afghanischen Haushalte sind nach wie vor stark von Naturkatastrophen betroffen und anfällig für Klimaschocks. Afghanistan hat unter den Ländern mit niedrigem Einkommen in den letzten 40 Jahren die meisten Todesopfer durch Naturkatastrophen zu beklagen und steht weltweit auf Platz 5 der klimatisch am stärksten gefährdeten Länder (UNDP 18.4.2023).
Afghanistan erlebte im Jahr 2022 Naturkatastrophen (UNOCHA 1.2023) von denen allein zwischen Jänner 2022 und Jänner 2023 mehr als 241.052 Menschen in 33 von 34 Provinzen betroffen waren. Afghanistan ist anfällig für Erdbeben, Überschwemmungen, Dürre, Erdrutsche und Lawinen. Mehr als drei Jahrzehnte Konflikt, gepaart mit Umweltzerstörung und unzureichenden Investitionen in Strategien zur Verringerung des Katastrophenrisikos, haben dazu beigetragen, dass die afghanische Bevölkerung immer schwerer mit Naturkatastrophen fertig wird. Im Durchschnitt sind jedes Jahr 200.000 Menschen von solchen Katastrophen betroffen (UNOCHA 2.2.2023).
Nach einem Bericht von UNOCHA erlebt Afghanistan 2024 das dritte Dürrejahr in Folge, während 30 von 34 Provinzen mit einer schlechten oder sehr schlechten Wasserqualität zu kämpfen haben (UNOCHA 7.1.2024).
Im März 2023 kam es zu einem schweren Erdbeben im Norden Afghanistans (REU 22.3.2023; vgl. FR24 22.3.2023). Berichten zufolge kamen bei Überschwemmungen im Juli 2023 mindestens 47 Menschen in elf Provinzen ums Leben (PAN 27.7.2023). Die durch heftige saisonale Regenfälle verursachten Sturzfluten haben Häuser sowie Hunderte von Quadratkilometern landwirtschaftlicher Nutzfläche teilweise oder vollständig zerstört (UNHCR 1.8.2023; vgl. AJ 24.7.2023). Betroffene Provinzen waren vor allem Kabul, Maidan Wardak und Ghazni (AJ 24.7.2023), aber auch die Provinzen Kunar, Paktia, Khost, Nuristan, Nangarhar, Paktika und Helmand hatten Opfer zu verzeichnen (PAN 27.7.2023).
Am 7.10.2023 kam es zu einem schweren Erdbeben in Herat, gefolgt von zusätzlichen Nachbeben (UN News 16.10.2023; vgl. UNOCHA 16.10.2023). Das Epizentrum des Bebens war der Distrikt Zendahjan (AP 12.10.2023), den UNOCHA zusammen mit den Distrikten Herat und Enjil als die am stärksten betroffenen Regionen identifizierte (UNOCHA 20.10.2023). Berichten zufolge wurden ganze Dörfer zerstört (CNN 15.10.2023), und Tausende Menschen getötet (AP 11.10.2023; vgl. AAN 11.11.2023). Nach Angaben von UNOCHA waren mehr als 275.000 Menschen in neun Distrikten direkt von den Erdbeben betroffen (UNOCHA 16.11.2023a), die mindestens 1.480 Todesopfer und 1.950 Verletzte forderten (UNOCHA 16.11.2023b). Mehr als 8.429 Häuser wurden zerstört und weitere 17.088 stark beschädigt (UNOCHA 20.10.2023).
Armut und Lebensmittelunsicherheit
Afghanistan gehört zu den Ländern mit der weltweit höchsten Prävalenz von unzureichender Ernährung. Der Hunger ist in erster Linie auf die Wirtschaftskrise zurückzuführen, die Afghanistan seit August 2021 erfasst hat. Hinzu kommen jahrzehntelange Konflikte, Klimaschocks und starke Einschränkungen der Rechte von Frauen und Mädchen auf Arbeit und Hochschulbildung (WFP 25.6.2023).
Die Ernährungsunsicherheit in Afghanistan ist weiterhin hoch (IPC 14.12.2023; vgl. WFP 25.6.2023). Im Oktober 2023, während der Nacherntezeit, waren etwa 13,1 Millionen Menschen, d. h. 29 % der Gesamtbevölkerung, mit einem hohen Maß an akuter Ernährungsunsicherheit konfrontiert (IPC-Phase 3 oder höher) (IPC 14.12.2023). Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) sank der Anteil der Haushalte mit mangelhaftem Nahrungsmittelverbrauch im Juni 2023 kurzfristig auf 48 %, stieg jedoch im Dezember wieder auf 54 %, wobei Haushalte mit weiblichem Haushaltsvorstand sowie Haushalte mit Menschen mit Behinderung überproportional von den negativen Ergebnissen beim Lebensmittelkonsum betroffen sind (WFP 11.2.2024).
Zu den Hauptursachen dieser akuten Ernährungsunsicherheit gehören unter anderem die schwierigen wirtschaftlichen Bedingungen (IPC 14.12.2023; vgl. WFP 25.6.2023), die hohe Arbeitslosigkeit sowie die anhaltend hohen Preise für Lebensmittel und landwirtschaftliche Betriebsmittel. Die negativen Auswirkungen der extremen und wechselhaften klimatischen Bedingungen, insbesondere der mehrjährigen Dürre zwischen 2021 und 2023, waren auch 2023 noch zu spüren. Darüber hinaus gefährden andere Naturkatastrophen wie Überschwemmungen und Erdbeben die begrenzten Bewältigungskapazitäten der Bevölkerung, was zu einer anhaltenden ernsten Ernährungsunsicherheit führt (IPC 14.12.2023). Anm.: Erklärungen zu den einzelnen IPC-Phasen finden sich am Ende des Kapitels. […]
Mit Blick auf den Projektionszeitraum zwischen November 2023 und März 2024, welcher der Wintermagersaison entspricht, wird eine Verschlechterung der Ernährungssicherheit erwartet, wobei die Zahl der Menschen in IPC-Phase 3 oder höher wahrscheinlich auf 15,8 Millionen (36 % der Gesamtbevölkerung) ansteigen wird, darunter etwa 3,6 Millionen Menschen in IPC-Phase 4 (Notfall) (IPC 14.12.2023).
Die anhaltende Dürre beeinträchtigt die landwirtschaftliche Produktivität, was zu Engpässen und Preissteigerungen bei Grundnahrungsmitteln führt, während politische Veränderungen den Handel, die Produktion und die Vertriebskanäle direkt beeinflussen (IOM 22.2.2024).
Die Lebensmittelpreise sind seit der Machtübernahme durch die Taliban zunächst gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WEA 17.7.2022), was die prekäre Lebensmittelversorgung für einen Großteil der Bevölkerung verstärkte (AA 26.6.2023). Ab Mitte 2022 begannen die Lebensmittelpreise wieder langsam zu sinken (WFP 18.2.2024). Ein Trend, der sich auch im Jänner 2024 fortsetzt. So lagen die Preise für Grundnahrungsmittel zu diesem Zeitpunkt etwa 1 bis 3 % niedriger als im Dezember 2023 und 20 bis 35 % niedriger als im Vorjahr. Der Preisrückgang ist in erster Linie auf die Aufwertung des Afghani zurückzuführen, der den Import von Lebensmitteln förderte. Darüber hinaus hat die laufende Einfuhr von Nahrungsmitteln aus den Nachbarländern, insbesondere aus Kasachstan, Iran und Pakistan, wesentlich zur Aufrechterhaltung eines stabilen Marktangebots beigetragen, was wiederum zu niedrigeren Preisen für wichtige Nahrungsmittel geführt hat (FEWS NET 28.2.2024). […]
Der Afghanistan Welfare Monitoring Survey (AWMS) vom Oktober 2023 deutet darauf hin, dass sich die Ernährungssicherheit afghanischer Haushalte seit den Monaten nach der Machtübernahme der Taliban am 15.8.2021 verbessert hat, auch wenn die meisten von ihnen ihre Grundbedürfnisse nicht befriedigen können. Dies spiegelt sich in einem Rückgang der Haushalte wider, die von einer akuten Nahrungsmittelkrise berichten (WB 10.2023).
Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 3,6 % der Befragten an, dass sie in der Lage seien, ihre Familien ausreichend mit Lebensmitteln zu versorgen. 53 % der Befragten in Herat, 26 % in Balkh und 12 % in Kabul gaben an, sie könnten es sich nicht leisten, ihre Familien ausreichend zu ernähren. Ebenso gaben 33 % der Befragten in Herat und Balkh und 57 % der Befragten in Kabul an, dass sie kaum in der Lage sind, ihre Familien ausreichend zu ernähren (ATR/STDOK 18.1.2022). In der ein Jahr später durchgeführten Studie von ATR Consulting in Kabul gaben ca. 53 % der Befragten an, dass sie kaum in der Lage sind, die Familie mit ausreichend Lebensmitteln zu versorgen (ATR/STDOK 3.2.2023). […]
Wohnungsmarkt und Lebenserhaltungskosten
Die Dynamik der Mietpreise in städtischen Zentren wie Kabul, Herat und Mazar-e Sharif wird von verschiedenen Faktoren beeinflusst, darunter Lage, Ausstattung und die allgemeine Qualität der Unterkunft (IOM 22.2.2024).
Die afghanische Nachrichtenagentur Pajhwok Afghan News hatte im September 2022 bei Immobilienhändlern in den Kabuler Stadtteilen Shahr-i-Naw, Khoshal Khan und Qasaba Informationen über Kauf- und Verkaufspreise sowie Mietkosten eingeholt (PAN 19.9.2022). Demnach sanken Mietpreise für Häuser und Grundstücke nach dem Regierungswechsel im Jahr 2021 um 60 %. Im Jahr 2022 stiegen die Preise jedoch wieder um 50 %. So lag die Miete für eine Dreizimmerwohnung vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 je nach Stadtteil zwischen 8.000 AFN und 35.200 AFN. In den ersten Tagen des Talibanregimes sank der Preis auf zwischen 4.250 AFN und 25.400 AFN und mit September 2022 lag der Preis zwischen 5.000 AFN und 19.800 AFN (PAN 19.9.2022). Ein afghanischer Wirtschaftsexperte gab an, dass zwar die Preise für Wohnungen und Autos seit der Machtübernahme durch die Taliban stark gesunken wären, jedoch gleichzeitig auch die Kaufkraft der Menschen erheblich gesunken ist (WEA 17.7.2022). […]
In einer von der Staatendokumentation in Auftrag gegebenen und von ATR Consulting im November 2021 durchgeführten Studie gaben die meisten der Befragten in Herat (66 %) und Mazar-e Sharif (63 %) an, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben, während weniger als 50 % der Befragten in Kabul angaben, in einer eigenen Wohnung/einem eigenen Haus zu leben. Von jenen, die Miete bezahlten, gaben 54,3 % der Befragten in Kabul, 48,4 % in Balkh und 8,7 % in Herat an, dass sie 5.000 bis 10.000 AFN pro Monat Miete zahlten. In Kabul mieteten 41,3 % der Befragten Wohnungen/Häuser für weniger als 5.000 AFN pro Monat, in Herat 91,3 % und in Balkh 48,4 %. Nur 4,3 % der Befragten in Kabul mieteten Immobilien zwischen 10.000 und 20.000 AFN, während kein Befragter in Herat und Balkh mehr als 10.000 AFN für Miete zahlte (ATR/STDOK 18.1.2022).
Laut der Studie, die ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchführte, leben ca. 58 % der Befragten in Mietwohngen bzw. -häusern, während der Rest Hausbesitzer sind. Von den Befragten, die in einer Mietwohnung leben, bezahlen ca. 60 % weniger als 5.000 AFN im Monat an Miete und ca. 33 % zwischen 5.000 und 10.000 AFN (ATR/STDOK 3.2.2023).
Anm.: Wechselkurse, so nicht anderes angegeben, wurden zum Zeitpunkt der Veröffentlichung der jeweiligen Quelldokumente durchgeführt, diese können sich im Laufe der Zeit geändert haben.
Arbeitsmarkt
Nach Angaben von IOM nimmt die Höhe und Häufigkeit des Einkommens ab, und es gibt keine Anzeichen für eine Umkehrung dieser Entwicklung (IOM 12.1.2023; vgl. UNDP 18.4.2023). Im Oktober 2023 schätzte die Weltbank, dass fast jeder dritte junge Mann arbeitslos ist und sich die Arbeitslosigkeit im Vergleich zum Zeitraum vor der Machtübernahme der Taliban mehr als verdoppelt hat, wobei der Anstieg der Arbeitslosigkeit auch mit einem Rückgang der von den Erwerbstätigen geleisteten Arbeitsstunden einherging (WB 10.2023).
Die von den Taliban verhängten Arbeitsbeschränkungen haben zu einer verzweifelten Situation für viele Frauen geführt, welche die einzigen Lohnempfängerinnen ihrer Familien waren (AI 7.2022), was durch die humanitäre und wirtschaftliche Krise in Afghanistan noch verschärft wird (AI 7.2022; vgl. UNDP 18.4.2023). Laut Erhebungen der Weltbank ist die Arbeitslosigkeit bei Frauen in allen Altersgruppen deutlich höher als bei Männern (WB 10.2023). […]
Seit der Machtübernahme ist Berichten zufolge die Kinderarbeit und die Anzahl der Bettler deutlich gestiegen (IOM 12.1.2023; vgl. WB 10.2023). Der Anstieg der Kinderarbeit könnte auch mit der Schließung von Schulen und Universitäten für Frauen sowie mit der vorherrschenden Konzentration auf religiöse Lehren in Schulen für Männer zusammenhängen. In Afghanistan ist Kinderarbeit vor allem in ländlichen Gebieten vorzufinden (IOM 12.1.2023). Kinder werden beispielsweise bei der Herstellung von Ziegeln (AJ 26.9.2022) oder in Kohleminen als Arbeiter eingesetzt (NPR 31.12.2022).
Seit Januar 2023 sind die Löhne für qualifizierte und ungelernte Arbeitskräfte leicht gestiegen, was mit der erhöhten Nachfrage auf dem Arbeitsmarkt während der Erntesaison zusammenfällt. Während die Löhne für qualifizierte Arbeitskräfte im Vergleich zum Vorjahreszeitraum leicht anstiegen, stagnierten die Löhne für ungelernte Arbeitskräfte in den letzten beiden Jahren. Laut einem Bericht des World Food Programme (WFP) ist der Durchschnittslohn für ungelernte Arbeitskräfte im Nordosten Afghanistans (Badakhshan, Baghlan, Kunduz und Takhar) von 350 AFN im Juni 2023 auf 325 AFN im Dezember 2023 gesunken. Auch die Zahl der Arbeitstage ist im gleichen Zeitraum von 3,25 Tagen auf 2,50 Tage gesunken (WFP 11.2.2024).
Auf der Grundlage des IOM Economic Resilience Employee Report, der Kabul, Herat und Mazar-e Sharif abdeckt, lassen die Ergebnisse unterschiedliche Muster bei den durchschnittlichen Tageslöhnen erkennen. So liegt der durchschnittliche Tageslohn in Kabul zwischen 300 und 500 AFN (3,71 - 6,19 EUR), was die vielfältigen wirtschaftlichen Gegebenheiten und Möglichkeiten in der Hauptstadt widerspiegelt. Für Herat gibt der Bericht an, dass der durchschnittliche Tageslohnempfänger eine etwas geringere Spanne von 250 bis 350 AFN (3,00 - 4,34 EUR) erhält. In Mazar-e Sharif schließlich liegt der durchschnittliche Tageslohn bei 200 AFN (2,48 EUR). Diese Unterschiede bei den Tageslöhnen in den einzelnen Städten verdeutlichen die lokalen wirtschaftlichen Bedingungen, die Faktoren wie die Zusammensetzung der Industrie, die Nachfrage nach Arbeitskräften und die regionale wirtschaftliche Entwicklung umfassen und ein differenziertes Verständnis der wirtschaftlichen Widerstandsfähigkeit in den verschiedenen städtischen Zentren ermöglichen (IOM 22.2.2024).
Anm.: Ein Euro entspricht mit Stand Februar 2024 ca. 77 AFN.
Rückkehr
Nach Angaben von UNHCR sind zwischen Jänner und August 2023 8.029 afghanische Flüchtlinge nach Afghanistan zurückgekehrt (95 % aus Pakistan, 4% aus Iran und 1 % aus anderen Ländern). Die Zahl der Rückkehrer in den ersten sieben Monaten des Jahres 2023 war fünfmal so hoch wie die Zahl der Rückkehrer im gleichen Zeitraum des Jahres 2022 (UNHCR 1.8.2023). Als Hauptgründe für die Rückkehr aus Iran und Pakistan nannten die Rückkehrer die Lebenshaltungskosten und den Mangel an Beschäftigungsmöglichkeiten in den Aufnahmeländern, die verbesserte Sicherheitslage in Afghanistan und die Wiedervereinigung mit der Familie. Im Jahr 2023 kehrten 57 % der Flüchtlinge in fünf Provinzen zurück: Kabul (21 %), Kunduz (13 %), Kandahar (10 %), Nangarhar (7 %) und Jawzjan (6 %). Außerdem hielten sich 72 % der Rückkehrer seit mehr als zehn Jahren im Asylland auf und 25 % wurden im Asylland geboren (UNHCR 24.7.2023). Am 3.10.2023 billigte der nationale Apex-Ausschuss Pakistans einen Plan zur Rückführung von über einer Million Ausländern ohne gültige Papiere, überwiegend Afghanen, die das Land bis zum 1.11.2024 verlassen sollten. Seit dem 15.9.2023 sind mit Stand März 2024 über eine halbe Million Afghanen aus Pakistan nach Afghanistan zurückgekehrt. Der größte Teil dieser Bewegungen fand im November 2023 statt, danach ging die Zahl deutlich zurück, wobei der Januar und die erste Februarhälfte 2024 die niedrigsten Zahlen verzeichneten. In den letzten beiden Wochen des Februars ist wieder ein Anstieg der Rückkehrer zu verzeichnen (UNHCR 8.3.2024).
Anm.: Für weitere Informationen zu diesem Thema sei auf das Unterkapitel "Pakistan" im Kapitel "Afghanische Flüchtlinge in Iran und Pakistan" verwiesen.
Auch wenn es nur wenig Informationen zu Rückkehrern aus Europa nach Afghanistan gibt, berichtet das österreichische BMI (Bundesministerium für Inneres) (BMI 27.3.2024) und andere Quellen (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024, DRC 28.11.2022), dass es auch nach der Machtübernahme der Taliban zur freiwilligen Rückkehr afghanischer Staatsbürger kommt (MEE 1.6.2022; vgl. AAN 20.1.2024). Dem Afghanistan Analysts Network (AAN) zufolge kehren auch einige Mitarbeiter der ehemaligen Regierung und internationaler NGOs nach Afghanistan zurück, darunter ein Mitarbeiter einer NGO, der mit seiner Familie nach zwei Jahren Aufenthalt in Dänemark nach Afghanistan zurückkehrte (AAN 20.1.2024). Auch die Nachrichtenagentur Middle East Eye berichtet von der freiwilligen Rückkehr von Afghanen, darunter Mitarbeiter von internationalen NGOs (MEE 1.6.2022) und nach Angaben von EUAA gibt es auch freiwillige Rückkehrer aus den USA (EUAA 12.2023). Die Taliban haben am 16.3.2022 eine Kommission unter Leitung des Taliban-Ministers für Bergbau und Petroleum ins Leben gerufen, die Mitglieder der ehemaligen wirtschaftlichen und politischen Elite überzeugen soll, nach Afghanistan zurückzukehren. Im Rahmen dieser Bemühungen sollen inzwischen 200 mehr oder weniger prominente Persönlichkeiten nach Afghanistan zurückgekehrt sein, darunter auch ehemalige Minister und Parlamentarier. Die Taliban-Regierung trifft widersprüchliche Aussagen darüber, ob es den Rückkehrern gestattet sein wird, sich politisch zu engagieren (AA 26.6.2023).
IOM hat aufgrund der aktuellen Lage vor Ort die Option der Unterstützung der freiwilligen Rückkehr und Reintegration seit 16.8.2021 für Afghanistan bis auf Weiteres weltweit ausgesetzt. Es können somit derzeit keine freiwilligen Rückkehrer aus Österreich nach Afghanistan im Rahmen des Projektes RESTART III unterstützt werden. IOM Afghanistan hält jedoch die Kommunikation mit ehemaligen Rückkehrern aufrecht, um humanitäre Hilfe anzubieten, die Stabilisierung der Gemeinschaft zu unterstützen und die interne Migration in Zusammenarbeit mit den Taliban-Behörden, humanitären Partnern und lokalen Gemeinschaften zu steuern. IOM Afghanistan wendet verschiedene Methoden an, um mit ehemaligen unterstützten Rückkehrern in Afghanistan in Kontakt zu bleiben. Dazu gehören das Engagement in den Gemeinden, eine zentralisierte Datenbank (Displacement Tracking Matrix [DTM]) und die direkte Kommunikation als Folgemaßnahme, insbesondere mit den Begünstigten, die von IOM direkt mit ihren Diensten durch Überwachungs- und Folgebesuche unterstützt wurden (IOM 22.2.2024).
Nach dem deutschen Auswärtigen Amt dürften Rückkehrende nur in Einzelfällen über die notwendigen sozialen und familiären Netzwerke verfügen, um die desolaten wirtschaftlichen Umstände abzufedern (AA 26.6.2023). Auch Dr. Liza Schuster, Dozentin für Soziologie an der University of London, spricht über die schwierige wirtschaftliche Lage der Rückkehrende aus Europa und hebt, mit Verweis auf den Afghanistanexperten Thomas Ruttig, die hohe Bedeutung der sozialen Netzwerke im Falle einer Rückkehr hervor (DRC 28.11.2022). Weiterhin sehen sich viele Rückkehrer, dem Stigma versagt zu haben, ausgesetzt (DRC 28.11.2022; vgl. AAN 20.1.2024).
Nach Einschätzung von UNAMA besteht die Möglichkeit, dass im Ausland straffällig gewordene Rückkehrende, wenn die Tat einen Bezug zu Afghanistan aufweist, in Afghanistan zum Opfer von Racheakten z. B. von Familienmitgliedern der Betroffenen werden können; auch eine erneute Verurteilung durch das von den Taliban kontrollierte Justizsystem ist nicht ausgeschlossen, wenn der Fall den Behörden bekannt würde (AA 26.6.2023).
Dokumente
Das Personenstands- und Beurkundungswesen in Afghanistan wies bereits vor der Machtübernahme der Taliban gravierende Mängel auf und stellte aufgrund der Infrastruktur, der langen Kriege, der wenig ausgebildeten Behördenmitarbeiter und weitverbreiteter Korruption ein Problem dar. Von der inhaltlichen Richtigkeit formell echter Urkunden konnte nicht in jedem Fall ausgegangen werden. Personenstandsurkunden wurden oft erst viele Jahre später, ohne adäquaten Nachweis und sehr häufig auf Basis von Aussagen mitgebrachter Zeugen, nachträglich ausgestellt. Gefälligkeitsbescheinigungen und/oder Gefälligkeitsaussagen kamen sehr häufig vor (AA 16.7.2020; vgl. SEM 12.4.2023). Ein weiteres Problem ist der Umstand, dass die Personenregister lückenhaft und nicht ausreichend miteinander vernetzt sind. Zudem sind viele Mitarbeiter der zuständigen Behörden nicht ausreichend geschult im Umgang mit den Registern und der Ausstellung von Dokumenten. Aus diesen Gründen ist es den Behörden oft nicht möglich, die Angaben der Personen, die Dokumente beantragen, zuverlässig zu verifizieren. Stattdessen müssen sie sich auf die mündlichen Angaben der Antragsteller und der Zeugen verlassen. Außerdem besteht je nach Dokument eine unterschiedliche Praxis, Geburtsdatum, Geburtsort und Nachnamen einzutragen. Deshalb kommt es vor, dass die Personalien derselben Person in verschiedenen Dokumenten unterschiedlich eingetragen sind (SEM 12.4.2023).
Besonders fälschungsanfällig sind Papier-Tazkira [Anm.: Tazkira ist ein nationales Personaldokument] (SEM 12.4.2023; vgl. MBZ 3.2022). In Pakistan sind zahlreiche gefälschte Tazkira im Umlauf. Bei der schwarz-weißen Papier-Tazkira sind weder Layout noch Drucktechnik standardisiert. Die verwendeten Stempel sind aufgrund der großen Anzahl zuständiger Behörden nicht überprüfbar. Die Dokumente sind deshalb leicht fälschbar. In der Regel ist es unmöglich, die Authentizität solcher Dokumente zu prüfen. Reisepass und e-Tazkira haben ein einheitliches Layout mit zahlreichen Sicherheitsmerkmalen. Deshalb lässt sich die Authentizität dieser Dokumente am besten überprüfen. Es besteht aber auch hier die Möglichkeit, dass Inhalte manipuliert sind oder dass sie an nicht berechtigte Personen ausgestellt sind (SEM 12.4.2023).
Mit Stand Februar 2024 können Reisepässe, Tazkira und e-Tazkira laut einem Rechtsanwalt in Kabul in allen Provinzen Afghanistans beantragt werden. Die Ausstellung von Reisepässen kann jedoch bis zu einem Jahr dauern. Reisepässe sehen noch genauso aus wie früher. Die e-Tazkira werden jedoch mit einigen Änderungen in Bezug auf das Layout ausgestellt. Auf der Vorderseite der e-Tazkira steht nicht mehr "Innenministerium", sondern "Nationale Behörde für Statistik und Information" in persischer Sprache. Außerdem wird auf der Vorder- und Rückseite der e-Tazkira das Datum des Ablaufs der Gültigkeit hinzugefügt, was vorher nicht der Fall war (RA KBL 19.2.2024). Zusätzlich sind neben der Religion auch die Nationalität, der Stamm und die ethnische Zugehörigkeit vermerkt (USDOS 15.5.2023). IOM weißt jedoch darauf hin, dass Reisepässe nicht in allen Provinzen erhältlich sind. Das Innenministerium der Taliban hat in 15 der 34 Provinzen (Farah, Nimroz, Badghis, Paktika, Samangan, Laghman, Uruzgan, Kunar, Takhar, Zabul, Jawzjan, Bamyan, Panjsher, und Baghlan) Passämter wiedereröffnet und verlangt von den Antragstellern, dass sie sich in ihrer Herkunftsprovinz einen Pass besorgen. Die Funktionsfähigkeit dieser Abteilungen ist jedoch nach wie vor unklar. Verlängerungen von Reisepässen sind laut IOM möglich, unterliegen jedoch denselben geografischen Einschränkungen wie bei der Beantragung eines neuen Passes. Laut IOM gibt es in Afghanistan insgesamt 74 Verteilungszentren für elektronische Personalausweise und alle 34 Provinzen verfügen über solche Einrichtungen (IOM 22.2.2024).
Andere Dokumente wie Heiratsurkunden können nach Angaben von IOM nur in sieben Provinzen ausgestellt werden: in den Provinzen Kabul, Nangarhar, Balkh, Herat, Paktia, Kandahar und Khost. Einwohner aus anderen Provinzen müssen in eine dieser Provinzen reisen, um diese Dokumente zu erhalten (IOM 22.2.2024).
Tazkira
Um eine Tazkira oder e-Tazkira zu erhalten, muss der Antragsteller ein (online-) Antragsformular ausfüllen, das die folgenden Informationen/Unterlagen/Überprüfungen erfordert:
Persönliche Informationen des Antragstellers
Tazkira des Vaters des Antragstellers (falls der Antragsteller unter 18 Jahre alt ist)
Lichtbild des Antragstellers
Bestätigung des Gebietsvertreters
Um eine e-Tazkira zu erhalten, ist zusätzlich die Papier-Tazkira des Antragstellers notwendig (RA KBL 11.3.2024). Falls der Antragsteller keine Tazkira in Papierform besitzt, ist für Antragsteller unter 18 Jahren eine Geburtsurkunde erforderlich. Für Personen, die älter als 18 Jahre sind, ist die Tazkira (entweder elektronisch oder auf Papier) eines der Hauptverwandten des Antragstellers vorzulegen (Vater, Bruder, Onkel ... usw.) und zwei andere Personen müssen die Identität des Antragstellers bescheinigen (RA KBL 11.3.2024). In weiterer Folge muss der Antragsteller bei der e-Tazkira-Ausgabestelle erscheinen, um seine biometrischen Daten erfassen zu lassen und die entsprechende Gebühr (diese wurde vor Kurzem von 800 AFN auf 1.000 AFN angehoben) zu zahlen (RA KBL 19.2.2024). Nach Angaben von IOM liegen die Kosten für den Erhalt einer Tazkira bei 700 AFN (IOM 22.2.2024).
Reisepass
Seit der Machtübernahme der Taliban gibt es immer wieder Probleme, wenn es um die Ausstellung von Reisepässen geht. Beispielsweise wurde die Ausstellung von Reisepässen für einige Monate ausgesetzt, da es nach Angaben der Passdirektion technische Schwierigkeiten gab (RA KBL 26.1.2023; vgl. KP 8.10.2022, SEM 12.4.2023). Es kam immer wieder zu Beschwerden über die langen Bearbeitungsdauern von Reisepässen (TN 11.12.2022; vgl. PAN 9.1.2023, TN 1.8.2023. AAN 4.2.2024). Es wird auch berichtet, dass Wartezeiten durch Zusatzzahlungen verringert werden können,wenn man über eine Kontaktperson in einem Passbüro verfügt (AAN 4.2.2024). Ein in Afghanistan tätiger Rechtsanwalt bestätigt, dass dies (im geringen Ausmaß) vorkommt, jedoch beide Seiten eine Strafe erhalten, sollte es bekannt werden (RA KBL 11.3.2024).
Laut einer Erklärung des Sprechers der Generaldirektion für Pässe werden keine Pässe an Personen mit Ausreiseverboten wegen beispielsweise unbezahlter Schulden oder laufenden Straf-, Zivil- oder Handelsverfahren oder an Kinder, die keinen gesetzlichen Vormund haben, ausgestellt (TN 1.8.2023). Laut Angaben eines lokalen Rechtsanwalts in Kabul ist es für Frauen möglich, in Afghanistan auch ohne Begleitung eines Mahram [Anm.: männl. Begleitperson] einen Reisepass zu erhalten (RA KBL 11.3.2024), auch wenn sich die Behandlung der Antragsstellerinnen von Ort zu Ort unterscheiden kann. In Kabul ist es derzeit nicht vorgeschrieben. Der Erhalt eines Reisepasses für Frauen ist auch möglich, wenn sich der Ehemann der Frau zum Antragszeitpunkt im Ausland befindet (RA KBL 29.8.2023).
Für den Erhalt eines Reisepasses gelten dieselben Voraussetzungen wie für eine e-Tazkira. Es muss ein Formular online ausgefüllt werden und nach Vorlage eines Identitätsdokumentes (e-Tazkira, Tazkira in Papierform oder Geburtsurkunde), sowie eines Lichtbildes und der Unterschrift (RA KBL 26.1.2023; vgl. RA KBL 19.2.2024, IOM 22.2.2024), werden die Fingerabdrücke des Antragsstellers biometrisch erfasst. Falls der Antragssteller bereits einen Reisepass besessen hat, so ist dieser ebenso vorzulegen bzw. sind Informationen zu diesem notwendig. Nach dem Ausfüllen des Online-Antragsformulars muss der Antragsteller die Gebühr entrichten und zu einem bestimmten Termin zur biometrischen Untersuchung in der Passabteilung erscheinen. Die Gebühr für einen Reisepass liegt zwischen 10.000 AFN (RA KBL 26.1.2023; vgl. RA KBL 19.2.2024) und 11.000 AFN für einen Reisepass, der für zehn Jahre gültig ist, bzw. bei 5.900 AFN für einen Reisepass mit fünfjähriger Gültigkeit (IOM 22.2.2024; vgl. RA KBL 11.3.2024). Bis vor Kurzem gab es nur einen Reisepass mit zehnjähriger Gültigkeit (RA KBL 11.3.2024).
Reisepässe außerhalb Afghanistans
Berichte über die Ausstellung bzw. Verlängerung von afghanischen Reisepässen im Ausland sind unterschiedlich. Laut Angaben eines Rechtsanwalts in Kabul ist die Erlangung eines Reisepasses außerhalb von Afghanistan mit Stand Februar 2024 in einigen wenigen Ländern, nämlich China, Pakistan, Iran und Usbekistan, mit Einschränkungen möglich (RA KBL 19.2.2024). IOM weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass neue afghanische Reisepässe außerhalb Afghanistans in den Vereinigten Arabischen Emiraten und Pakistan (Islamabad und Peshawar) ausgestellt werden. Zusätzlich können afghanische Reisepässe in Saudi Arabien (Riyadh) verlängert, jedoch nicht neu ausgestellt werden (IOM 22.2.2024).
Nach Informationen des österreichischen BMI (Bundesministerium für Inneres) verlängert die afghanische Botschaft in Österreich abgelaufene maschinenlesbare Reisepässe, stellt jedoch keine neuen aus. Auch werden von der Botschaft Heimreisezertifikate ausgestellt (BMI 27.3.2024).
Für weitere Informationen zu afghanischen Dokumenten wird auf den Bericht Identitäts- und Zivilstandsdokumente des Staatssekretariats für Migration [Schweiz] verwiesen (SEM 12.4.2023).
Anm.: Mahram kommt von dem Wort "Haram" und bedeutet "etwas, das heilig oder verboten ist". Im islamischen Recht ist ein Mahram eine Person, die man nicht heiraten darf, und es ist erlaubt, sie ohne Kopftuch zu sehen, ihre Hände zu schütteln und sie zu umarmen, wenn man möchte. Nicht-Mahram bedeutet also, dass es nicht Haram ist, sie zu heiraten, von einigen Ausnahmen abgesehen. Das bedeutet auch, dass vor einem Nicht-Mahram ein Hijab getragen werden muss (Al-Islam TV 30.10.2021; vgl. GIWPS 8.2022).
2. Beweiswürdigung:
2.1. Zu den Feststellungen zur Person des Beschwerdeführers:
Die Feststellungen hinsichtlich des Namens des BF, seines Geburtsdatums, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit sowie seiner Sprachkenntnisse werden anhand seiner dahingehend übereinstimmenden Angaben im Zuge des Verfahrens sowie der Einsicht in das medizinische Altersgutachten getroffen (AS 15ff; AS 61; AS 123ff).
Die Feststellung zur Herkunftsprovinz ergibt sich aus seinen diesbezüglich glaubhaften Angaben im Rahmen des Verfahrens (AS 123).
Dass seine Mutter und seine Geschwister nach wie vor in Afghanistan leben, ergibt sich anhand seiner glaubhaften Angaben im gegenständlichen Verfahren (AS 19; AS 127).
Die Feststellungen zu seiner schulischen Laufbahn und dass der BF über keine Berufsausbildung oder -erfahrung verfügt, stützen sich auf seine eigenen Angaben im Verfahren (AS 17; AS 123).
Die Feststellungen zum Familienstand und dass der BF keine Kinder hat, ergeben sich aus den übereinstimmenden Angaben im Verfahren (AS 17).
Die Feststellung, dass der Beschwerdeführer gesund ist, stützt sich auf seine Angaben im bisherigen Verfahren sowie auf den Umstand, dass keine medizinischen Unterlagen vorgelegt wurden, aus welchen sich körperliche Beeinträchtigungen, regelmäßige medizinische Behandlungen oder eine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit ergäben. Die Arbeitsfähigkeit des Beschwerdeführers ergibt sich aus dem Umstand, dass eine Arbeitsunfähigkeit weder behauptet wurde noch sonst im Verfahren hervorgekommen ist.
Die Feststellung hinsichtlich der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF erfolgt anhand des im Akt einliegenden Strafregisterauszugs.
2.2. Zu den Feststellungen zum Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers:
Die Feststellung, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt ist, ergibt sich anhand der folgenden Ausführungen:
Festzuhalten ist, dass das BFA ein mangelfreies ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat und in der Begründung des angefochtenen Bescheides die Ergebnisse dieses Verfahrens, die bei der Beweiswürdigung maßgebenden Erwägungen und die darauf gestützte Beurteilung der Rechtsfrage klar und übersichtlich zusammengefasst hat.
Das BVwG verweist daher zunächst auf diese schlüssigen und nachvollziehbaren beweiswürdigenden Ausführungen des BFA im angefochtenen Bescheid, die sich im Wesentlichen wie folgt darstellen:
„[…] Sie gaben an, dass Sie Afghanistan XXXX verlassen haben, da Sie vor den Taliban Angst gehabt hätten.
Grundsätzlich ist festzuhalten, dass Ihrem Vorbringen bezüglich der Gründe, warum Sie Ihren Herkunftsstaat verlassen haben, im Wesentlichen zu folgen war. Ihre Furcht vor möglichen Auswirkungen der Machtübernahme durch die Taliban ist nachvollziehbar und daher auch glaubhaft. Jedoch gaben Sie selbst an, keiner persönlichen Bedrohung ausgesetzt gewesen zu sein. Lediglich Ihr Vater wäre nach der Machtübernahme der Taliban verschwunden bzw. untergetaucht, da er zuvor als XXXX tätig gewesen wäre. Jedoch machten Sie diesbezüglich keine Bedrohung/Verfolgung gegen Sie selbst geltend. Sie gaben lediglich an, dass die Taliban einmal zu Ihnen nach Hause gekommen wären, um Ihren Vater zu suchen. Es wäre dabei jedoch nur nach Ihrem Vater gefragt worden. Eine Bedrohung hätte es nicht gegeben.
Es ist somit deutlich zu machen, dass sich aus Ihren Darstellungen keinerlei individuelle Bedrohung oder Verfolgung mit asylrelevanter Relevanz bzw. Intensität ergibt
Eine weitere Bedrohung haben Sie nicht geltend gemacht. […]“
Das BFA hat, wie ausgeführt, eine schlüssige Würdigung des Vorbringens des Beschwerdeführers durchgeführt, es zeigte insbesondere auf, dass der BF keinerlei individuelle Bedrohung seiner Person geltend machte, gab es doch lediglich eine Hausdurchsuchung durch die Taliban, bei der der BF jedoch nicht konkret bedroht wurde, sodass eine asylrelevante Verfolgungsgefahr nicht zu erkennen ist.
Das Fluchtvorbringen des BF erschöpfte sich - wie bereits das BFA richtig ausgeführt hat - in knappen Sätzen, blieb vage und allgemein sowie brachte der BF lediglich vor, sein Vater habe als XXXX gearbeitet, weshalb der BF verfolgt werden würde. In diesem Kontext ist insbesondere darauf hinzuweisen, dass der BF keine Bedrohung oder Verfolgung gegen ihn selbst schilderte, sondern explizit zu Protokoll gab, er sei nie von den Taliban persönlich bedroht worden. Auch sei seine „restliche“, nach wie vor in Afghanistan lebende Familie, keinen persönlichen Bedrohungen ausgesetzt gewesen (AS 131). Das BFA ist somit zutreffend davon ausgegangen, dass eine individuelle Verfolgung seiner Person nicht erkannt werden kann.
Insofern in der Beschwerde vorgebracht wird, die belangte Behörde habe die Minderjährigkeit des BF und seinen niedrigen Bildungsgrad nicht ausreichend berücksichtigt, ist auszuführen, dass das minderjährige Alter des BF XXXX sowie sein XXXX Schulbesuch in Afghanistan nicht verkannt wird. Allerdings schilderte der BF sein Fluchtvorbringen - wie das BFA zutreffend aufzeigte - sehr allgemein und vage und gab zudem ausdrücklich an, keiner persönlichen Bedrohung im Herkunftsstaat ausgesetzt gewesen zu sein, sodass auch unter Berücksichtigung seiner Minderjährigkeit und seiner Schulbildung nicht anzunehmen ist, dass die geschilderten Ereignisse von fluchtauslösender Intensität gewesen sind. Darüber hinaus sei - seinen Angaben vor dem BFA zufolge - auch seine nach wie vor in Afghanistan lebende Familie nicht persönlich bedroht worden (AS 131) und gehen insgesamt betrachtet aus den individuellen Umständen des BF keinerlei Hinweise hervor, dass er für die Taliban als oppositionell in Erscheinung getreten ist.
In der Beschwerde wird weiters angeführt, das BFA habe Länderberichte XXXX nicht ausreichend berücksichtigt. Hierzu ist hervorzuheben, dass - wie bereits beweiswürdigend ausgeführt - das BFA, unter Berücksichtigung der zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung aktuellen Länderinformationen, ein mangelfreies ordnungsgemäßes Ermittlungsverfahren durchgeführt hat und das Vorbringen des BF in schlüssiger Würdigung als nicht asylrelevant erkannt hat. Auch wurde dem BF im Zuge der niederschriftlichen Einvernahme vor dem BFA die Möglichkeit gegeben, Einsicht in die Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation zu nehmen und binnen einer Frist von drei Wochen zu diesen schriftlich Stellung zu nehmen (AS 133), woraufhin der BF fristgerecht eine schriftliche Stellungnahme an die belangte Behörde übermittelte (AS 145ff). Dass der BF offenbar Kenntnis von den Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation hatte bzw. hat, ist neben den Ausführungen in seiner schriftlichen Stellungnahme (AS 145ff) auch seinen Beschwerdeausführungen zu entnehmen, in denen der BF diverse Länderberichte, insbesondere die Länderinformationen der BFA-Staatendokumentation, zitiert (vlg. AS 297ff).
Insoweit in der Beschwerde vorgebracht wird, das BFA habe sich unzureichend mit dem Vorbringen des BF, unter anderem XXXX , und mit seiner Stellungnahme auseinandergesetzt, wonach bereits der Aufenthalt des BF im Westen genüge, um als „verwestlicht“ zu gelten und einer Verfolgung ausgesetzt zu sein, ist zunächst auszuführen, dass dem gegenständlich angefochtenen Bescheid ausdrücklich zu entnehmen ist, dass die belangte Behörde zu ihrer Entscheidungsfindung die Stellungnahme des BF vom XXXX als Beweismittel herangezogen hat (AS 190) und keine Verfolgung des BF in Afghanistan feststellen konnte (AS 191). Hinsichtlich der vorgebrachten XXXX ist auf die Ausführungen des BFA im belangten Bescheid zu verweisen, wonach der BF selbst angegeben habe, keiner persönlichen Bedrohung in Afghanistan ausgesetzt gewesen zu sein und auch - abgesehen vom behaupteten Verschwinden seines Vaters - keine weitere Bedrohung, sohin auch nicht eine aufgrund XXXX , geltend gemacht habe.
Darüber hinaus kann auch nicht erkannt werden, dass der BF lediglich aufgrund seines Aufenthaltes in Europa aufgrund einer Verwestlichung im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan asylrelevanten Verfolgungshandlungen ausgesetzt sein könnte, zumal er sich selbst als Muslim bezeichnet und nicht ersichtlich ist, inwiefern er sich von der in Afghanistan vorherrschenden traditionell-konservativen Lebensweise entfernt hat. Diese Einschätzung deckt sich auch mit den Ausführungen der EUAA Country-Guidance Afghanistan 2024, und ist insbesondere aus der vorgelegten schriftlichen Stellungnahme des BF, in welcher zum Teil auf die EUAA Country-Guidance Afghanistan 2024 verwiesen wird, davon auszugehen, dass der BF von diesen jedenfalls Kenntnis hatte. Schließlich ist weder den Länderinformationen des COI-CMS Afghanistan noch der aktuellen medialen Berichterstattung eine aktuelle Gruppenverfolgung von Rückkehren aus Europa in Afghanistan zu entnehmen.
Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der BF kein asylrelevantes Fluchtvorbringen glaubhaft machen konnte, wonach er im Falle der Rückkehr nach Afghanistan einer konkret und individuell gegen ihn gerichteten Gefahr von Verfolgung ausgesetzt wäre.
2.3. Zu den Feststellungen zur Situation im Herkunftsstaat:
Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich insbesondere auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Da dieses auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruht und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche über Afghanistan bietet, besteht im vorliegenden Fall für das BVwG kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln, gegenständlich lassen auch vom BVwG laufend beobachtete aktuellere Berichte kein relevantes anderes Bild erkennen. Der BF ist den ins Verfahren eingeführten Berichten auch nicht substantiiert entgegengetreten.
3. Rechtliche Beurteilung
3.1. Zu Spruchteil A): Abweisung der Beschwerde
Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.
Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."
Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen.
Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.
Nach VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443, ist für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass die Strafe für ein im Zusammenhang mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient (vgl. etwa das Erkenntnis vom 6. Mai 2004, Zl. 2002/20/0156, mit Verweis auf die Erkenntnisse vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0303, und vom 19. Oktober 2000, Zl. 98/20/0417).
Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes (vgl. VwGH 25.09.2020, Ra 2019/19/0407; VwGH 29.04.2015, Ra 2014/20/0151), kann die Gefahr der Verfolgung im Sinn des § 3 Abs. 1 AsylG 2005 iVm Art. 1 Abschnitt A Z 2 der GFK nicht nur ausschließlich aus individuell gegenüber dem Einzelnen gesetzten Verfolgungshandlungen abgeleitet werden. Sie kann auch darin begründet sein, dass regelmäßig Maßnahmen zielgerichtet gegen Dritte gesetzt werden, und zwar wegen einer Eigenschaft, die der Betreffende mit diesen Personen teilt, sodass die begründete Annahme besteht, (auch) er könnte unabhängig von individuellen Momenten solchen Maßnahmen ausgesetzt sein. Droht den Angehörigen bestimmter Personengruppen eine über die allgemeinen Gefahren eines Bürgerkriegs hinausgehende "Gruppenverfolgung", hat bei einer solchen, gegen eine ganze Personengruppe gerichteten Verfolgung, jedes einzelne Mitglied schon wegen seiner Zugehörigkeit zu dieser Gruppe Grund, auch individuell gegen seine Person gerichtete Verfolgung zu befürchten; diesfalls genügt für die geforderte Individualisierung einer Verfolgungsgefahr die Glaubhaftmachung der Zugehörigkeit zu dieser Gruppe.
Wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, konnte der BF keine mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen, weswegen die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht in Betracht kommt.
Im Hinblick auf den XXXX Aufenthalt des BF in Europa ist festzuhalten, dass aus den zugrunde gelegten Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen nicht ableitbar ist, dass alleine ein mehrjähriger Aufenthalt in Europa und eine sich daraus abgeleitete bzw. unterstellte westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahin ergeben, dass dem BF, aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer, individuell eine Verfolgung drohen würde.
Hinsichtlich einer Gruppenverfolgung von Rückkehrern ist auszuführen, dass im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben haben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die mehrere Jahre in Europa verbracht, für gegeben zu erachten.
Im Übrigen stellt eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; VwGH 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529 u.a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt (siehe auch BVwG 15.12.2014, W225 1434681-1/31E). Derartiges hat der BF jedoch nicht glaubhaft behauptet.
Die Beschwerde war daher als unbegründet abzuweisen.
3.2. Zum Unterbleiben einer mündlichen Beschwerdeverhandlung
Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.
Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Nach Abs. 4 leg. cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389, entgegenstehen.
Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in Bezug auf § 41 Abs. 7 AsylG 2005 in der Fassung bis 31.12.2013 unter Berücksichtigung des Art. 47 iVm Art. 52 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) ausgesprochen, dass das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde erklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist, im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC steht, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde. Hat die beschwerdeführende Partei hingegen bestimmte Umstände oder Fragen bereits vor der belangten Behörde releviert oder sind solche erst nachträglich bekannt geworden, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich, wenn die von der beschwerdeführenden Partei bereits im Verwaltungsverfahren oder in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen - allenfalls mit ergänzenden Erhebungen - nicht aus den Verwaltungsakten beantwortet werden können, und insbesondere, wenn der Sachverhalt zu ergänzen oder die Beweiswürdigung mangelhaft ist (VfGH 14.03.2012, U 466/11-18, U 1836/11-13).
Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und 0018-9, für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des VfGH vom 12.03.2012, Zl. U 466/11 ua., festgehalten, dass der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen muss. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Schließlich ist auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.
Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, sind im gegenständlichen Fall erfüllt, zumal den Ausführungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid nicht substantiiert entgegengetreten wird.
3.3. Zu Spruchteil B): Unzulässigkeit der Revision
Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.
Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde in der rechtlichen Beurteilung wiedergegeben. Ob ein Fluchtvorbringen als glaubhaft einzustufen ist, ist zudem auf Ebene der Beweiswürdigung zu beurteilen.