JudikaturBVwG

W189 2298477-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
23. Januar 2025

Spruch

W189 2298477-1/12E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht hat durch die Richterin Mag. Irene RIEPL als Einzelrichterin über die Beschwerde XXXX alias XXXX alias XXXX geb., StA. Somalia, gegen den Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 31.07.2024, Zl. 1354528300-231036628, nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung am 22.01.2025 zu Recht erkannt:

A) Der Beschwerde wird stattgegeben und XXXX alias XXXX alias XXXX geb., gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 der Status der Asylberechtigten zuerkannt. Gemäß § 3 Abs. 5 AsylG 2005 wird festgestellt, XXXX damit kraft Gesetzes die Flüchtlingseigenschaft zukommt.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

Verfahrensgang:

1. Die damals minderjährige Beschwerdeführerin, eine Staatsangehörige von Somalia, stellte nach illegaler, schlepperunterstützter Einreise in das österreichische Bundesgebiet am 29.05.2023 den gegenständlichen Antrag auf internationalen Schutz.

Bei der Erstbefragung durch Organe des öffentlichen Sicherheitsdienstes am Folgetag gab die Beschwerdeführerin zu Protokoll, dass sie Somali spreche und der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Clan der Sheikal angehöre. Sie stamme aus dem XXXX Sie habe keine Schule besucht. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter, ihre Brüder und Schwestern würden in Somalia leben. Zu ihrem Ausreisegrund führte sie an, dass ihre Tante die Obsorge über die Beschwerdeführerin in Somalia hatte und die Beschwerdeführerin von deren Sohn im Jahr 2014 vergewaltigt worden sei. Nachdem sie dies ihrer Tante erzählt habe, hätte diese die Beschwerdeführerin mit einem alten Mann, der Mitglied der Al Shabaab sei, zwangsverheiraten wollen.

2. Anlässlich ihrer in Anwesenheit ihrer gesetzlichen Vertretung durchgeführten Einvernahme durch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 13.06.2024 reklamierte die Beschwerdeführerin zunächst, dass das Protokoll der Erstbefragung nicht stimme, sie sei im Jahr 2012 und nicht im Jahr 2014 vergewaltigt worden. Auch sei die Beschwerdeführerin im Jahr 2022 bis zum Februar 2023 in Schweden gewesen. Die Beschwerdeführerin gab zu ihrer Person zu Protokoll, dass sie der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Clan der Sheikal angehöre, sie stamme aus dem Ort XXXX und habe die Schule nicht besucht. Ihr Vater sei verstorben, ihre Mutter, ihr Bruder und zwei Schwestern würden in Somalia leben. Ihre Tante väterlicherseits habe sie mitgenommen, als sie klein gewesen sei und habe sie keinen Kontakt zu ihrer Familie.

Zu ihrem Fluchtgrund führte die Beschwerdeführerin auf das Wesentliche zusammengefasst aus, dass sie bei ihrer Tante väterlicherseits gelebt und auf der dortigen Landwirtschaft schwer gearbeitet habe. Sie sei als 12-jährige von ihrem Cousin vergewaltigt worden. Nachdem sie der Tante davon erzählt habe, sei sie neuerlich beschnitten worden. Als sie 14 Jahre alt geworden sei hätte sie einen alten Mann, von dem die Tante Geld genommen habe, heiraten müssen. Die Beschwerdeführerin sei mit Hilfe einer Nachbarin bis nach Äthiopien geflüchtet und in weiterer Folge weitergereist.

Im Rahmen dieses Verfahrens legte die Beschwerdeführerin Patientenbriefe vom 05.08.2023 und 22.12.2023 über die durchgeführte Defibulation vor (Akt des BFA, AS 187 und 395).

Das BFA beantragte in weiterer Folge bei der Schwedischen Migrationsbehörde Akteneinsicht in den Asylakt der Beschwerdeführerin.

3. Mit dem angefochtenen Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl wurde der Antrag der Beschwerdeführerin auf internationalen Schutz gemäß § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten abgewiesen (Spruchpunkt I.). Gemäß § 8 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG wurde der Antrag auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten in Bezug auf den Herkunftsstaat Somalia abgewiesen (Spruchpunkt II.). Mit Spruchpunkt III. wurde der Beschwerdeführerin ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG nicht erteilt. Gemäß § 10 Abs. 1 Z 3 AsylG iVm § 9 BFA-Verfahrensgesetz wurde gegen die Beschwerdeführerin eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 Fremdenpolizeigesetz erlassen, und es wurde festgestellt, dass die Abschiebung gemäß § 46 FPG nach Somalia zulässig sei (Spruchpunkte IV. und V.). Mit Spruchpunkt VI. wurde festgelegt, dass die Frist für die freiwillige Ausreise 14 Tage ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung betrage.

4. Dagegen erhob die Beschwerdeführerin fristgerecht Beschwerde und monierte nach Wiederholung der bisher getätigten Angaben unter Ausführung näherer Gründe ein mangelhaftes Ermittlungsverfahren, eine fehlerhafte Beweiswürdigung und daraus folgend eine unrichtige rechtliche Beurteilung. Vorgebracht wurde zudem, dass die Beschwerdeführerin von einer weiteren Zwangsbeschneidung nach dem WHO-Typ III betroffen sei und aufgrund der massiven Beschwerden sich in Österreich zu einer Defibulation entschieden und durchgeführt habe.

5. Am 22.01.2025 fand vor dem Bundesverwaltungsgericht eine öffentliche, mündliche Verhandlung statt, an welcher die Beschwerdeführerin und ihre Rechtsvertretung teilnahmen. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl ist entschuldigt nicht erschienen. Im Rahmen der Beschwerdeverhandlung wurde die Beschwerdeführerin ausführlich zu ihren Fluchtgründen und Rückkehrbefürchtungen befragt (s. Verhandlungsprotokoll).

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen (Sachverhalt):

1.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Identität der Beschwerdeführerin steht nicht fest. Die Beschwerdeführerin ist eine Staatsangehörige von Somalia und gehört der Religionsgemeinschaft der sunnitischen Muslime sowie dem Clan der Sheikal an. Die Beschwerdeführerin spricht einen nordsomalischen Dialekt, der im Nordwesten Somalias gesprochen wird, weshalb den Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrem angeblichen Herkunftsort XXXX nicht gefolgt werden kann.

Bei der Beschwerdeführerin wurde in Somalia eine Typ-III-FGM („pharaonische Beschneidung“) vorgenommen. In Österreich hat sie aus medizinischen Gründen eine Defibulation vornehmen lassen. Die junge, ledige und kinderlose Beschwerdeführerin, die aus einem eher ländlichen Gebiet stammt, läuft bei einer Rückkehr Gefahr, aufgrund einer gesellschaftlichen Erwartungshaltung in Somalia eine Reinfibulation vornehmen zu müssen.

1.2. Zur Situation im Herkunftsstaat wird Folgendes festgestellt:

1. Weibliche Genitalverstümmelung und –Beschneidung (FGM/C) allgemein

Gudniin ist die allgemeine somalische Bezeichnung für Beschneidung – egal ob bei einer Frau oder bei einem Mann (Crawford 2015, S.65f). In Somalia herrschen zwei Formen von FGM vor:

a) Einerseits die am meisten verbreitete sogenannte Pharaonische Beschneidung (gudniinka fircooniga), welche weitgehend dem WHO Typ III (Infibulation) entspricht (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 13f; Crawford 2015, S. 66f) und von der somalischen Bevölkerung unter dem - mittlerweile auch dort geläufigen - Synonym „FGM“ verstanden wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 68).

b) Andererseits die Sunna (gudniinka sunna) (LIFOS 16.4.2019, S. 13f; vgl. Crawford 2015, S. 66f), welche laut einer Quelle generell dem weniger drastischen WHO Typ I entspricht (LIFOS 16.4.2019, S. 13f), laut einer anderen Quelle WHO Typ I und II (AV 2017, S. 29) bzw. laut einer dritten Quelle eine breite Palette an Eingriffen umfasst (Crawford 2015, S. 41ff/66f). Denn die Sunna wird nochmals unterteilt in die sog. große Sunna (sunna kabir) und die kleine Sunna (sunna saghir); es gibt auch Mischformen (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. Crawford 2015, S. 41ff/66f). De facto kann unter dem Begriff „Sunna“ jede Form – von einem kleinen Schnitt bis hin zur fast vollständigen pharaonischen Beschneidung – gemeint sein, die von der traditionellen Form von FGM (Infibulation) abweicht (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Aufgrund der Problematik, dass es keine klare Definition der Sunna gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 31), wissen Eltern oft gar nicht, welchen Eingriff die Beschneiderin genau durchführen wird (LIFOS 16.4.2019, S. 14f). Allgemein wird die Sunna von Eltern und Betroffenen als harmlos erachtet, mit dieser Form werden nur geringfügige gesundheitliche Komplikationen in Zusammenhang gebracht (UNFPA 4.2022).

Durchführung: Mädchen werden zunehmend von medizinischen Fachkräften beschnitten (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer Studie in Somaliland gaben nur 5 % der Mütter an, selbst von einer Fachkraft beschnitten worden zu sein; bei den Töchtern waren es hingegen schon 33 % (LI 14.9.2022, S. 11). Diese „Medizinisierung“ von FGM/C ist v. a. im städtischen Bereich und bei der Diaspora angestiegen (UNICEF 29.6.2021). FGM/C wird also zunehmend im medizinischen Bereich durchgeführt – in Spitälern, Kliniken oder auch bei Hausbesuchen. Die Durchführung durch medizinisches Personal ist teilweise schon gängige Praxis – in Mogadischu gibt es sogar Straßenwerbung für „FGM clinics“. Insgesamt sind die Ausführenden aber immer noch oft traditionelle Geburtshelferinnen, Hebammen und Beschneiderinnen. Der Eingriff wird an Einzelnen oder auch an Gruppen von Mädchen vorgenommen. In ländlichen Gebieten Puntlands und Somalilands üblicherweise in Gruppen. Auch in Mogadischu ist das die übliche Praxis. Oft gibt es danach für die Mädchen eine Feier (Crawford 2015, S. 73f). Eine traditionelle Beschneiderin verlangt üblicherweise 20 US-Dollar für einen Eingriff, bei finanzschwachen Familien kann dieser Preis auf 5 US-Dollar reduziert werden (UNFPA 4.2022).

Verbreitung: FGM ist in Somalia auch weiterhin weit verbreitet (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. AA 28.6.2022, S. 18) und bleibt die Norm (LI 14.9.2022, S. 16). Lange Zeit wurde die Zahl betroffener Frauen mit 98 % angegeben. Diese Zahl ist laut somalischem Gesundheitsministerium bis 2015 auf 95 % und bis 2018 auf 90 % gefallen (FIS 5.10.2018, S. 29). UN News berichtet von „mehr als 90 %“ (UNN 4.2.2022). Gemäß einer Studie aus dem Jahr 2017 sind rund 13 % der 15-17-jährigen Mädchen nicht beschnitten (STC 9.2017). In der Altersgruppe von 15-49 Jahren liegt die Prävalenz hingegen bei 98 %, jene der Infibulation bei 77 %, wie eine andere Studie besagt (BMC Yussuf 2020, S. 1f). Laut einer anderen Quelle sind 88 % der 5-9-jährigen Mädchen bereits beschnitten oder verstümmelt (CARE 4.2.2022).

Insgesamt gibt es diesbezüglich nur wenige aktuelle Daten. Generell ist von einer Rückläufigkeit auszugehen (LIFOS 16.4.2019, S. 19f; vgl. STC 9.2017).

C:\Users\koppensda\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\D72EA668.tmp (STC 9.2017)

Diese Rückläufigkeit wird auch von einer anderen Quelle bestätigt:

C:\Users\koppensda\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\9072A0B6.tmp DNS 2020, S. 220

Sowohl der finanzielle wie auch der Bildungshintergrund spielen bei der Entscheidung hinsichtlich der Form des Eingriffs eine Rolle:

C:\Users\koppensda\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\F56E634.tmp DNS 2020, S. 214

Hinsichtlich geografischer Verbreitung scheint die Infibulation 2006 in Süd-/Zentralsomalia mit 72 % am wenigsten verbreitet gewesen zu sein; in Puntland war sie mit 93 % am verbreitetsten (LIFOS 16.4.2019, S. 21). Es wird davon ausgegangen, dass die Rate an Infibulationen in ländlichen Gebieten höher ist als in der Stadt (Crawford 2015, S. 69). Vielen Menschen – v.a. in städtischen Gebieten – erachten die extremeren Formen von FGM zunehmend als inakzeptabel, halten aber an Typ I fest (UNICEF 29.6.2021; vgl. UNFPA 4.2022). Bei einer landesweiten Umfrage aus dem Jahr 2017 haben 40,6 % angegeben, von einer Infibulation betroffen zu sein (AV 2017, S. 29). Jedenfalls ist die Quote an Infibulationen im ganzen Land rückläufig (Crawford 2015, S. 70). Während in der ältesten Altersgruppe vier von fünf Frauen eine Infibulation erlitten haben, ist es bei der jüngsten Altersgruppe nicht einmal eine von zwei (28TM o.D.). Generell geht der Trend in Richtung Sunna (UNFPA 4.2022).

FGM kann als gesellschaftliche Konvention erachtet werden, die von den meisten Menschen als selbstverständliche angesehen wird. Daher stellt sich üblicherweise nicht die Frage, ob der Eingriff durchgeführt wird. Vielmehr geht es um die praktischen Aspekte der Umsetzung (LI 14.9.2022). Üblicherweise liegt die Entscheidung darüber, ob eine Beschneidung stattfinden soll, in erster Linie bei der Mutter (FIS 5.10.2018, S. 30; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 17f; LI 14.9.2022, S. 11; Crawford 2015, S. 85). Der Vater hingegen wird wenig eingebunden (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Dabei geht es bei dieser Entscheidung weniger um das „ob“ als vielmehr um das „wie und wann“ (LI 14.9.2022, S. 11). Eine Studie aus dem Jahr 2022 in Puntland bestätigt, dass Mütter die Entscheidung hinsichtlich von FGM und Väter jene hinsichtlich der Beschneidung der Söhne treffen. Tendenziell können Väter neuerdings mehr Mitsprache halten. Insgesamt ist es aber die Mutter, die für die Jungfräulichkeit, Reinheit und Ehefähigkeit ihrer Töchter verantwortlich ist (UNFPA 4.2022). Es kann zu – teils sehr starkem – psychischem Druck auf eine Mutter kommen, damit eine Tochter beschnitten wird. Um eine Verstümmelung zu vermeiden, kommt es auf die Standhaftigkeit der Mutter an. Spricht sich auch der Kindesvater gegen eine Verstümmelung aus, und bleibt dieser standhaft, dann ist es leichter, dem psychischen Druck seitens der Gesellschaft und gegebenenfalls durch die Familie standzuhalten (DIS 1.2016, S. 8ff). Manchmal wird der Vater von der Mutter bei der Entscheidung übergangen (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f). Nach anderen Angaben liegt es an den Eltern, darüber zu entscheiden, welche Form von FGM an der Tochter vorgenommen wird. Manchmal halten Großmütter oder andere weibliche Verwandte Mitsprache. In ländlichen Gebieten können Großmütter eher Einfluss ausüben (LIFOS 16.4.2019, S. 25f/42f; vgl. FIS 5.10.2018, S. 30). Dort ist es mitunter auch schwieriger, FGM infrage zu stellen (FIS 5.10.2018, S. 30f). Gemäß Angaben anderer Quellen sind Großmütter maßgeblich in die Entscheidung involviert (LI 14.9.2022, S. 11; vgl. Crawford 2015, S. 85). Laut anderen Angaben kann es vorkommen, dass eine Mutter bei weiblichen Verwandten Ratschläge einholt (UNFPA 4.2022). Dass Mädchen ohne Einwilligung der Mutter von Verwandten einer FGM unterzogen werden, ist zwar nicht auszuschließen, aber unwahrscheinlich. Keine Quelle des Danish Immigration Service konnte einen derartigen Fall berichten (DIS 1.2016, S. 10ff). Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen als diesbezüglich annehmbare Ausnahme (theoretisch) den Fall, dass ein bei den Großeltern lebendes Kind von der Großmutter FGM zugeführt wird, ohne dass es dazu eine Einwilligung der Eltern gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 26). Gerade in Städten ist es heutzutage kein Problem mehr, sich einer Beschneidung zu widersetzen, und die Zahl unbeschnittener Mädchen steigt (FIS 5.10.2018, S. 31).

In der Diaspora lebende Mädchen werden „nach Hause“ oder in bestimmte europäische Städte geflogen, wo FGM vollzogen wird (GN 3.11.2022). Allerdings nimmt in der Diaspora die Praktik ab. Der Druck sinkt mit der Distanz zur Heimat und zur Familie (LI 14.9.2022, S. 17). In manchen Gemeinden und Gemeinschaften, wo Aufklärung bezüglich FGM stattgefunden hat, stellen sich Teile der Bevölkerung gegen jegliche Art von FGM. Von jenen, die nicht von Aufklärungskampagnen betroffen waren, gab es nur eine kleine Minderheit aus gut gebildeten Menschen und Personen der Diaspora, die sich von allen Formen von FGM verabschiedet hat (Crawford 2015, S. 65; vgl. LI 14.9.2022). Eine Expertin erklärt, dass hinsichtlich FGM kein Zwang herrscht, dass allerdings eine Art Gruppendruck besteht (ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Überhaupt ist der Hauptantrieb, weswegen Mädchen weiterhin einer FGM/C unterzogen werden, der Druck, sozialen Erwartungen gerecht zu werden (Crawford 2015, S. 82). Frauen fürchten sich vor einem gesellschaftlichen Ausschluss und vor Diskriminierung - ihrer selbst und ihrer Töchter. Eine Beschneidung bringt hingegen soziale Vorteile und sichert der Familie und dem Mädchen die Integration in die Gesellschaft (UNFPA 4.2022). So gibt es etwa Berichte über erwachsene Frauen, die sich einer Infibulation unterzogen haben, da sie sich durch (sozialen) Druck dazu gezwungen sahen (Crawford 2015, S. 73). Mitunter üben nicht beschnittene Mädchen aufgrund des gesellschaftlichen Drucks selbst Druck auf Eltern aus, damit die Verstümmelung vollzogen wird (UNFPA 4.2022; vgl. Crawford 2015, S. 83; LIFOS 16.4.2019, S. 42f/26; ACCORD 31.5.2021, S. 41). Die umfassende FGM in Form einer Infibulation stellt eine Art Garantie der Jungfräulichkeit bei der ersten Eheschließung dar. Die in der Gemeinde zirkulierte Information, wonach eine Frau nicht infibuliert ist, wirkt sich auf das Ansehen und letztendlich auf die Heiratsmöglichkeiten der Frau und anderer Töchter der Familie aus. Daher wird die Infibulation teils immer noch als notwendig erachtet (LIFOS 16.4.2019, S. 38f; vgl. LI 14.9.2022, S. 11). Kulturell gilt die Klitoris als „schmutzig“, eine Infibulation als ästhetisch. Letztere trägt zur Ehre der Frau bei, denn sie beschränkt den Sexualdrang, sichert die Jungfräulichkeit und sichert die Heirat (LI 14.9.2022, S. 10; UNFPA 4.2022). Dahingegeben werden unbeschnittene Frauen oft als schmutzig oder un-somalisch (LI 14.9.2022, S. 16), als abnormal und schamlos (Crawford 2015, S. 82f) oder aber als un-islamisch bezeichnet. Sie werden mitunter in der Schule gehänselt und drangsaliert und sie und ihre Familie als Schande für die Gemeinschaft erachtet. Ein diesbezügliches Schimpfwort ist hier buurya qab (UNFPA 4.2022), ein Weiteres leitet sich vom Wort für Klitoris (kintir) ab: Kinitrey. Allerdings gaben bei einer Studie in Somaliland nur 14 von 212 Frauen an, überhaupt eine (völlig) unbeschnittene Frau zu kennen (LI 14.9.2022, S. 16). Die Sunna als Alternative zur Infibulation wird laut einer rezenten Studie aus Puntland jedoch akzeptiert (UNFPA 4.2022).

Die Akzeptanz unbeschnittener Frauen bzw. jener, die nicht einer Infibulation unterzogen wurden, hängt maßgeblich von der Familie ab. Generell steht man ihnen in urbanen Gebieten eher offen gegenüber (LIFOS 16.4.2019, S. 23). In der Stadt ist es kein Problem, zuzugeben, dass die eigene Tochter nicht beschnitten ist. Auf dem Land ist das anders (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Nach anderen Angaben stellt der Verzicht auf jegliche Form von FGM in Somalia eine radikale Entscheidung dar, die gegen grundlegende Normen verstößt. Damit sich Eltern aus eigener Initiative gegen FGM ihrer Tochter wehren können, müssen sie über Kenntnisse und Einwände gegen die Praxis sowie über genügend Robustheit und Ressourcen verfügen, um die Einwände für Familie, Netzwerke und lokale Gemeinschaften zu fördern (LI 14.9.2022).

Eine Familie, die sich gegen FGM entschieden hat, wird versuchen, die Tatsache geheim zu halten (FIS 5.10.2018, S. 30f). Nur wenige Mütter „bekennen“, dass sie ihre Töchter nicht beschneiden haben lassen; und diese stammen v. a. aus Gemeinden, die zuvor Aufklärungskampagnen durchlaufen hatten (Crawford 2015, S. 65). In größeren Städten ist es auch möglich, den unbeschnittenen Status ganz zu verbergen. Die Anonymität ist eher gegeben, die soziale Interaktion geringer; dies ist in Dörfern mitunter sehr schwierig (DIS 1.2016, S. 24/9; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 39). Natürlich werden nicht ständig die Genitalien von Mädchen überprüft. Aber Menschen sprechen miteinander, sie könnten ein betroffenes Mädchen z. B. fragen, wo es denn beschnitten worden sei (ACCORD 31.5.2021, S. 41). Da gleichaltrige Mädchen einer Nachbarschaft oder eines Ortes oft gleichzeitig beschnitten werden, ist es nicht unüblich, dass eine Gemeinschaft darüber Bescheid weiß, welche Mädchen beschnitten sind und welche nicht (LI 14.9.2022, S. 16). Gleichzeitig ist FGM auch unter den Mädchen selbst ein Thema. Es sprechen also nicht nur Mütter untereinander darüber, ob ihre Töchter bereits beschnitten wurden; auch Mädchen reden untereinander darüber (Crawford 2015, S. 83). Spätestens bei der Verheiratung ist der physische Status jedenfalls klar (ACCORD 31.5.2021, S. 41).

Trotzdem gibt es sowohl in urbanen als auch in ländlichen Gebieten Eltern, die ihre Töchter nicht verstümmeln lassen (DIS 1.2016, S. 9). Wird der unbeschnittene Status eines Mädchens bekannt, kann dies zu Hänseleien und zur Stigmatisierung führen (LIFOS 16.4.2019, S. 39). Doch auch dabei gibt es Unterschiede zwischen Stadt und Land (CEDOCA 9.6.2016, S. 21). Allerdings kommt es zu keinen körperlichen Untersuchungen, um den Status hinsichtlich einer vollzogenen Verstümmelung bei einem Mädchen festzustellen. Dies gilt auch für Rückkehrer aus dem Westen. In ländlichen Gebieten wird wahrscheinlich schneller herausgefunden, dass ein Mädchen nicht verstümmelt ist. Eine Mutter kann den Status ihrer Tochter verschleiern, indem sie vorgibt, dass diese einer Sunna unterzogen worden ist (DIS 1.2016, S. 12f).

Zum Alter bei der Beschneidung gibt es unterschiedliche Angaben. Die meisten Quellen der schwedischen COI-Einheit Lifos nennen ein Alter von 5-10 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20/39), UN News nennt ein Alter von 5-9 Jahren (UNN 4.2.2022); in Puntland und Somaliland erfolgt die Beschneidung laut einer Studie aus dem Jahr 2011 meist im Alter von 10-14 Jahren (LIFOS 16.4.2019, S. 20). Eine Studie aus dem Jahr 2022 hingegen besagt für Puntland, dass Mädchen bis zum 13. Geburtstag der Praktik unterzogen sein müssen, wenn die Mutter Hänseleien entgehen will (UNFPA 4.2022). Eine Studie aus dem Jahr 2017 nennt für ganz Somalia die Gruppe der 10-14-Jährigen (STC 9.2017), dieses Alter erwähnt auch eine NGO (28TM o.D.). Eine andere Quelle nennt ein Alter von 10-13 Jahren (AA 28.6.2022, S. 19). UNICEF wiederum nennt ein Alter von 4-14 Jahren als üblich; die NGO IIDA gibt an, dass die Beschneidung üblicherweise vor dem achten Geburtstag erfolgt (CEDOCA 9.6.2016, S. 6). Laut einer Quelle ist das Alter im Zuge des Wechsels hin zur Sunna in Somaliland auf 5-8 Jahre gesunken (PC 1.2018, S. 22). Eine weitere Quelle bestätigt, dass das Beschneidungsalter immer weiter sinkt (CARE 4.2.2022).

Bei den Benadiri und arabischen Gemeinden in Somalia, wo grundsätzlich die Sunna praktiziert wird, scheint die Beschneidung bei der Geburt stattzufinden, möglicherweise auch nur als symbolischer Schnitt (DIS 1.2016, S. 6). Gemäß einer Quelle werden Mädchen, welche die Pubertät erreicht haben, nicht mehr einer FGM unterzogen, da dies gesundheitlich zu riskant ist. Hat ein Mädchen die Pubertät erreicht, fällt auch der Druck durch die Verwandtschaft weg (DIS 1.2016, S. 11). Laut einer Quelle sind aus der Diaspora zum Zwecke von FGM nach Somalia geschickte Mädchen meist älter als allgemein üblich (LI 14.9.2022). Im Jahr 2018 hat man über vier Mädchen aus Galmudug und Puntland erfahren, dass diese im Zuge einer FGM bzw. an deren Folgen verstorben sind. Diese Mädchen waren 10 - 11 Jahre alt. Ein weiteres Mädchen, das fast gestorben wäre, war bei der Vornahme der FGM sieben Jahre alt (CNN 11.10.2018). Die somalische Regierung gibt in einer Gesundheitsstudie aus dem Jahr 2020 folgende Zahlen an:

C:\Users\koppensda\AppData\Local\Microsoft\Windows\INetCache\Content.MSO\62920E62.tmp DNS 2020, S. 221

Quellen:

28TM - 28 Too Many (o.D.): Somalia

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia

ACCORD - Austrian Centre for Country of Origin Asylum Research and Documentation / Höhne, Markus / Bakonyi, Jutta (31.5.2021): Somalia - Al-Schabaab und Sicherheitslage; Lage von Binnenvertriebenen und Rückkehrer·innen [sic]; Schutz durch staatliche und nicht-staatliche Akteure; Dokumentation zum COI-Webinar mit Markus Höhne und Jutta Bakonyi am 5. Mai 2021

AV - Africa’s Voices (2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender

BMC Yussuf - BMC Health Services Research / Mohammed Yussuf et al. (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross-sectional study

CARE (4.2.2022): Somalia - Betroffene von Genitalverstümmelung werden immer jünger

CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.

CNN / Jessica Neuwirth (11.10.2018): Opinion - Four girls under 10 have died recently from FGM, it's time to act

Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting

DNS - Directorate of National Statistics, Federal Government of [Somalia] (2020): The Somali Health and Demographic Survey 2020

FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018

GN - Goobjoog News (3.11.2022): Somali refugees in Germany strive to leave old practices behind

LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]

LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)

PC - Population Council / Powell, Richard A. / Yussuf, Mohamed (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive

STC - Safe the Children (9.2017): Changing Social Norms in Somalia: Exploring the Role of Community Perception in FGM/C, Fact Sheet No. 6

UNFPA - UN Population Fund (4.2022): Community Knowledge, Attitudes and Practices on FGM Puntland

UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region

UNN - UN News (4.2.2022): Daughters of Somalia, a continuous pledge to end female genital mutilation

USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia

2. Weibliche Genitalverstümmelung und -Beschneidung in Süd-/Zentralsomalia und Puntland

In der Übergangsverfassung steht, dass eine Beschneidung von Mädchen der Folter gleichkommt und daher verboten ist (USDOS 12.4.2022, S. 37; vgl. UNICEF 29.6.2021; LIFOS 16.4.2019, S. 28f; ÖB 11.2022, S. 12). Allerdings mangelt es an einer Definition von "Beschneidung", und es wird kein Strafmaß genannt. Das Strafgesetz von 1964 sieht zwar Strafen für die Verletzung einer Person vor, es sind aber keine Fälle bekannt, wo FGM/C dahingehend einer Strafverfolgung zugeführt worden wäre – selbst dann, wenn ein Mädchen an den Folgen der Verstümmelung verstorben ist (LIFOS 16.4.2019, S. 28f). Insgesamt gibt es jedenfalls keine nationale Gesetzgebung, welche FGM ausdrücklich verbietet oder kriminalisiert (LI 14.9.2022; vgl. TEA 17.12.2022).

Generell mangelt es den Behörden landesweit an Integrität und Kapazität, um eine für die Beschneidung eines Mädchens verantwortliche Person rechtlich zu verfolgen. Es gibt folglich auch keine Beispiele dafür, wo eine solche Person bestraft worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 42).

Die Regierung bemüht sich, gegen die Praxis vorzugehen (AA 28.6.2022, S. 18). Allerdings gibt es kein spezifisches Gesetz gegen FGM/C (UNFPA 5.3.2021; vgl. UNN 4.2.2022; UNICEF 29.6.2021). Unklar bleibt, ob ein künftiges Gesetz alle Formen von FGM verbieten wird, oder nur eine abgemilderte Form der Beschneidung vorsehen würde (AA 28.6.2022, S. 19). Die Frage, ob nur eine bestimmte oder alle Formen von FGM/C verboten werden sollen, hat die Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes (auf Bundesebene) seit 2016 verzögert (TRF 27.2.2019). Gesetzesvorschläge scheiterten wiederholt an der fehlenden Zustimmung des Parlaments (AA 28.6.2022, S. 19). Denn es gibt zwei unterschiedliche Agenden: Die eine will jegliche Form von FGM/C ausrotten. Die andere richtet sich gegen die schweren Formen und ist für die Erhaltung der Sunna (WHO Typ I). Diese divergierenden Ansichten haben zu einem Stillstand bei der Entwicklung einer nationalen FGM/C-Politik geführt (PC 1.2018, S. 24). Der Staat und religiöse Führer haben insgesamt zwar wichtige Schritte gesetzt, um FGM zu kriminalisieren und auszurotten. Allerdings stellen Ineffizienz, Korruption und Nepotismus im Rechtsstaat bedeutende Hindernisse bei der Umsetzung dar. Außerdem gibt es nach wie vor religiöse Führer, die sich gegen ein Verbot der Sunna aussprechen (LIFOS 16.4.2019, S. 41f).

In Puntland hingegen wurde im Juni 2021 die sogenannte FGM Zero Tolerance Bill vom Präsidenten unterzeichnet und vom Ministerkabinett verabschiedet. Damit sind alle Formen von FGM verboten worden. Nicht nur Beschneiderinnen, sondern auch an einer FGM beteiligtes medizinisches Personal, Eltern und Helfershelfer werden mit dem Gesetz kriminalisiert (UNFPA 6.10.2021). Schon 2013 hatten religiöse Führer und Akademiker eine Fatwa veröffentlicht, wonach jede Form von FGM verboten ist (UNFPA 4.2022; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 29; CEDOCA 9.6.2016, S. 22). Das neue Gesetz hatte bislang allerdings wenig praktische Änderungen zur Folge (AA 28.6.2022, S. 18).

Al Shabaab hatte ursprünglich jede Form von FGM verboten. Mittlerweile gilt das Verbot für die Infibulation, während die Sunna akzeptiert wird (LIFOS 16.4.2019, S. 22/41f). Generell ist al Shabaab nicht Willens, dieses Verbot auf dem von ihr kontrollierten Gebiet auch umzusetzen. Die Gruppe unterstützt die Tradition nicht, geht aber auch nicht aktiv dagegen vor (DIS 1.2016, S. 8). So zeigt das Verbot auf dem Gebiet von al Shabaab kaum einen Effekt (LI 31.3.2022, S. 15).

Internationale und lokale NGOs führen Sensibilisierungsprogramme durch (UNFPA 4.2022; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 22f), landesweit bemühen sich die Regierungen, die Verbreitung von FGM einzuschränken (AA 2.4.2020, S. 16) – speziell jene der Infibulation (LIFOS 16.4.2019, S. 41f). Mit durch internationale Organisationen finanzierten Kampagnen wird landesweit gegen FGM angekämpft, auch einige Ministerien sind aktiv. UNFPA gibt an, dass 890 somalische Gemeinden zwischen 2014 und 2017 die Durchführung von FGM aufgegeben haben (LIFOS 16.4.2019, S. 31). UNFPA führt die Kampagne „Dear Daughter“, mit welcher Eltern – und v.a. Mütter – hinsichtlich der Folgen von FGM sensibilisiert werden (TEA 17.12.2022). Auch Medien, Prominente und religiöse Persönlichkeiten werden in Kampagnen eingebunden (CEDOCA 9.6.2016, S. 24f). Während das Thema früher als Tabu erachtet wurde, sprechen Politiker und Persönlichkeiten sich heute öffentlich gegen FGM aus (TEA 17.12.2022).

Bereits im Jahr 2011 erhobene Zahlen für Puntland zeigten eine rückläufige FGM-Rate. In der Altersgruppe 45-49 waren 2011 97,8 % der Frauen von irgendeiner Form von FGM betroffen, in jener von 15-19 Jahren waren es 97,3 %, in der Gruppe 10-14 waren es 82,3 % (CEDOCA 9.6.2016, S. 15). Die Infibulationsrate ist von 93,2 % im Jahr 2005 auf 86,7 % im Jahr 2011 zurückgegangen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. LIFOS 16.4.2019, S. 14). Im Jahr 2011 waren ca. 90 % der über 25-Jährigen, 85,4 % der 20-24-Jährigen und 79,7 % der 15-19-Jährigen von einer Infibulation betroffen (CEDOCA 9.6.2016, S. 10). Auch eine Studie aus dem Jahr 2015 zeigt, dass die Infibulationsrate in Puntland zurückgeht - und auch die Sunna Kabir. Die Sunna Saghir (im Sinne einer moderaten Beschneidung der Klitoris) hingegen ist auf dem Vormarsch (CEDOCA 9.6.2016, S. 10; vgl. Crawford 2015, S. 70). Dementgegen gaben bei einer puntländischen Studie im Jahr 2018 nur 65 % der befragten Frauen an, selbst beschnitten zu sein; nur ein Drittel gab an, dass die eigene Tochter beschnitten sei (LIFOS 16.4.2019, S. 20).

Schon 1985 hat ein Trend eingesetzt, mit dem sich die Sunna nunmehr zur üblichsten Form der Beschneidung entwickeln konnte (FIS 5.10.2018, S. 30f). Obwohl es sich bei der Infibulation immer noch um das am weitesten verbreitete Verfahren handelt, ist der Anteil der Mädchen, die infibuliert werden, in letzter Zeit zugunsten weniger umfangreicher Verfahren - etwa der Sunna - zurückgegangen. Letztere trifft auf gestiegene gesellschaftliche Akzeptanz (LI 14.9.2022). So werden in Mogadischu junge Mädchen nicht mehr der Infibulation, sondern hauptsächlich der Sunna ausgesetzt (Crawford 2015, S. 70). Gemäß Zahlen einer Studie aus dem Jahr 2017 ist in Mogadischu kaum ein unter 18-Jähriges Mädchen infibuliert; dagegen kommen sowohl große als auch kleine Sunna breitflächig zur Anwendung. Insgesamt waren bei dieser Studie rund ein Viertel der beschnittenen Unter-18-Jährigen von Infibulation, die große Mehrheit von kleiner und großer Sunna betroffen. Die Infibulation ist also insgesamt zurückgedrängt worden (STC 9.2017), dies wird von mehreren Quellen bestätigt (LIFOS 16.4.2019, S. 14f/39; vgl. DIS 1.2016, S. 7; FIS 5.10.2018, S. 30f; PC 1.2018, S. 22ff; BMC Yussuf 2020, S. 1f). Außerdem sprachen sich in einer Umfrage aus dem Jahr 2017 42,6 % gegen die Tradition von FGM aus (AV 2017, S. 19). Allerdings gaben nur 15,7 % an, dass in ihrer Gemeinde („community“) FGM nicht durchgeführt wird (AV 2017, S. 25). Bei einer Studie im Jahr 2015 wendete sich die Mehrheit der Befragten gegen die Fortführung der Infibulation, während es kaum Unterstützung für eine völlige Abschaffung von FGM gab (CEDOCA 9.6.2016, S. 7). Die Unterstützung für FGM/C ist jedenfalls gesunken (BMC Yussuf 2020, S. 2). Zum Beispiel wurden in Cadaado (Mudug) im November 2020 nur noch 28 von 278 Eingriffen als Infibulation ausgeführt, im Dezember waren es 22 von 222. Dahingegen sind es Anfang 2019 noch über 200 Infibulationen pro Monat gewesen. Auch hier hat sich die Sunna durchgesetzt (RE 15.2.2021). Bei der Bewertung dieses Trends muss aber berücksichtigt werden, dass in manchen Fällen davon auszugehen ist, dass einfach nur nicht soweit zugenäht wird wie früher; der restliche Eingriff aber de facto einer Infibulation entspricht - und trotzdem von den Betroffenen als "Sunna" bezeichnet wird (Crawford 2015, S. 70).

Schlussendlich gibt es in Süd-/Zentralsomalia auch noch Bevölkerungsgruppen oder Gemeinschaften, wo generell keine Infibulation durchgeführt wird. Dies betrifft etwa einige ländliche Gemeinden der Rahanweyn sowie einige Bantugruppen an der äthiopischen Grenze, aber auch die städtischen Gemeinschaften der Reer Xamar und Reer Baraawe. Dort gibt es zwar eine Beschneidung (Sunna), nicht aber eine Infibulation. Jedenfalls sind solche Gruppen die Ausnahme und nicht die Regel (Crawford 2015, S. 71f).

Quellen:

AA - Auswärtiges Amt [Deutschland] (28.6.2022): Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Bundesrepublik Somalia

AV - Africa’s Voices (2017): Beliefs and practices of Somali citizens related to child protection and gender

BMC Yussuf - BMC Health Services Research / Mohammed Yussuf et al. (2020): Exploring the capacity of the Somaliland healthcare system to manage female genital mutilation / cutting-related complications and prevent the medicalization of the practice: a cross-sectional study

CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.

Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting

FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018

LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]

LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)

ÖB - Österreichische Botschaft Nairobi [Österreich] (11.2022): Asylländerbericht Somalia

PC - Population Council / Powell, Richard A. / Yussuf, Mohamed (1.2018): Changes in FGM/C in Somaliland: Medical narrative driving shift in types of cutting. Evidence to End FGM/C: Research to Help Women Thrive

RE - Radio Ergo (15.2.2021): Fewer Somali girls in Adado being subjected to full cut

STC - Safe the Children (9.2017): Changing Social Norms in Somalia: Exploring the Role of Community Perception in FGM/C, Fact Sheet No. 6

TEA - The East African (17.12.2022): Alarm as 20 Somali girls subjected to FGM in Somalia's Kismayu

TRF - Thomson Reuters Foundation (27.2.2019): Somali refugee's fight against 'silent killer' of FGM inspires film

UNFPA - UN Population Fund (4.2022): Community Knowledge, Attitudes and Practices on FGM Puntland

UNFPA - United Nations Population Fund (6.10.2021): A tribute to Puntland for bold actions to eliminate Female Genital Mutilation

UNFPA - UN Population Fund (5.3.2021): Overview of Gender Based Violence in Somalia

UNICEF (29.6.2021): Ending child marriage and female genital mutilation in Eastern and Southern Africa: Case studies of promising practices from across the region

UNN - UN News (4.2.2022): Daughters of Somalia, a continuous pledge to end female genital mutilation

USDOS - US Department of State [USA] (12.4.2022): 2021 Country Report on Human Rights Practices - Somalia

3. Reinfibulation, Defibulation

Die Thematik der Reinfibulation (Wiederherstellung einer Infibulation, Wiederzunähen) betrifft jene Frauen und Mädchen, die bereits einer Infibulation unterzogen und später deinfibuliert wurden. Letzteres erfolgt z. B. im Rahmen einer Geburt, zur Erleichterung des Geschlechtsverkehrs (LIFOS 16.4.2019, S. 35/12; vgl. LI 14.9.2022, S. 9/12) oder aber z. B. auf Wunsch der Familie, wenn bei der Menstruation Beschwerden auftreten (LIFOS 16.4.2019, S. 32; vgl. LI 14.9.2022, S. 12). Quellen der norwegischen COI-Einheit berichten, dass es anekdotische Berichte von Fällen gibt, in denen eine neue Intervention durchgeführt wird, weil die Familie eine umfassendere Intervention als die ursprüngliche wünscht (LI 14.9.2022).

Eine Reinfibulation kommt v. a. dann vor, wenn Frauen - üblicherweise noch vor der ersten Eheschließung - eine bestehende Jungfräulichkeit vorgeben wollen (DIS 1.2016, S. 23). Obwohl es vor einer Ehe gar keine physische Untersuchung der Jungfräulichkeit gibt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f) kann es bei jungen Mädchen, die z. B. Opfer einer Vergewaltigung wurden, zu Druck oder Zwang seitens der Eltern kommen, sich eine Reinfibulation zu unterziehen (Crawford 2015, S. 73/76; vgl. CEDOCA 13.6.2016, S. 9). Vergewaltigungsopfer werden oft wieder zugenäht (TRF 27.2.2019; vgl. LI 14.9.2022, S. 12). Es kann auch vorkommen, dass Eltern oder Verwandte eine bestehende Infibulation als zu gering erachten und ein Mädchen deswegen zu einem zweiten Eingriff geschickt wird (Crawford 2015, S. 74). Es gibt anekdotische Berichte über Fälle, in denen unverheiratete Mädchen oder junge Frauen aus der Diaspora nach Somalia geschickt wurden, um eine Reinfibulation durchzuführen (LI 14.9.2022).

Stellt nämlich der Ehemann in der Hochzeitsnacht fest, dass eine Deinfibulation bereits vorliegt, kann dies Folgen haben – bis hin zur sofortigen Scheidung. Letztere kann zu einer indirekten Stigmatisierung infolge von "Gerede" führen. Generell können zur Frage der Reinfibulation von vor der Ehe deinfibulierten Mädchen und jungen Frauen nur hypothetische Angaben gemacht werden, da z. B. den von der schwedischen COI-Einheit LIFOS befragten Quellen derartige Fälle überhaupt nicht bekannt waren (LIFOS 16.4.2019, S. 40f).

Als weitere Gründe, warum sich Frauen für eine Reinfibulation im Sinne einer weitestmöglichen Verschließung entscheiden, werden in einer Studie aus dem Jahr 2015 folgende genannt: a) nach einer Geburt: Manche Frauen verlangen z. B. eine Reinfibulation, weil sie sich nach Jahren an ihren Zustand gewöhnt hatten und sich die geöffnete Narbe ungewohnt und unwohl anfühlt; b) manche geschiedene Frauen möchten als Jungfrauen erscheinen; c) Eltern von Vergewaltigungsopfern fragen danach; d) in manchen Bantu-Gemeinden in Süd-/Zentralsomalia möchten Frauen, deren Männer für längere Zeit von zu Hause weg sind, eine Reinfibulation als Zeichen der Treue (Crawford 2015, S. 76; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 11).

Gesellschaftlich verliert die Frage einer Deinfibulation oder Reinfibulation nach einer Eheschließung generell an Bedeutung, da die Vorgabe der Reinheit/Jungfräulichkeit irrelevant geworden ist (LIFOS 16.4.2019, S. 40). Für verheiratete oder geschiedene Frauen und für Witwen gibt es keinen Grund, eine Jungfräulichkeit vorzugeben (CEDOCA 13.6.2016, S. 6).

Wird eine Frau vor einer Geburt deinfibuliert, kann es vorkommen, dass nach der Geburt eine Reinfibulation stattfindet. Dies obliegt i. d. R. der Entscheidung der betroffenen Frau (LIFOS 16.4.2019, S. 40; vgl. CEDOCA 9.6.2016, S. 26). Die Gesellschaft hat kein Problem damit, wenn eine Deinfibulation nach einer Geburt bestehen bleibt (CEDOCA 9.6.2016, S. 26), und es gibt üblicherweise keinen Druck, sich einer Reinfibulation zu unterziehen. Viele Frauen fragen aber offenbar von sich aus nach einer (manchmal nur teilweisen) Reinfibulation (CEDOCA 13.6.2016, S. 9f). Gemäß Angaben einer Quelle ist eine derartige - von der Frau verlangte - Reinfibulation in Somalia durchaus üblich. Manche Frauen unterziehen sich demnach mehrmals im Leben einer Reinfibulation (Crawford 2015, S. 73/75f). Nach anderen Angaben kann ein derartiges Neu-Vernähen der Infibulation im ländlichen Raum vorkommen, ist in Städten eher unüblich (FIS 5.10.2018, S. 29). Die Verbreitung variiert offenbar auch geografisch: Bei Studien an somalischen Frauen in Kenia haben sich 35 von 57 Frauen einer Reinfibulation unterzogen. Gemäß einer anderen Studie entscheiden sich in Puntland 95 % der Frauen nach einer Geburt gegen eine Reinfibulation (CEDOCA 9.6.2016, S. 13f). Insgesamt gibt es zur Reinfibulation keine Studien, die Prävalenz ist unbekannt (LI 14.9.2022, S. 12f). Eine Wissenschaftlerin, die sich seit Jahren mit FGM in Somalia auseinandersetzt, sieht keine Grundlage dafür, dass nach einer Geburt oder Scheidung systematisch eine Reinfibulation durchgeführt wird – weder in der Vergangenheit noch in der heutigen Zeit. Im somalischen Kontext wird demnach eine Infibulation durchgeführt, um die Jungfräulichkeit vor der Ehe zu „beweisen“. Dementsprechend macht es keinen Sinn, eine verheiratete Frau nach der Geburt zu reinfibulieren (LI 14.9.2022).

Freilich kann es vorkommen, dass eine Frau – wenn sie z. B. physisch nicht in der Lage ist, eine Entscheidung zu treffen – auch gegen ihren Willen einer Reinfibulation unterzogen wird; die Entscheidung treffen in diesem Fall weibliche Verwandte oder die Hebamme. Es kann natürlich auch nicht völlig ausgeschlossen werden, dass Frauen durch Druck von Familie, Freunden oder dem Ehemann zu einer Reinfibulation gedrängt werden. Insgesamt hängt das Risiko eine Reinfibulation also zwar vom Lebensumfeld und der körperlichen Verfassung der Frau nach der Geburt ab, aber generell liegt die Entscheidung darüber bei ihr selbst. Sie kann sich nach der Geburt gegen eine Reinfibulation entscheiden. Es kommt in diesem Zusammenhang weder zu Zwang noch zu Gewalt (LIFOS 16.4.2019, S. 40f). Keine der zahlreichen, von der schwedischen COI-Einheit LIFOS dazu befragten Quellen hat jemals davon gehört, dass eine deinfibulierte Rückkehrerin nach Somalia dort zwangsweise reinfibuliert worden wäre (LIFOS 16.4.2019, S. 41).

Quellen:

CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (13.6.2016): Somalië - Defibulatie en herinfibulatie bij geïnfibuleerde vrouwen in Zuid- en Centraal-Somalië; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.

CEDOCA - Documentation and Research Department of the CGRS [Belgien] (9.6.2016): Somalië - Vrouwelijke genitale verminking (VGV) in Somaliland en Puntland; Dokument liegt bei der Staatendokumentation auf.

Crawford, S. / Ali, S. / HEART - Health and Education Advice and Resource Team (2015): Assignment Report. Situational analysis of FGM/C stakeholders and interventions in Somalia

DIS - Danish Immigration Service [Dänemark] (1.2016): South Central Somalia - Female Genital Mutilation/Cutting

FIS - Finnish Immigration Service [Finnland] (5.10.2018): Somalia: Fact-Finding Mission to Mogadishu and Nairobi, January 2018

LI - Landinfo [Norwegen] (14.9.2022): Kjønnslemlestelse av kvinner [FGM]

LIFOS - Lifos/Migrationsverket [Schweden] (16.4.2019): Somalia - Kvinnlig könsstympning (version 1.0)

TRF - Thomson Reuters Foundation (27.2.2019): Somali refugee's fight against 'silent killer' of FGM inspires film

2. Beweiswürdigung:

2.1. Zur Person der Beschwerdeführerin:

Die Angaben der Beschwerdeführerin zu ihrer Staats-, Religions- und Clanzugehörigkeit können dem Grunde nach als plausibel angesehen werden, zumal sie zweifellos aus dem somalischen Kulturraum stammt. Vor dem Hintergrund der in Schweden durchgeführten Sprachanalyse kann die von der Beschwerdeführerin angegebene Herkunftsregion nicht festgestellt werden. Ebenso kann infolge ihrer verschiedenen Angaben zu ihrem Geburtsdatum nicht von einer geklärten Identität ausgegangen werden.

Aufgrund eingebrachter medizinischer Unterlagen steht fest, dass bei der Beschwerdeführerin eine Typ-II bis III-FGM vorliegt und sie in Österreich eine sogenannte Defibulation vornehmen ließ. Es ist glaubhaft und nachvollziehbar, dass dieser Schritt aus medizinischen Gründen vorgenommen wurde. Den Länderberichten über die Situation in Somalia kann entnommen werden, dass die dortige Gesellschaft einen langsamen Wandel weg von zumindest schweren Formen der FGM vollzieht, allerdings muss hier zwischen dem konservativeren, ländlichen Raum einerseits und dem progressiveren, städtischen Gebiet andererseits unterschieden werden. Während also im städtischen Bereich die Frage der Beschneidung inzwischen weniger streng gesehen wird, kann dies am Land allgemein (noch) nicht erwartet werden. Es muss, soweit im Einzelfall keine gegenläufigen Anhaltspunkte vorliegen, davon ausgegangen werden, dass dort bei einer jungen, ledigen, kinderlosen Frau, die noch nie verheiratet war – wie das bei der Beschwerdeführerin der Fall ist – weiterhin die gesellschaftliche Erwartung der Jungfräulichkeit und somit im Falle einer Typ-III-FGM das Vorliegen einer Infibulation besteht. Selbst wenn die Beschwerdeführerin dort nicht physisch dazu gezwungen werden würde, unterliegt sie durch diese gesellschaftliche Haltung und den damit einhergehenden Druck doch einer realen Gefahr, eine Reinfibulation vornehmen lassen zu müssen und sich damit geschlechtsspezifischer Gewalt zu unterwerfen.

2.2. Zu den Feststellungen zur Situation in Somalia:

Die Feststellungen zur Situation in Somalia beruhen auf den angeführten Quellen des Länderinformationsblattes der Staatendokumentation zu Somalia vom 08.01.2024 (Version 6). Bei den Quellen handelt es sich um Berichte verschiedener anerkannter und teilweise vor Ort agierender Institutionen, die in ihren Aussagen ein übereinstimmendes, schlüssiges Gesamtbild der Situation in Somalia ergeben. Angesichts der Seriosität der angeführten Erkenntnisquellen und der Plausibilität der Aussagen besteht kein Grund, an der Richtigkeit und Aktualität der Darstellung zu zweifeln.

3. Rechtliche Beurteilung:

Zum Spruchteil A)

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides:

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung iSd. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Flüchtling iSd. Art. 1 Abschnitt A Z. 2 GFK ist, wer sich „aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren.“

Für die Asylgewährung kommt es auf die Flüchtlingseigenschaft zum Zeitpunkt der Entscheidung an. Es ist demnach für die Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zum einen nicht zwingend erforderlich, dass der Antragsteller bereits in der Vergangenheit verfolgt wurde, zum anderen ist auch eine bereits stattgefundene Verfolgung („Vorverfolgung“) für sich genommen nicht hinreichend (VwGH 03.09.2021, Ra 2021/14/0108).

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist. Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde. Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen. Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Die Verfolgungsgefahr steht mit der wohlbegründeten Furcht in engstem Zusammenhang und ist Bezugspunkt der wohlbegründeten Furcht. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 23.10.2019, Ra 2019/19/0413).

Das Vorbringen des Antragstellers muss, um eine maßgebliche Wahrscheinlichkeit und nicht nur eine entfernte Möglichkeit der Verfolgung glaubhaft zu machen, eine entsprechende Konkretisierung aufweisen. Die allgemeine Behauptung von Verfolgungssituationen, wie sie in allgemein zugänglichen Quellen auffindbar sind, wird grundsätzlich zur Dartuung von selbst Erlebtem nicht genügen (VwGH 10.08.2019, Ra 2018/20/0314).

Eine Verfolgungshandlung ist nicht nur dann relevant, wenn sie unmittelbar von staatlichen Organen ausgeht, sondern auch dann, wenn der Staat nicht willens oder nicht fähig ist, Verfolgungshandlungen zu unterbinden, die nicht von staatlichen Stellen ausgehen (VwGH 22.03.2000, 99/01/0256).

Aufgrund der vorgelegten ärztlichen Unterlagen war festzustellen, dass bei der Beschwerdeführerin eine Typ-III-FGM bei vorgenommener Defibulation vorliegt. Vor dem Hintergrund der Länderberichte war in konkreter Betrachtung des Einzelfalls bei der jungen, ledigen, kinderlosen, aus einem eher ländlichen Gebiet stammenden Beschwerdeführerin nicht mit der notwendigen Wahrscheinlichkeit die Vornahme einer Reinfibulation – und somit geschlechtsspezifischer Gewalt – nach einer Rückkehr auszuschließen. Die Beschwerdeführerin unterliegt somit mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit in ihrer Heimat aufgrund ihrer Eigenschaft als ledige, kinderlose Frau mit einer Typ-III-FGM, welche eine Defibulation vornehmen ließ, sohin aufgrund ihrer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, die von der ihr umgebenden Gesellschaft in Somalia als andersartig wahrgenommen wird, geschlechtsspezifischer Verfolgung in Form einer drohenden Reinfibulation. Zwar geht die hier beschriebene Gefährdung nicht von einem staatlichen Akteur, sondern von der somalischen Gesellschaft an sich aus, doch ist nach den Länderberichten der somalische Staat zumindest unfähig, sie vor diesen Verfolgungshandlungen zu schützen.

Da der Beschwerdeführerin schon aus diesem Grund in Somalia eine asylrelevante Gefahr droht, brauchte auf das weitere Fluchtvorbringen der Beschwerdeführerin in Zusammenhang mit der versuchten Vornahme einer Zwangsverheiratung nicht mehr eingegangen werden.

Eine innerstaatliche Fluchtalternative nach § 11 AsylG 2005 kommt schon alleine deshalb nicht in Betracht, weil die Beschwerdeführerin Gefahr laufen würde auch in anderen Landesteilen Somalias in Folge des gesellschaftlichen Drucks einer Reinfibulation unterzogen zu werden.

Da auch keine (sonstigen) Ausschlussgründe bestehen, ist der Beschwerdeführerin aus diesem Grund der Status der Asylberechtigten zu gewähren. Sie befindet sich nämlich aus wohlbegründeter Furcht vor Verfolgung außerhalb ihres Heimatlandes und ist nicht in der Lage bzw. im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen.

Der Beschwerdeführerin kommt gemäß § 3 Abs. 4 AsylG 2005 eine auf drei Jahre befristete Aufenthaltsberechtigung zu.

Es war daher spruchgemäß zu entscheiden.