JudikaturBVwG

W202 2291503-1 – Bundesverwaltungsgericht Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
03. Juli 2024

Spruch

W202 2291503-1/2E

IM NAMEN DER REPUBLIK!

Das Bundesverwaltungsgericht erkennt durch den Richter Mag. Bernhard SCHLAFFER als Einzelrichter über die Beschwerde von XXXX , geboren am XXXX , Staatsangehöriger von Afghanistan, gegen Spruchpunkt I. des Bescheides des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl vom 05.03.2024, Zl. XXXX , zu Recht:

A) Die Beschwerde wird als unbegründet abgewiesen.

B) Die Revision ist gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig.

Text

Entscheidungsgründe:

I. Verfahrensgang

1. Der Beschwerdeführer (in der Folge: BF) stellte am 24.07.2022 einen Antrag auf internationalen Schutz. Am darauffolgenden Tag wurde er vor einem Organ des öffentlichen Sicherheitsdienstes erstbefragt. Zu seinen Fluchtgründen gab der BF an, seine Familie habe mit den Cousins seines Vaters Erb- und Grundstücksstreitigkeiten gehabt. Sein Bruder sei getötet worden, weshalb der BF den Herkunftsstaat verlassen habe.

2. Am 08.08.2023 wurde der BF vor dem Bundesamt niederschriftlich einvernommen. Er gab an, er sei Angehöriger der Volksgruppe der Paschtunen und bekenne sich der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab er an, er habe für XXXX und sein älterer Bruder „ XXXX “ gearbeitet. Als die Taliban die Macht übernommen hätten, sei sein Bruder von den Taliban umgebracht worden. Daraufhin habe er Anrufe von den Cousins des Vaters, welche XXXX bei den Taliban hätten, erhalten. Die Cousins hätten ihm mitgeteilt, seinen Bruder getötet zu haben. Einen Totenschein des Bruders gebe es nicht. Die Cousins hätten auch die Grundstücke der Familie des BF weggenommen. Nachgefragt gab der BF an, die Grundstücke seien im Jahr XXXX weggenommen worden. Die Cousins hätten den BF telefonisch bedroht und von diesem Geld XXXX verlangt, weil sie gewusst hätten, dass der BF in XXXX gearbeitet und Geld gespart hätte. Der BF sei nach der Machtübernahme der Taliban von XXXX gezogen, da er in XXXX mehr gehabt hätte. In XXXX hätte der BF die Grundstücke der Familie von den Cousins des Vaters zurückzufordern wollen. Das Leben des BF sei in Gefahr gewesen und er habe beschlossen, das Land zu verlassen. Er sei mit seinem anderen Bruder aus Afghanistan in XXXX ausgereist. Das Geld hätte nicht für beide gereicht, weshalb der BF alleine weitergereist sei.

3. Mit gegenständlichem Bescheid des Bundesamtes vom 05.03.2024 wurde der Antrag des BF auf internationalen Schutz vom 24.07.2024 zwar hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten gem. § 3 Abs. 1 iVm § 2 Abs. 1 Z 13 AsylG 2005 abgewiesen (Spruchpunkt I.), ihm jedoch gem. § 8 Abs. 1 AsylG 2005 der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannt (Spruchpunkt II.) und ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung gem. § 8 Abs. 4 AsylG 2005 für die Dauer von einem Jahr erteilt (Spruchpunkt III.).

Begründend wurde ausgeführt, der BF habe keine asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen können. Es habe nicht festgestellt werden können, dass ihm eine persönliche Verfolgung seitens der Taliban drohe. Dem BF sei es jedoch im Entscheidungszeitpunkt aufgrund der prekären Sicherheits- und Menschenrechtslage nicht möglich und zumutbar, nach Afghanistan zurückzukehren und sich dort niederzulassen.

Beweiswürdigend führte das Bundesamt Folgendes aus:

„Sie gaben in der Erstbefragung am 25.07.2022 zusammengefasst an, Ihre Familie hätte mit den Cousins des Vaters Erb- und Grundstückstreitigkeiten gehabt. Ihr Bruder wäre getötet worden und deshalb hätten Sie Afghanistan verlassen. In der Einvernahme vor dem Bundesamt am 08.08.2023 gaben Sie zusammengefasst an, Taliban hätten Ihren Bruder in XXXX nach der Machtübernahme XXXX mitgenommen und ermordet und die Cousins, welche bei den Taliban XXXX hätten, hätten Sie telefonisch bedroht, Sie auch zu ermorden. Deshalb hätten Sie mit Ihrem jüngeren Bruder das Land verlassen.

Hinsichtlich der Ermordung des Bruders als ein Fluchtauslöser gaben Sie im Verfahren an, Ihr älterer Bruder, welcher zuvor XXXX gearbeitet hätte, hätte versucht, bei Übernahme XXXX durch die Taliban im XXXX zu werden. Dies hätte nicht funktioniert und die Brüder, Sie und die Familie wäre von der Provinz XXXX , in die Herkunftsprovinz gezogen. XXXX hätte Ihre Frau Sie XXXX angerufen und mitgeteilt, dass die Taliban bei Ihnen zu Hause gewesen wären und den älteren Bruder mitgenommen hätten. Sie wären sofort mit dem jüngeren Bruder nach XXXX zu einem Freund gereist. XXXX hätte die Familie die Leiche des Bruders bekommen. Sie wären daraufhin mit dem jüngeren Bruder aus Afghanistan ausgereist und Sie weiter nach Europa.

Erst auf Nachfrage in der Einvernahme, weshalb Sie ein Konvolut von Arbeitsunterlagen des Bruders, unter anderem Tätigkeiten XXXX “, vorgelegt hätten, jedoch kein Schriftstück nach XXXX ausgestellt worden wäre, gaben Sie an, dieser hätte nach XXXX gearbeitet. Auf entsprechende Nachfragen gaben Sie nicht nachvollziehbar an, von XXXX bekäme man keine Schriftstücke oder dergleichen, auch konnten Sie, obwohl dieser im selben Haushalt lebte, nicht angeben, in welchen Zeiträumen er bei den von Ihnen angeführten XXXX gearbeitet haben sollte. Darüber hätten sie nie gesprochen. Auch hinsichtlich eines Schriftstückes als Nachweis des Todes gaben Sie erst auf Nachfragen an, es gäbe keinen Totenschein, da dies alle im Dorf wüssten, sie hätten keinen beantragen können, da nicht anwesend und nur männliche Personen der Familie diesen beantragen könnten. Auf Vorhalt, dass Sie über den Schwager sämtliche Ihrer vorgelegten Dokumente und auch Dokumente des Bruders bis XXXX und dessen Familie XXXX nach Österreich übermittelt hätten bekommen, gaben Sie unter anderem an, der Schwager wüsste, wo Sich in Österreich aufhalten würden, sie würden mit diesem jedoch keinen Kontakt aufnehmen, um diesen nicht in Gefahr zu bringen (Anmerkung: Der Schwager hätte sämtliche Dokumente über einen weiteren Dorfbewohner XXXX zum Asylwerber übermitteln lassen). Befragt um die näheren Umstände des Todes des Bruders gaben Sie wiederum lediglich oberflächlich an, die Dorfbewohner hätten ihn gefunden, mehr wüssten Sie nicht, Ihre Frau wäre wohl zu Hause gewesen, als die Taliban gekommen wären, wüsste aber weder, wie viele Personen gekommen wären, wie diese zum Haus gekommen wären, wie diese den Bruder mitgenommen hätten oder dergleichen. Der einzige faktische Inhalt Ihrer Schilderungen dazu war, die Taliban hätten ihn mitgenommen (Vgl. EV: „LA: Was hat die Frau erzählt, was ist genau passiert? VP: sie erzählte, die Taliban waren da, sie haben meinem Bruder gesagt, sie brauchen ihn, er solle mitkommen.“). Gefragt, warum Sie nicht bei den Cousins innerhalb der XXXX nachgefragt hätten, was mit dem Bruder wäre, gaben Sie lediglich an, diese hätten mit Ihnen eine sehr schlechte Beziehung gehabt, und sie hätten sich in der Vergangenheit gegenseitig beschimpft. Sie hätten damit gerechnet, dass die Cousins hinter der Sache stecken würden und es hätte nichts gebracht, persönlich oder zum Beispiel über Nachbarn, XXXX mit diesen über die Freilassung des Bruders oder dergleichen zu verhandeln.

Für das Bundesamt sind die angeführten Argumentationen befremdend, nicht nachvollziehbar und lebensfern. So ist nicht nachvollziehbar, dass Sie nicht einmal versuchten, Alles zu tun, um den Bruder vor Schaden zu bewahren und freizubekommen, wo Sie doch im späteren Kontext Ihres Vorbringens scheinbar den Cousins vermittelten, eine Gefahr zu sein, da Sie die Familiengrundstücke von diesen zurückverlangen wollten. Auch waren Ihre Schilderungen im Gesamten im Verfahren sehr oberflächlich und vage und endeten im Grunde regelmäßig darin, dass etwas passiert wäre, die erzählten Inhalte blieben abgesehen der Rahmenumstände durchgehend vage und auch weitgehend lebensfern. Dies betrifft hinsichtlich des Bruders sowohl dessen konkrete Tätigkeiten ab XXXX , die Umstände seines Todes und seiner Auffindung. Das Bundesamt ist es somit bereits in Summe nicht möglich, den Tod des Bruders festzustellen, da jegliche Beweise für dessen Aktivitäten und möglichem Verbleib seit XXXX fehlen und lediglich Ihre Angaben dazu nicht mit ausreichender Wahrscheinlichkeit seinen Tod glaubhaft zu machen vermögen. Aber selbst bei Wahrheitsunterstellung der Vorgänge um den Bruder bleibt weiter unklar, weshalb dessen Tod die Ursache für Ihre Verfolgung bedeuten sollte.

Gaben Sie zu Ihren eigenen Fluchtgründen doch an, Sie hätten bereits vor der Übernahme Afghanistans immer wieder Drohanrufe der Cousins erhalten, da diese Geld XXXX verlangt hätten. Sie hätten diesen damals gesagt, sie würden keinen Cent erhalten und daraufhin hätten sich die Cousins die Grundstücke der Familie in XXXX an sich genommen. Somit stellt auch dies keinen Verfolgungsgrund dar, da die Cousins die Grundstücke zum Zeitpunkt Ihrer Flucht bereits kontrollierten, als Taliban keine Gefahr von Ihnen fürchten mussten und auch kein Geld von Ihnen erhalten konnten, da Sie und Ihre Brüder nach dem Machtwechsel lt. Ihren Angaben XXXX mehr hatten.

Nach Ihren Angaben in der Einvernahme ist auch nicht die mögliche Arbeit des Bruders XXXX maßgebliches Motiv für dessen Tötung nach der Machtübernahme durch die Taliban – das gaben Sie auch nie an - sondern die Befürchtung, dass Ihre Familie die Grundstücke zurückfordern würde (Vgl. EV LA: „Haben Sie sämtliche Gründe … vorbringen können?“ VP: „…haben wir ihnen gesagt, dass sie keinen Cent von uns erhalten, sie könnten machen, was sie wollen. Dann haben Sie unsere Grundstücke genommen. Als wir zurück im Dorf waren, haben sie meinen Bruder getötet und mich bedroht. Sie glaubten, dass wir die Grundstücke zurückverlangen würden.“). Dieses Argument ist wiederum schwer nachvollziehbar, da Sie einerseits im Verfahren angaben, die Cousins wären XXXX Taliban, andererseits diese Cousins, nachdem deren Gruppe das gesamte Land problemlos übernommen hatte und das völlige Kontrollmonopol ausübte, wohl schwerlich befürchten müssten, Sie würden diesen die Grundstücke wieder wegnehmen. Entsprechend verhält es sich auch mit den angeführten Drohungen Ihnen gegenüber. Die Cousins hatten es augenscheinlich aufgrund deren Position nicht nötig, Ihnen nach der Machtübernahme zu drohen oder von Ihnen etwas zu befürchten. Auch Ihr weiteres angeführtes Motiv der Todesdrohung war nicht schlüssig nachvollziehbar (Vgl. EV: „VP: Mein Bruder wurde von den Taliban mitgenommen. Die XXXX Cousins haben XXXX bei den Taliban. Nach dem Tod des Bruders hat ein Cousin meines Vaters – auf Nachfrage XXXX – mich angerufen und gedroht, dass sie meinen Bruder getötet haben und würden mich auch töten, wenn sie mich erwischen würden. LA: Warum sollte man Sie töten? VP: Als er mich früher bedroht hat, habe ich ihn beschimpft, aus diesem Grund war dieser beleidigt. LA: Und hat sich XXXX lang nicht gerächt? VP: nein, weil sie nicht an der Macht waren.“)

Somit ist für das Bundesamt auch Ihre Darstellung der Verfolgung und Todesdrohung nicht lebensnah nachvollziehbar. Die Taliban hatten es nach der vorliegenden Berichtslage nach der Machtübernahme nicht nötig, sich vor Einzelpersonen zu fürchten. Persönlichen Kontakt hatten Sie mit den Cousins lt. Ihren Angaben nach der Reise von XXXX in die Provinz XXXX niemals mehr. Auch gaben Sie im Verfahren niemals an, dass die nun herrschenden Taliban bzw. auch Ihre Cousins sich aufgrund vergangener Probleme nun endlich rächen hätten können oder wollen. Gaben Sie doch an anderer Stelle an, die Provinz in XXXX wäre schon immer von den Taliban kontrolliert worden und Sie wechselten mit Ihren Familien lt. Ihren Angaben bewusst XXXX von der Provinz XXXX zurück in die ursprüngliche Herkunftsprovinz XXXX . Folglich ist davon auszugehen, dass Sie deshalb in XXXX ursprünglich auch keine lebensbedrohenden Probleme fürchteten.

Zu den fraglichen Grundstücken gaben Sie erst auf Nachfrage im Verfahren an, die Cousins hätten Ihre Grundstücke in der Größe von gesamt ca. XXXX bereits XXXX zuvor, im Jahre XXXX übernommen. Nachgefragt, ob Sie in den XXXX über Regierung oder örtliche XXXX versucht hätten, Gerechtigkeit zu bekommen, gaben Sie an, die Taliban hätten in der Region – in Ihrem Fall das Dorf XXXX , Distrikt XXXX , Provinz XXXX - die Macht gehabt. Dazu gaben Sie auf Nachfrage in der Einvernahme später an, Sie und die Brüder hätten nach der Machtübernahme XXXX mehr gehabt, wären nach XXXX zurückgekehrt und hätten dort von den Cousins die Grundstücke zurückholen wollen, um anzubauen und von der Ernte zu leben. Auf den Realismus dieses Vorhabens angesprochen, führten Sie nur aus, die Taliban hätten generell nach der Machtübernahme gesagt, sie würden Niemandem Probleme machen und allen vergeben. Auf Nachweise wie Grundstücksurkunden oder allfälligen Schriftverkehr über den Versuch, die Grundstücke die letzten XXXX zurückzubekommen angesprochen, gaben Sie an, die Dokumente wären im Haus in XXXX und keiner würde es wagen, dort hinzugehen. Für das Bundesamt erhärtet Ihre Argumentation betreffend der Grundstücke in Summe wiederum den Eindruck, dass es möglicherweise einen wahren Kern beinhaltet, jedoch in den Schilderungen völlig lebensfern lediglich zur Asylerlangung derart dargestellt wird.

Die Ansicht der Behörde wird schon alleine dadurch untermauert, dass es Ihren Familienangehörigen, mit welchen Sie den Großteil Ihres bisherigen Lebens verbracht haben, nach wie vor, auch unter der Kontrolle der Taliban, möglich ist, in Ihrem Herkunftsstaat zu verbleiben und diese offensichtlich keine Lebensweise führen, welche im Widerspruch zu der von den Taliban erwarteten Lebensweise steht. Angaben wonach Sie selbst eine Lebensweise geführt hätten, die im Widerspruch zu den kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen stehen würde, in welchen Sie etwa XXXX sozialisiert wurden und gelebt haben kann aus Ihren Angaben zudem nicht entnommen werden. Auch ist nicht ersichtlich, dass Sie, aufgrund Ihres im Verhältnis zur Dauer Ihres Aufenthaltes in Afghanistan, sehr kurzen Aufenthaltes in Europa der Lebensweise Ihres Herkunftsstaates völlig entrückt wären. Angaben aus denen abgeleitet werden könnte, dass Sie den kulturellen und sozialen Gepflogenheiten Ihres Herkunftsstaat völlig entrückt wären, selbst unter Beachtung der Machtergreifung der Taliban, gehen aus Ihren Ausführungen nicht hervor.

Ebenso konnte eine maßgeblich relevante Bedrohung oder Verfolgung aus sonstigen Gründen, wie dargelegt, nicht festgestellt werden. Da Sie vor der Ausreise für das Bundesamt wie obig angeführt, nicht glaubhaft und nachvollziehbar in den Fokus der Taliban geraten sind und ebenso keiner Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt gewesen sind, ist auch nicht ersichtlich, dass Sie nunmehr, aufgrund der von Ihnen XXXX getätigten Ausreise einer Bedrohung oder Verfolgung ausgesetzt wären. Auch aufgrund der Machtübernahme durch die Taliban kamen keine Anhaltspunkte hervor, die den Schluss zulassen würden, dass Sie nunmehr aus einem in der GFK genannten Grund einer Bedrohung oder Verfolgung in Ihrem Herkunftsstaat ausgesetzt wären.

Auch bleibt anzuführen, dass Sie auf Ihrer Reise nach Österreich mehrfach Länder durchreisten, in welchen Sie ebenso vor einer Verfolgung oder Bedrohung in Sicherheit gewesen wären. Einen Antrag auf internationalen Schutz stellen Sie jedoch erst im Bundesgebiet und spricht auch das Erreichen eines vorbestimmten Zielstaates zum Zweck der Weiterbildung gegen das tatsächliche Bestehen einer Bedrohungssituation.“

4. Gegen Spruchpunkt I. dieses Bescheides erhob der BF am 25.03.2024 fristgerecht Beschwerde, in welcher im Wesentlichen dessen unrichtige Feststellungen, Mangelhaftigkeit des Verfahrens sowie die unrichtige rechtliche Beurteilung geltend gemacht wurden.

Der BF habe sehr wohl mit einer Verfolgung aus politischen/religiösen Gründen und wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, da sich seine Familie gegen die Taliban gestellt hätte, zu rechnen. Zudem fürchte der BF auch eine Verfolgung aufgrund seiner westlichen Lebenseinstellung und wegen der erlittenen Gewalt in Afghanistan und der BF habe somit sehr wohl mit Vergeltungsmaßnahmen der Taliban zu rechnen.

5. Am 07.05.2024 wurde die Beschwerde inklusive des mit ihr in Bezug stehenden Verwaltungsaktes dem Bundesverwaltungsgericht vorgelegt.

II. Das Bundesverwaltungsgericht hat erwogen:

1. Feststellungen

1.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Der BF führt den Namen XXXX , wurde am XXXX geboren. Seine Identität steht nicht fest. Er ist Staatsangehöriger von Afghanistan, gehört der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung des Islam an. Seine Muttersprache ist Paschtu.

Der BF stammt ursprünglich aus der Provinz XXXX , Distrikt XXXX , Dorf XXXX . Der BF hat vor seiner Ausreise aus dem Herkunftsstaat XXXX lang in XXXX gelebt.

Der BF ist strafrechtlich unbescholten.

1.2. Zu den Fluchtgründen

Der BF ist im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen aus einem der in der GFK genannten Motiven ausgesetzt.

1.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

1.3.1. Auszug aus dem COI-CMS Afghanistan vom 28.09.2023, Version 10:

Sicherheitslage

Seit der Machtübernahme der Taliban in Kabul am 15.08.2021 ist das allgemeine Ausmaß des Konfliktes zurückgegangen (UNGA 28.01.2022, vgl. UNAMA 27.06.2023). Nach Angaben der Vereinten Nationen gab es beispielsweise weniger konfliktbedingte Sicherheitsvorfälle wie bewaffnete Zusammenstöße, Luftangriffe und improvisierte Sprengsätze (IEDs) (UNGA 28.01.2022) sowie eine geringere Zahl von Opfern unter der Zivilbevölkerung (UNAMA 27.06.2023; vgl. UNAMA 7.2022). Die Hilfsmission der Vereinten Nationen in Afghanistan (UNAMA) hat jedoch weiterhin ein erhebliches Ausmaß an zivilen Opfern durch vorsätzliche Angriffe mit improvisierten Sprengsätzen (IEDs) dokumentiert (UNAMA 27.06.2023).

UNAMA registrierte zwischen dem 15.08.2021 und dem 30.05.2023 mindestens 3.774 zivile Opfer, davon 1.095 Tote (UNAMA 27.06.2023; vgl. AA 26.06.2023). Im Vergleich waren es in den ersten sechs Monaten nach der Machtübernahme der Taliban 1.153 zivile Opfer, davon 397 Tote, während es in der ersten Jahreshälfte 2021 (also vor der Machtübernahme der Taliban) 5.183 zivile Opfer, davon 1.659 Tote, gab. In der Mehrzahl handelte es sich um Anschläge durch Selbstmordattentäter und IEDs. Bei Anschlägen auf religiöse Stätten wurden 1.218 Opfer, inkl. Frauen und Kinder, verletzt oder getötet. 345 Opfer wurden unter den mehrheitlich schiitischen Hazara gefordert. Bei Angriffen auf die Taliban wurden 426 zivile Opfer registriert (AA 26.06.2023).

Nach Angaben der Vereinten Nationen entwickelten sich die sicherheitsrelevanten Vorfälle seit der Machtübernahme der Taliban folgend:

19.08.2021 - 31.12.2021: 985 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 91% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 28.1.2022)

01.01.2022 - 21.05.2022: 2.105 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 467% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 15.6.2022)

22.05.2022 - 16.08.2022: 1.642 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 77,5% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 14.9.2022)

17.08.2022 - 13.11.2022: 1,587 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 23% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 7.12.2022)

14.11.2022 - 31.01.2023: 1,088 sicherheitsrelevante Vorfälle (Anstieg von 10% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 27.2.2023)

01.02.2023 - 20.05.2023: 1.650 sicherheitsrelevante Vorfälle (Rückgang von 1% gegenüber dem Vorjahr) (UNGA 20.06.2023)

Ende 2022 und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 nehmen die Zusammenstöße zwischen bewaffneten Gruppierungen und den Taliban weiter ab (UNGA 27.02.2023; vgl. UNGA 20.06.2023). Die Nationale Widerstandsfront, die Afghanische Freiheitsfront und die Bewegung zur Befreiung Afghanistans (ehemals Afghanische Befreiungsfront) bekannten sich zu Anschlägen in den Provinzen Helmand, Kabul, Kandahar, Kapisa, Nangarhar, Nuristan und Panjsher (UNGA 27.02.2023). Die dem Taliban-Verteidigungsministerium unterstehenden Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen gegen Oppositionskämpfer durch, darunter am 11.04.2023 eine Operation gegen die Afghanische Freiheitsfront im Bezirk Salang in der Provinz Parwan, bei der Berichten zufolge acht Oppositionskämpfer getötet wurden (UNGA 20.06.2023).

Die Vereinten Nationen berichten, dass Afghanistan nach wie vor ein Ort von globaler Bedeutung für den Terrorismus ist, da etwa 20 terroristische Gruppen in dem Land operieren. Es wird vermutet, dass das Ziel dieser Terrorgruppen darin besteht, ihren jeweiligen Einfluss in der Region zu verbreiten und theokratische Quasi-Staatsgebilde zu errichten (UNSC 25.07.2023). Die Grenzen zwischen Mitgliedern von Al-Qaida und mit ihr verbundenen Gruppen, einschließlichTTP (Tehreek-e Taliban Pakistan), und ISKP (Islamic State Khorasan Province) sind zuweilen fließend, wobei sich Einzelpersonen manchmal mit mehr als einer Gruppe identifizieren und die Tendenz besteht, sich der dominierenden oder aufsteigenden Macht zuzuwenden (UNSC 25.07.2023).

Hatten sich die Aktivitäten des ISKP nach der Machtübernahme der Taliban zunächst verstärkt (UNGA 28.01.2022; vgl. UNGA 15.06.2022, UNGA 14.09.2022, UNGA 07.12.2022) so nahmen die im Lauf des Jahres 2022 (UNGA 07.12.2022; vgl. UNGA 27.02.2023) und in der ersten Hälfte des Jahres 2023 wieder ab (UNGA 20.06.2023). Die Gruppe verübte weiterhin Anschläge auf die Zivilbevölkerung, insbesondere auf die schiitischen Hazara (HRW 12.01.2023). Die Taliban-Sicherheitskräfte führten weiterhin Operationen zur Bekämpfung des ISKP durch, unter anderem in den Provinzen Kabul, Herat, Balkh, Faryab, Jawzjan, Nimroz, Parwan, Kunduz und Takhar (UNGA 20.06.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im November 2021 in Kabul, Herat und Mazar-e Sharif durchgeführten Studie gaben 68,3% der Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen. Es wird jedoch darauf hingewiesen, dass diese Ergebnisse nicht auf die gesamte Region oder das ganze Land hochgerechnet werden können. Die Befragten wurden gefragt, wie sicher sie sich in ihrer Nachbarschaft fühlen, was sich davon unterscheidet, ob sie sich unter dem Taliban-Regime sicher fühlen oder ob sie die Taliban als Sicherheitsgaranten betrachten, oder ob sie sich in anderen Teilen ihrer Stadt oder anderswo im Land sicher fühlen würden. Das Sicherheitsgefühl ist auch davon abhängig, in welchem Ausmaß die Befragten ihre Nachbarn kennen und wie vertraut sie mit ihrer Nachbarschaft sind, und nicht darauf, wie sehr sie sich in Sachen Sicherheit auf externe Akteure verlassen. Nicht erfasst wurde in der Studie, inwieweit bei den Befragten Sicherheitsängste oder Bedenken in Hinblick auf die Taliban oder Gruppen wie den ISKP vorliegen. In Bezug auf Straßenkriminalität und Gewalt gaben 79,7% bzw. 70,7% der Befragten an, zwischen September und Oktober 2021 keiner Gewalt ausgesetzt gewesen zu sein. An dieser Stelle ist zu beachten, dass die Ergebnisse nicht erfassen, welche Maßnahmen der Risikominderung von den Befragten durchgeführt werden, wie z. B.: die Verringerung der Zeit, die sie außerhalb ihres Hauses verbringen, die Änderung ihres Verhaltens, einschließlich ihres Kaufverhaltens, um weniger Aufmerksamkeit auf sich zu lenken, sowie die Einschränkung der Bewegung von Frauen und Mädchen im Freien (ATR/STDOK 18.01.2022).

Im Dezember 2022 wurde von ATR Consulting erneut eine Studie im Auftrag der Staatendokumentation durchgeführt. Diesmal ausschließlich in Kabul. Hier variiert das Sicherheitsempfinden der Befragten, was laut den Autoren der Studie daran liegt, dass sich Ansichten der weiblichen und männlichen Befragten deutlich unterscheiden. Insgesamt gaben die meisten Befragten an, sich in ihrer Nachbarschaft sicher zu fühlen, wobei die relativ positive Wahrnehmung der Sicherheit und die Antworten der Befragten, nach Meinung der Autoren, daran liegt, dass es vielen Befragten aus Angst vor den Taliban unangenehm war, über Sicherheitsfragen zu sprechen. Sie weisen auch darauf hin, dass die Sicherheit in der Nachbarschaft ein schlechtes Maß für das Sicherheitsempfinden der Menschen und ihre Gedanken über das Leben unter dem Taliban-Regime ist (ATR/STDOK 03.02.2023). […]

Verfolgungspraxis der Taliban, neue technische Möglichkeiten

Trotz mehrfacher Versicherungen der Taliban, von Vergeltungsmaßnahmen gegenüber Angehörigen der ehemaligen Regierung und Sicherheitskräften abzusehen (AA 20.07.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a), wurde nach der Machtübernahme der Taliban berichtet, dass diese auf der Suche nach ehemaligen Mitarbeitern der internationalen Streitkräfte oder der afghanischen Regierung von Tür zu Tür gingen und deren Angehörige bedrohten. Ein Mitglied einer Rechercheorganisation, welche einen (nicht öffentlich zugänglichen) Bericht zu diesem Thema für die Vereinten Nationen verfasste, sprach von einer „schwarzen Liste“ der Taliban und großer Gefahr für jeden, der sich auf dieser Liste befände (BBC 20.08.2021a; vgl. DW 20.08.2021). Im Zuge der Machtübernahme im August 2021 hatten die Taliban Zugriff auf Mitarbeiterlisten der Behörden (HRW 01.11.2021; vgl. NYT 29.08.2021) unter anderem auf eine biometrische Datenbank mit Angaben zu aktuellen und ehemaligen Angehörigen der Armee und Polizei bzw. zu Afghanen, die den internationalen Truppen geholfen haben (Intercept 17.08.2021). Auch Human Rights Watch (HRW) zufolge kontrollieren die Taliban Systeme mit sensiblen biometrischen Daten, die westliche Geberregierungen im August 2021 in Afghanistan zurückgelassen haben. Diese digitalen Identitäts- und Gehaltsabrechnungssysteme enthalten persönliche und biometrische Daten von Afghanen, darunter Iris-Scans, Fingerabdrücke, Fotos, Beruf, Wohnadressen und Namen von Verwandten. Die Taliban könnten diese Daten nutzen, um vermeintliche Gegner ins Visier zu nehmen, und Untersuchungen von Human Rights Watch deuten darauf hin, dass sie die Daten in einigen Fällen bereits genutzt haben könnten (HRW 30.03.2022).

Die Taliban sind in den sozialen Medien aktiv, unter anderem zu Propagandazwecken. Die Gruppierung [nutzt] soziale Medien und Internettechnik jedoch nicht nur für Propagandazwecke und ihre eigene Kommunikation, sondern auch, um Gegner des Taliban-Regimes aufzuspüren (Golem 20.08.2021; vgl. BBC 20.08.2021a, 8am 14.11.2022). So wurde beispielsweise ein afghanischer Professor verhaftet, nachdem er die Taliban via Social Media kritisierte (FR24 09.01.2022), während ein junger Mann in der Provinz Ghor Berichten zufolge nach einer Onlinekritik an den Taliban verhaftet wurde (8am 14.11.2022). Einem afghanischen Journalisten zufolge verwenden die Taliban soziale Netzwerke wie Facebook und LinkedIn, um jene Afghanen zu identifizieren, die mit westlichen Gruppen und der US-amerikanischen Hilfsagentur USAID zusammengearbeitet haben (ROW 20.08.2021). […]

Ost-Afghanistan

Aktuelle Lage und jüngste Entwicklungen

2022

Am 19.1.2022 wurden ein Kommandeur der Taliban, sein Sohn und drei Zivilisten im Osten der Provinz Kunar erschossen (KP 19.01.2022; vgl. RW 20.01.2022).

Bei zwei Luftangriffen der pakistanischen Streitkräfte entlang der Grenze zu Afghanistan wurden am 16.04.2022 in den Provinzen Kunar und Khost mindestens 47 Menschen getötet und 22 verletzt, hauptsächlich Frauen und Kinder (AOAV 26.04.2022; vgl. AJ 17.04.2022).

Am 20.06.2022 wurden in Nangarhar zwei Zivilisten getötet und 23 verletzt, als ein Fahrzeug, das einen Taliban-Distriktvertreter transportierte, auf einem belebten Markt explodierte. Fünf Taliban-Mitglieder wurden ebenfalls verletzt (AOAV 22.06.2022; vgl. RFE/RL 20.06.2022).

Am 22.06.2022 ereignete sich in den Provinzen Paktika und Khost ein Erdbeben der Stärke 5,9, das schätzungsweise 770 Todesopfer und etwa 1 500 Verletzte forderte (USAID 28.06.2022; vgl. WHO 03.07.2022a).

Am 02.07.2022 explodierte in Nangarhar eine Granate in einem islamischen Seminar, es wurden mindestens acht Personen verletzt (ANI 04.07.2022).

Im August wurde von Zusammenstößen zwischen den Taliban und der National Resistance Front (NRF) in Khost (8am 13.08.2022) und Kapisa (AaNe 24.08.2022) berichtet.

Am 10.10.2022 kam es in der Hauptstadt von Laghman zu einem Angriff auf Sicherheitskräfte der Taliban, bei denen auch Zivilisten verletzt wurden (UNGA 07.12.2022; vgl. Afintl 11.10.2022b).

Am 06.12.2022 ereignete sich in der Stadt Jalalabad in Nangarhar eine Explosion, bei der bis zu zehn Zivilisten verletzt wurden (Afintl 06.12.2022; vgl. Bakhtar 06.12.2022).

2023

Die NRF behauptete, am 24.01.2023 in der Provinz Kapisa drei Taliban-Kämpfer getötet und zwei weitere verletzt zu haben (BAMF 30.06.2023; vgl. 8am 25.01.2023).

Die AFF gab bekannt, dass drei Taliban-Mitglieder getötet und vier weitere verwundet wurden, nachdem sie am 08.05.2023 einen Raketenangriff auf das Gouverneursbüro der Taliban in Mahmud-i-Raqi, der Hauptstadt der Provinz Kapisa, verübt hatten (Afintl 10.05.2023; vgl. 8am 09.05.2023). Ein Sprecher der Taliban in Kapisa wies jedoch die Behauptungen der AFF zurück (Afintl 10.05.2023). [...]“

Zentrale Akteure

Taliban

Die Taliban sind eine überwiegend paschtunische, islamisch-fundamentalistische Gruppe, die 2021 nach einem zwanzigjährigen Aufstand wieder an die Macht in Afghanistan kam (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Die Taliban bezeichnen ihre Regierung als das „Islamische Emirat Afghanistan“ (USIP 17.08.2022; vgl. VOA 01.10.2021), den Titel des ersten Regimes, das sie in den 1990er-Jahren errichteten, und den sie während ihres zwei Jahrzehnte andauernden Aufstands auch für sich selbst verwendeten. Das Emirat ist um einen obersten Führer, den Emir, herum organisiert, von dem man glaubt, dass er von Gott mit der Autorität ausgestattet ist, alle Angelegenheiten des Staates und der Gesellschaft zu beaufsichtigen (USIP 17.08.2022).

Nach der US-geführten Invasion, mit der das ursprüngliche Regime 2001 gestürzt wurde, gruppierten sich die Taliban jenseits der Grenze in Pakistan neu und begannen weniger als zehn Jahre nach ihrem Sturz mit der Rückeroberung von Gebieten (CFR 17.08.2022). Nachdem die Vereinigten Staaten ihre verbleibenden Truppen im August 2021 aus Afghanistan abzogen, eroberten die Taliban mit einer raschen Offensive die Macht in Afghanistan (CFR 17.08.2022; vgl. USDOS 12.04.2022a). Am 15.08.2021 floh der bisherige afghanische Präsident Ashraf Ghani aus Afghanistan, und die Taliban nahmen Kabul als die letzte aller großen afghanischen Städte ein (BBC 15.08.2022; vgl. AI 29.03.2022).

Die Taliban-Regierung weist eine starre hierarchische Struktur auf, deren oberstes Gremium die Quetta-Shura ist (EER 10.2022), benannt nach der Stadt in Pakistan, in der Mullah Mohammed Omar, der erste Anführer der Taliban, und seine wichtigsten Helfer nach der US-Invasion Zuflucht gesucht haben sollen. Sie wird von Mawlawi Hibatullah Akhundzada geleitet (CFR 17.08.2022; vgl. Rehman A./PJIA 6.2022), dem obersten Führer der Taliban (Afghan Bios 07.07.2022a; vgl. CFR 17.08.2022, Rehman A./PJIA 6.2022). Er gilt als die ultimative Autorität in allen religiösen, politischen und militärischen Angelegenheiten (EUAA 8.2022a; vgl. Afghan Bios 07.07.2022a, REU 07.09.2021a).

Vor der Machtübernahme der Taliban im August 2021 unterstand die militärische Befehlskette der Kommission für militärische Angelegenheiten der Taliban. Diese Einrichtung wurde von Mullah Yaqoob, der 2020 zum Leiter der militärischen Operationen der Taliban ernannt wurde, sowie Sirajuddin Haqqani, dem Anführer des Haqqani-Netzwerks, dominiert (EUAA 8.2022a, RFE/RL 06.08.2021). Die Kommission für militärische Angelegenheiten funktionierte ähnlich wie ein Ministerium, mit „Vertretern auf Zonen-, Provinz- und Distriktebene“ (VOA 05.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

In der Befehlskette von der untersten Ebene aufwärts untersteht jeder Taliban-Befehlshaber auf Distriktebene einem Provinzkommando. Drei oder mehr Provinzkommandos bilden Berichten zufolge einen von sieben regionalen „Kreisen“. Diese „Kreise“ werden von zwei stellvertretenden Leitern der Kommission für militärische Angelegenheiten beaufsichtigt, von denen einer für die „westliche Zone“ der militärischen Führung der Taliban (die 21 Provinzen umfasst) und der andere für die „östliche Zone“ (13 Provinzen) zuständig war (RFE/RL 06.08.2021; vgl. EUAA 8.2022a). Nach Einschätzung des United States Institute of Peace (USIP) wurde diese Aufteilung der Zuständigkeiten für militärische Angelegenheiten zwischen Yaqoob und Haqqani offenbar durch ihre jeweilige Ernennung zum Innen- und Verteidigungsminister der Taliban im September 2021 gefestigt (USIP 09.09.2021; vgl. EUAA 8.2022a).

Nach der Machtübernahme versuchten die Taliban, sich von „einem dezentralisierten, flexiblen Aufstand zu einer staatlichen Autorität“ zu entwickeln (EUAA 8.2022a; vgl. NI 24.11.2021). Im Zuge dessen herrschten Berichten zufolge zunächst Unklarheiten unter den Taliban über die militärischen Strukturen der Bewegung (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021), und es gab in vielen Fällen keine erkennbare Befehlskette (EUAA 8.2022a; vgl. REU 10.09.2021). Dies zeigte sich beispielsweise in Kabul, wo mehrere Taliban-Kommandeure behaupteten, für dasselbe Gebiet oder dieselbe Angelegenheit zuständig zu sein. Während die frühere Taliban-Kommission für militärische Angelegenheiten das Kommando über alle Taliban-Kämpfer hatte, herrschte Berichten zufolge nach der Übernahme der Kontrolle über das Land unter den Kämpfern vor Ort Unsicherheit darüber, ob sie dem Verteidigungsministerium oder dem Innenministerium unterstellt sind (EUAA 8.2022a; vgl. DW 11.10.2021).

Widerstand gegen die Taliban

Eine formelle, organisierte politische Opposition im Land ist nicht vorhanden (AA 20.07.2022; vgl. FH 24.02.2022a). Eine Reihe ehemaliger politischer Akteure, sowohl aus ehemaligen Regierungskreisen als auch aus der ehemaligen politischen Opposition, befinden sich im Ausland. Einige prominente Politiker, wie der ehemalige Vorsitzende des Hohen Rates für Nationale Versöhnung, Abdullah Abdullah, und der ehemalige Präsident Hamid Karzai, befinden sich weiterhin in Kabul. Ihr Aktionsradius ist äußerst eingeschränkt, ihre öffentlichen Äußerungen sind von großer Zurückhaltung geprägt. Die ehemalige Bürgermeisterin von Maidan Shar, Zarifa Ghafari, ist eine der wenigen Politikerinnen, die seit der Machtübernahme temporär nach Kabul zurückgekehrt ist (AA 20.07.2022).

Der Informationsfluss in Afghanistan ist insbesondere im Hinblick auf oppositionelle Bewegungen stark eingeschränkt, und die Taliban zensieren die Berichterstattung. Dies macht die Einschätzung eines definitiven Bildes der Situation oft sehr schwierig (BAMF 10.2022; vgl. RFE/RL 13.05.2022a).

In Afghanistan gibt es eine Reihe verschiedener Gruppierungen, die sich der Taliban-Herrschaft widersetzen, wobei sich deren Führung oft im Ausland aufhält (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. EUAA 8.2022a). Auch wenn diese ähnliche oder identische Ziele verfolgen würden, findet zwischen diesen Gruppierungen wenig bis gar keine Koordinierung bzw. Zusammenarbeit statt (Migrationsverket 29.04.2022; vgl. SIGA 07.04.2022, VOA 28.04.2022b). Auch gibt es zwischen den Gruppierungen Rivalitäten darüber, welche Gruppierung „am fähigsten ist, den Anti-Taliban-Widerstand anzuführen“ (SIGA 07.04.2022).Aktuell gehen Experten nicht davon aus, dass die bewaffneten Gruppen, die in Afghanistan aktiv sind und gegen die Taliban kämpfen, eine tatsächliche Gefahr für das Regime darstellen (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022, SIGA 07.04.2022, AA 20.07.2022). Auch wenn die Unterstützung der Taliban innerhalb der Bevölkerung Afghanistans eher gering ist, so wird Stabilität bewaffneten Auseinandersetzungen vorgezogen, womit auch die Unterstützung der bewaffneten Gruppen als mäßig einzuschätzen ist (FR24 15.08.2022; vgl. BAMF 10.2022).

Folter und unmenschliche Behandlung

Es gibt Berichte über Folter und Misshandlungen durch die Taliban (AA 20.07.2022, vgl. HRW 12.01.2023). Die Vereinten Nationen berichten über Folter und Misshandlungen von Personen, denen vorgeworfen wird, den ehemaligen Sicherheitskräften bzw. der ehemaligen Regierung, der Nationalen Widerstandsfront (NRF) oder dem Islamischen Staat Provinz Khorasan (ISKP) anzugehören. Auch über Gewalt gegen Journalisten und Medienschaffende (UNAMA 7.2022) sowie gegen Frauenrechtsaktivisten wird berichtet (AA 20.07.2022 vgl. HRW 12.01.2023). Vier junge Männer (darunter drei Minderjährige), die im Zusammenhang mit der Ermordung von acht Mitgliedern einer Polio-Impfkampagne festgenommen wurden, sollen nach Angaben von Menschenrechtsorganisationen gefoltert worden sein (AA 20.07.2022). [...]

Wehrdienst und Zwangsrekrutierungen

Mit der Machtübernahme der Taliban im August 2021 brach die 350.000 Mann starke Armee des früheren Regimes zusammen (TN 15.08.2022), und die Taliban haben faktisch die Verantwortung für die Sicherheit im Land übernommen. Sie haben begonnen, ihre bisherigen Miliz-Strukturen in geordnete Sicherheitskräfte zu übertragen. Dieser Prozess ist noch nicht abgeschlossen. Im Bereich der Streitkräfte kündigte Armeechef Qari Fasihuddin im November 2021 den Aufbau einer 150.000 Mann starken Armee inkl. Freiwilliger an; andere Mitglieder der Taliban-Regierung haben sich für eine kleinere Berufsarmee ausgesprochen. Es zeichnet sich ab, dass die Taliban mit Ausnahme der Luftwaffe (hier sollen laut afghanischen Presseangaben fast die Hälfte der ehemaligen Soldaten zurückgekehrt sein) von den bisherigen Kräften nur vereinzelt Fachpersonal übernehmen wollen (AA 20.07.2022; vgl. CPJ 01.03.2022). Ende August 2022 berichteten die Vereinten Nationen, dass 150.000 Armeeangehörige und fast 200.000 Polizisten in Afghanistan rekrutiert worden seien (UNGA 07.12.2022). Sprecher des Taliban-Innenministeriums gaben die Größe der Armee im August mit 100.000 bis 150.000 (Afintl 23.08.2022) bzw. im Oktober mit 150.000 Mann an (ATN 28.10.2022), mit weiterem Ausbaupotenzial (ATN 28.10.2022; vgl. Afintl 23.08.2022).

Berichten zufolge kam es im Sommer 2022 in der Provinz Badakhshan zu Zwangsrekrutierungen seitens der Taliban (8am 01.06.2022; vgl. ACLED 09.06.2022). Die Vereinten Nationen gehen mit Sommer 2022 davon aus, dass auch Kinder weiterhin rekrutiert werden (OHCHR 09.09.2022) wobei nach dem Taliban-Layeha (Verhaltenskodex) „Jugendliche (deren Bärte aufgrund ihres Alters nicht sichtbar sind) nicht von Mudschahedin in Wohn- oder Militärzentren gehalten werden“ dürfen (EUAA 8.2022b; vgl. AAN 04.07.2011). Am 27.03.2022 erließ der Oberste Führer der Taliban Berichten zufolge einen Erlass, der Taliban-Militärs anweist, keine Minderjährigen zu rekrutieren (Bakhtar 27.03.2022). [...]

Allgemeine Menschenrechtslage

Die Verfassung der afghanischen Republik von 2004 ist zwar formell nicht aufgehoben worden, besteht jedoch nur noch auf dem Papier. Im September 2022 betonte der Taliban-Justizminister, dass eine Verfassung für Afghanistan nicht notwendig sei. Eine neue oder angepasste Verfassung existiert bislang nicht. Nach wie vor ist unklar, ob die von Taliban-Außenminister Amir Khan Mottaqi im Februar 2022 angekündigte Reformkommission etabliert wurde. Die in der Vergangenheit von Afghanistan unterzeichneten oder ratifizierten Menschenrechtsabkommen werden von der Taliban-Regierung, wenn überhaupt, nur sehr eingeschränkt anerkannt; es wird ein Islamvorbehalt geltend gemacht, wonach islamisches Recht im Falle einer Normenkollision Vorrang hat (AA 26.06.2023).

Seit dem Sturz der gewählten Regierung haben die Taliban die Menschenrechte und Grundfreiheiten der afghanischen Bevölkerung zunehmend und in unverhältnismäßiger Weise eingeschränkt. Insbesondere Frauen und Mädchen wurden in ihren Rechten massiv eingeschränkt und aus den meisten Aspekten des täglichen und öffentlichen Lebens verdrängt (UNICEF 09.08.2022; vgl. AA 26.06.2023).

Die Taliban-Führung hat ihre Anhänger verschiedentlich dazu aufgerufen, die Bevölkerung respektvoll zu behandeln (AA 26.06.2023). Es gibt jedoch Berichte über grobe Menschenrechtsverletzungen durch die Taliban nach ihrer Machtübernahme im August 2021 (HRW 12.01.2023; vgl. AA 26.06.2023, USDOS 20.03.2023), darunter Hausdurchsuchungen, Willkürakte und Hinrichtungen (AA 26.06.2023). Es kommt zu Gewalt und Diskriminierung gegenüber Journalisten (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.01.2023) und Menschenrechtsaktivisten (FH 1.2023; vgl. FIDH 12.08.2022, AA 26.06.2023). Auch von gezielten Tötungen wird berichtet (HRW 12.01.2023; vgl. AA 26.06.2023). Menschenrechtsorganisationen berichten auch über Entführungen und Ermordungen ehemaliger Angehöriger des Staatsapparats und der Sicherheitskräfte (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.01.2023). Weiterhin berichten Menschenrechtsorganisationen von Rache- und Willkürakten im familiären Kontext - also gegenüber Familienmitgliedern oder zwischen Stämmen/Ethnien, bei denen die Täter den Taliban nahestehen oder Taliban sind. Darauf angesprochen, weisen Taliban-Vertreter den Vorwurf systematischer Gewalt zurück und verweisen wiederholt auf Auseinandersetzungen im familiären Umfeld. Eine nachprüfbare Strafverfolgung findet in der Regel nicht statt (AA 26.06.2023).

Die Taliban ließen wiederholt friedliche Proteste gewaltsam auflösen. Es kam zum Einsatz von scharfer Munition (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.10.2022, GD 02.10.2022), und es gibt auch Berichte über Todesopfer bei Protesten (FH 24.02.2022a, AI 15.08.2022). [...]

Grundversorgung und Wirtschaft

Obwohl die letzten 20 Jahre vor der Machtübernahme durch die Taliban im August 2021 einem afghanischen Wirtschaftsexperten zufolge „eine goldene Zeit“ für das Wirtschaftswachstum in Afghanistan waren, konnten die Milliarden an US-Dollar, die Afghanistan aus dem Ausland erhielt, nicht nachhaltig eingesetzt werden. Gründe dafür waren vor allem Unsicherheit, Dürren und die weitverbreitete Korruption, die auch weitere Investitionen in Afghanistan verhinderten (WEA 17.07.2022).

Nach der Machtübernahme verschlechterte sich die wirtschaftliche Lage massiv (AA 26.06.2023; vgl. HRW 12.1.2023, UNDP 18.04.2023), was vor allem auch mit der Einstellung vieler internationaler Hilfsgelder zusammenhängt (WEA 17.07.2022; vgl. UNDP 18.04.2023). Die humanitäre Lage bleibt aufgrund der Wirtschaftskrise, der Folgen der COVID-19-Pandemie und der Dürren der vergangenen Jahre extrem angespannt (AA 26.06.2023; vgl. WEA 17.07.2022). Die Weltbank rechnete für 2022 mit einem Einbruch des Bruttosozialprodukts um ein Drittel im Vergleich zum Vorjahr. Im Zuge der Wirtschaftskrise droht eine Verarmung der urbanen Mittelschicht. Viele Angestellte des öffentlichen Dienstes haben ihre Arbeit verloren. Tätigkeiten, die mit der internationalen Präsenz im Land verbunden waren, sind weggefallen (AA 26.06.2023; vgl. WEA 17.07.2022). Während die Gesamtinflation von ihrem Höchststand im Juli 2022 bis Februar 2023 gesunken ist, bleibt das Preisniveau weiterhin hoch. Die extremen Winter führen zu einem Rückgang der Landwirtschaft, des Baugewerbes und der damit verbundenen Tätigkeiten. Infolgedessen ist die Beschäftigung von qualifizierten und ungelernten Arbeitskräften im Winter zurückgegangen, was darauf hinweist, dass afghanische Familien angesichts des Verlusts von Arbeitsplätzen und Geschäftsmöglichkeiten weiterhin unter erheblichem Druck stehen, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (WB 04.04.2023). Aus einer Studie des United Nations Development Programme (UNDP) geht hervor, dass mehr als drei Viertel der afghanischen Bevölkerung im Jahr 2022 Lebensmittel oder Geld für den Kauf von Lebensmitteln liehen und den Rest, wenn überhaupt, für die grundlegende Gesundheitsversorgung und tertiäre Grundbedürfnisse ausgaben. Während im Jahr 2020 41% der Haushalte keine Bewältigungsmechanismen anwenden mussten, um die sozioökonomischen Härten zu bewältigen, benötigten im Jahr 2022 nur 8% der afghanischen Haushalte keine Bewältigungsstrategien. Da nur begrenzte Bewältigungsmechanismen zur Verfügung stehen, sehen sich viele Afghanen gezwungen, ihren Konsum (einschließlich der Nahrungsmittel) einzuschränken, hohe Kredite aufzunehmen, zu betteln oder extreme Maßnahmen ergreifen, um zu überleben. Während einige ihre Häuser, ihr Land oder Vermögenswerte verkaufen, sehen sich andere gezwungen, ihre Kinder arbeiten zu schicken oder junge Töchter zu verheiraten (UNDP 18.04.2023). Laut einem Bericht von Save the Children aus dem Jahr 2022 sind bis zu einem Fünftel der Familien in Afghanistan dazu gezwungen, ihre Kinder zur Arbeit zu schicken (STC 14.02.2023; vgl. RFE/RL 17.05.2023), was bedeuten würde, dass, wenn jede dieser betroffenen Familien auch nur ein Kind zur Arbeit schickt, mehr als eine Million Kinder im Land von Kinderarbeit betroffen wären (STC 14.02.2023). Es wird vermutet, dass die Zahl der Kinderarbeiter mit der Verschlechterung der wirtschaftlichen und humanitären Lage in Afghanistan noch steigen wird (RFE/RL 17.05.2023).

Auch im Jahr 2022 hielten die meisten Geberländer die Kürzungen der Einkommenshilfen und der Löhne für Beschäftigte aufrecht, die für die Gesundheitsversorgung, das Bildungswesen und andere wichtige Dienstleistungen zuständig sind. Die daraus resultierenden weitverbreiteten Lohneinbußen fielen mit steigenden Preisen für Lebensmittel, Treibstoff und andere wichtige Güter zusammen. Auch die landwirtschaftliche Produktion ging im Jahr 2022 aufgrund der anhaltenden Dürre und des fehlenden Zugangs zu Düngemitteln, Treibstoff und anderen landwirtschaftlichen Betriebsmitteln zurück (HRW 12.01.2023).

Frauen und Mädchen sind unverhältnismäßig stark von der Krise betroffen und sehen sich größeren Hindernissen bei der Beschaffung von Nahrungsmitteln, medizinischer Versorgung und finanziellen Mitteln gegenüber (HRW 12.01.2023). Die Politik der Taliban, Frauen von den meisten bezahlten Tätigkeiten auszuschließen, hat die Situation noch verschlimmert (HRW 12.01.2023; vgl. UNDP 18.04.2023), vor allem für Haushalte, in denen Frauen die einzigen oder wichtigsten Lohnempfängerinnen waren. In den Fällen, in denen die Taliban Frauen die Arbeit erlaubten, wurde dies durch repressive Auflagen fast unmöglich gemacht, wie z. B., dass Frauen von einem männlichen Familienmitglied zur Arbeit begleitet werden und dort während des gesamten Arbeitstages beaufsichtigt werden müssen (HRW 12.01.2023).

Im Zuge einer im Auftrag der Staatendokumentation von ATR Consulting im Dezember 2022 in Kabul durchgeführten Studie gaben 90% der Befragten an, Schwierigkeiten bei der Deckung der Grundbedürfnisse zu haben (ATR/STDOK 03.02.2023).

Eine weitere Studie, die im Januar 2023 vom Assessment Capacities Project (ACAPS) in der Provinz Kabul durchgeführt wurde, ergab, dass die Haushalte sowohl in den ländlichen als auch in den städtischen Gebieten Kabuls Schwierigkeiten hatten, ihre Grundbedürfnisse zu befriedigen. Als dringendste Probleme nannten die Haushalte unsichere Lebensmittelversorgung und unzureichende Kleidung für die Wintersaison (ACAPS 16.06.2023).

Ethnische Gruppen

In Afghanistan leben laut Schätzungen zwischen 34,3 (NSIA 4.2022) und 38,3 Millionen Menschen (8am 30.03.2022; vgl. CIA 29.12.2022). Zuverlässige statistische Angaben zu den Ethnien Afghanistans und zu den verschiedenen Sprachen existieren nicht (STDOK 7.2016; vgl. CIA 29.12.2022), da die Behörden des Landes nie eine nationale Volkszählung durchgeführt haben. Es ist jedoch allgemein anerkannt, dass keine der ethnischen Gruppen des Landes eine Mehrheit bildet, und die genauen prozentualen Anteile der einzelnen Gruppen an der Gesamtbevölkerung Schätzungen sind und oft stark politisiert werden (MRG 05.01.2022).

Die größten Bevölkerungsgruppen sind Paschtunen (32-42%), Tadschiken (ca. 27%), Hazara (ca. 9-20%) und Usbeken (ca. 9%), gefolgt von Turkmenen und Belutschen (jeweils ca. 2%) (AA 20.07.2022).

Ethnische Spannungen zwischen unterschiedlichen Gruppen resultierten weiterhin in Konflikten und Tötungen (USDOS 12.04.2022a).

Die Taliban gehören mehrheitlich der Gruppe der Paschtunen an. Seit der Machtübernahme der Taliban werden nicht-paschtunische Ethnien in staatlichen Stellen zunehmend marginalisiert. So gibt es in der Taliban-Regierung z. B. nur wenige Vertreter der usbekischen und tadschikischen Minderheit sowie lediglich einen Vertreter der Hazara (AA 20.07.2022).

Die Taliban haben wiederholt erklärt, alle Teile der afghanischen Gesellschaft zu akzeptieren und ihre Interessen berücksichtigen zu wollen. Aber selbst auf lokaler Ebene werden Minderheiten, mit Ausnahmen in ethnisch von Nicht-Paschtunen dominierten Gebieten vor allem im Norden, kaum für Positionen im Regierungsapparat berücksichtigt, da diese v. a. paschtunischen Taliban-Mitgliedern vorbehalten sind (AA 20.07.2022). So waren zum Beispiel am 20.12.2021 alle 34 Provinzgouverneure überwiegend Paschtunen, während andere ethnische Gruppen kaum vertreten waren (UNGA 28.01.2022). Darüber hinaus lässt sich keine klare, systematische Diskriminierung von Minderheiten durch die Taliban-Regierung feststellen, solange diese den Machtanspruch der Taliban akzeptieren (AA 20.07.2022). [...]

Paschtunen

Ethnische Paschtunen sind mit ca. 42% der Gesamtbevölkerung die größte Ethnie Afghanistans (MRG 05.02.2021a; vgl. AA 20.07.2022). Sie sprechen Paschtu/Pashto; als Verkehrssprache sprechen viele auch Dari. Sie sind sunnitische Muslime und leben hauptsächlich im Süden und Osten des Landes (MRG 5.02.2021a; vgl. Print 21.09.2021). Traditionell waren die Paschtunen nomadisierende oder halbnomadische Viehzüchter, Ackerbauern und Händler. Seit langer Zeit sind sie in Städten ansäßig geworden, wo sie verschiedensten Tätigkeiten nachgehen. Paschtunische Stämme waren stets die militärische Stütze des afghanischen Königshauses und wurden dafür mit einigen Privilegien (Steuervergünstigungen, weitgehende Autonomie in inneren Angelegenheiten u. a.) versehen (STDOK 01.07.2016).

Die Sozialstruktur der Paschtunen basiert auf dem Paschtunwali-Kodex (oder Pukhtunwali-Kodex), der eine Mischung aus einem Stammes-Ehrenkodex und lokalen Auslegungen der Scharia ist. Dies erfordert die Beherrschung der paschtunischen Sprache und die Einhaltung der bestehenden Bräuche. Gastfreundschaft, Schutz der Gäste, Verteidigung des Eigentums, Familienehre und Schutz der weiblichen Verwandten sind einige der wichtigsten Grundsätze für Paschtunen. Sie stützen sich auf die Jirga des Stammesrates zur Beilegung von Streitigkeiten und zur lokalen Entscheidungsfindung sowie auf die Abschirmung der Frauen von allen Angelegenheiten außerhalb des Hauses (MRG 05.02.2021a; vgl. BBC 12.08.2022, STDOK 7.2016). [...]

2. Beweiswürdigung

2.1. Zur Person des Beschwerdeführers

Die Feststellungen hinsichtlich des Namens des BF, seines Geburtsdatums, seiner Staatsangehörigkeit, seiner Volksgruppen- bzw. Religionszugehörigkeit sowie seiner Muttersprache werden anhand seiner dahingehend übereinstimmenden Angaben im Zuge des gegenständlichen Verfahrens getroffen, ebenso wie die Feststellungen hinsichtlich seiner Herkunftsprovinz.

Die Feststellungen hinsichtlich der strafrechtlichen Unbescholtenheit des BF stützen sich auf den im Verwaltungsakt einliegenden Strafregisterauszug.

2.2. Zu den Fluchtgründen

Die Feststellung, dass der BF im Falle einer Rückkehr nach Afghanistan keinen individuellen, gegen seine Person gerichteten Verfolgungshandlungen ausgesetzt ist, ergibt sich anhand der folgenden Ausführungen:

Das BFA hat das Vorbringen in schlüssiger Würdigung als nicht glaubhaft erkannt und wurde dem in der Beschwerde nicht ausreichend konkret entgegengetreten. Auf die diesbezügliche oben zusammen gefasste Beweiswürdigung wird hingewiesen.

Zutreffender Weise zeigte das BFA auf, dass es nicht nachvollziehbar ist, warum der BF erst XXXX , nachdem die Grundstücke von den Cousins – welche angeblich XXXX bei den Taliban hätten – weggenommen worden wären, zurückfordern hätten wollen. Also ausgerechnet zu einem Zeitpunkt als die Taliban, die Cousins bekleideten wie ausgeführt nach den Angaben des BF XXXX bei den Taliban, die Macht übernommen hätten, wenngleich der BF behauptete nach dem Machtwechsel in XXXX mehr gehabt zu haben.

Weiters sind die Angaben des BF hinsichtlich der Entführung des Bruders durch die Taliban und des Todes des Bruders ebenfalls nicht glaubwürdig. Einerseits ist es – wie schon vom BFA richtig ausgeführt – nicht nachvollziehbar, warum der BF nicht versucht hätte, den Bruder freizubekommen, wenn der BF erfahren hätte, dass die Cousins seinen Bruder „mitgenommen“ hätten. Andererseits ist die Argumentation des BF, er hätte aufgrund der schlechten Beziehung zu den Cousins nicht versucht, den Bruder freizubekommen bzw. bei den Cousins nachzufragen, was mit seinem Bruder passiert wäre, da sie sich in der Vergangenheit gegenseitig beschimpft hätten, insoferne unglaubwürdig und nicht nachvollziehbar, als er doch die Grundstücke trotz der schlechten Beziehung zu den Cousins zurückgefordert habe, was aber viel eher eine direkte Konfrontation mit seinen Cousins bewirkt hätte, als der Versuch über Vermittlung seinen Bruder freizubekommen.

Folgerichtig konnte das BFA daher auch den Tod des Bruders des BF nicht feststellen, zumal wie vom BFA richtig ausgeführt auch Urkunden über dessen Tätigkeit nur bis XXXX vorliegen, danach sich aber keinerlei Belege hinsichtlich seiner weiteren Tätigkeit und seines Todes finden und der BF die konkreten Tätigkeiten des Bruders sowie die Zeiträume der Tätigkeiten nach XXXX nicht konkret angeben konnte, obwohl dieser laut eigenen Angaben mit ihm in einem gemeinsamen Haushalt gelebt hätte.

Auch die Angaben hinsichtlich der Todesdrohungen durch die Cousins sind wie vom BFA aufgezeigt unschlüssig. Der BF hätte demnach die Cousins vor der Machtübernahme beschimpft, weshalb er den Tod durch die Cousins fürchte. Es ist aber nicht nachvollziehbar, wieso sich die Cousins aufgrund der vergangenen Beschimpfungen nun rächen wollten, zumal laut eigenen Angaben des BF die Provinz XXXX schon immer von den Taliban kontrolliert worden wäre, der BF wäre aber bewusst von XXXX zurück in die Heimatprovinz XXXX gezogen, sodass angenommen werden muss, dass der BF damals keine relevanten Probleme bei seiner Rückkehr fürchtete.

Hinzu kommt, dass der BF auch den nicht unschlüssigen Ausführungen zur persönlichen Glaubwürdigkeit im Hinblick auf die Plausibilitätsüberlegungen des BFA vor dem Hintergrund der allgemeinen Verhältnisse in Afghanistan betreffend die augenscheinliche Position der Cousins, wonach diese es nicht nötig hätten, sich vor Einzelpersonen zu fürchten und dem BF nach der Machtübernahme zu drohen, nicht konkret entgegengetreten ist.

Soweit in der Beschwerde erstmals vorgebracht wird, der BF sei sowohl aus ideologischen wie auch politischen und religiösen Gründen gegen die Taliban eingestellt und befürchte eine Verfolgung durch die Taliban wegen seiner westlichen Lebenseinstellung (AS 320), ist dies einerseits als unzulässige Steigerung seines Fluchtvorbringens im Sinne des Neuerungsverbotes gem. § 20 Abs. 1 BFA-VG einzustufen, weil kein vernünftiger Grund erkennbar ist, warum er nicht in der Lage gewesen sein soll, dieses Vorbringen bereits zu einem früheren Zeitpunkt zu erstatten, weshalb hier von einer Missbrauchsabsicht auszugehen ist (siehe dazu VwGH 13.03.2023, Ra 2021/18/0012). Andererseits hat schon das BFA zutreffend ausgeführt, „aus Ihren eigenen Angaben geht hervor, dass Sie in Afghanistan geboren wurden, dort aufgewachsen sind, sozialisiert wurden und bis zu Ihrer Ausreise in einer Region gelebt haben, wo die Taliban bereits vor der Machtergreifung aktiv waren, weswegen davon ausgegangen werden kann, dass Sie mit den kulturellen und gesellschaftlichen Gepflogenheiten Ihres Herkunftsstaates und Ihrer Heimatregion vertraut sind. Die Ansicht der Behörde wird schon alleine dadurch untermauert, dass es Ihren Familienangehörigen, mit welchen Sie den Großteil Ihres bisherigen Lebens verbracht haben, nach wie vor, auch unter der Kontrolle der Taliban, möglich ist, in Ihrem Herkunftsstaat zu verbleiben und diese offensichtlich keine Lebensweise führen, welche im Widerspruch zu der von den Taliban erwarteten Lebensweise steht. Angaben wonach Sie selbst eine Lebensweise geführt hätten, die im Widerspruch zu den kulturellen, religiösen und gesellschaftlichen Wertvorstellungen stehen würde, in welchen Sie etwa XXXX sozialisiert wurden und gelebt haben kann aus Ihren Angaben zudem nicht entnommen werden. Auch ist nicht ersichtlich, dass Sie, aufgrund Ihres im Verhältnis zur Dauer Ihres Aufenthaltes in Afghanistan, sehr kurzen Aufenthaltes in Europa der Lebensweise Ihres Herkunftsstaates völlig entrückt wären. Angaben aus denen abgeleitet werden könnte, dass Sie den kulturellen und sozialen Gepflogenheiten Ihres Herkunftsstaat völlig entrückt wären, selbst unter Beachtung der Machtergreifung der Taliban, gehen aus Ihren Ausführungen nicht hervor.“

Zusammenfassend ist daher festzuhalten, dass der BF sein – unbelegt gebliebenes –Fluchtvorbringen nicht glaubhaft machen konnte.

2.3. Zur maßgeblichen Situation in Afghanistan

Die Feststellungen zur maßgeblichen Situation im Herkunftsstaat stützen sich auf das Länderinformationsblatt der Staatendokumentation. Da dieses auf einer Vielzahl verschiedener, voneinander unabhängiger Quellen von regierungsoffiziellen und nicht-regierungsoffiziellen Stellen beruhen und dennoch ein in den Kernaussagen übereinstimmendes Gesamtbild ohne wesentliche Widersprüche über Afghanistan bieten, besteht im vorliegenden Fall für das Bundesverwaltungsgericht kein Anlass, an der Richtigkeit der herangezogenen Länderinformationen zu zweifeln, gegenständlich lassen auch vom BVwG laufend beobachtete aktuellere Berichte kein relevantes anderes Bild erkennen.

3. Rechtliche Beurteilung

Zu Spruchteil A) Abweisung der Beschwerde

3.1. Zur Beschwerde gegen Spruchpunkt I. des angefochtenen Bescheides

Gemäß § 3 Abs. 1 AsylG 2005 ist einem Fremden, der in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz gestellt hat, soweit dieser Antrag nicht bereits gemäß §§ 4, 4a oder 5 leg. cit. zurückzuweisen ist, der Status des Asylberechtigten zuzuerkennen, wenn glaubhaft ist, dass ihm im Herkunftsstaat Verfolgung i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) droht.

Flüchtling i.S.d. Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK (i.d.F. des Art. 1 Abs. 2 des Protokolls über die Rechtsstellung der Flüchtlinge BGBl. 78/1974) - deren Bestimmungen gemäß § 74 AsylG 2005 unberührt bleiben - ist, wer sich "aus wohlbegründeter Furcht, aus Gründen der Rasse, Religion, Nationalität, Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gesinnung verfolgt zu werden, außerhalb seines Heimatlandes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, sich des Schutzes dieses Landes zu bedienen; oder wer staatenlos ist, sich außerhalb des Landes seines gewöhnlichen Aufenthaltes befindet und nicht in der Lage oder im Hinblick auf diese Furcht nicht gewillt ist, in dieses Land zurückzukehren."

Zentraler Aspekt dieses Flüchtlingsbegriffs der GFK ist die wohlbegründete Furcht vor Verfolgung. Wohlbegründet kann eine Furcht nur dann sein, wenn sie im Lichte der speziellen Situation des Asylwerbers und unter Berücksichtigung der Verhältnisse im Verfolgerstaat objektiv nachvollziehbar ist (vgl. VwGH 22.12.1999, 99/01/0334; VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Es kommt nicht darauf an, ob sich eine bestimmte Person in einer konkreten Situation tatsächlich fürchtet, sondern ob sich eine mit Vernunft begabte Person in dieser Situation (aus Konventionsgründen) fürchten würde (vgl. VwGH 19.12.2007, 2006/20/0771). Unter Verfolgung ist ein ungerechtfertigter Eingriff von erheblicher Intensität in die zu schützende persönliche Sphäre des Einzelnen zu verstehen.

Erhebliche Intensität liegt vor, wenn der Eingriff geeignet ist, die Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Schutzes des Heimatstaates bzw. der Rückkehr in das Land des vorigen Aufenthaltes zu begründen. Eine Verfolgungsgefahr ist dann anzunehmen, wenn eine Verfolgung mit einer maßgeblichen Wahrscheinlichkeit droht; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt nicht (VwGH 21.12.2000, 2000/01/0131; VwGH 25.01.2001, 2001/20/0011). Die Verfolgungsgefahr muss ihre Ursache in einem der Gründe haben, welche Art. 1 Abschnitt A Z 2 GFK nennt (VwGH 09.09.1993, 93/01/0284; VwGH 15.03.2001, 99/20/0128; VwGH 23.11.2006, 2005/20/0551); sie muss Ursache dafür sein, dass sich der Asylwerber außerhalb seines Heimatlandes bzw. des Landes seines vorigen Aufenthaltes befindet.

Nach VwGH 24.03.2011, 2008/23/1443, ist für das Vorliegen einer asylrelevanten Verfolgungsgefahr nicht maßgeblich, ob der Asylwerber wegen einer von ihm tatsächlich vertretenen oppositionellen Gesinnung verfolgt wird. Es reicht aus, dass eine staatsfeindliche politische Gesinnung zumindest unterstellt wird und die Aussicht auf ein faires staatliches Verfahren zur Entkräftung dieser Unterstellung nicht zu erwarten ist, oder dass die Strafe für ein im Zusammenhang mit einem ethnischen oder politischen Konflikt stehendes Delikt so unverhältnismäßig hoch festgelegt wird, dass die Strafe nicht mehr als Maßnahme einzustufen wäre, die dem Schutz legitimer Interessen des Staates dient (vgl. etwa das Erkenntnis vom 6. Mai 2004, Zl. 2002/20/0156, mit Verweis auf die Erkenntnisse vom 17. September 2003, Zl. 2001/20/0303, und vom 19. Oktober 2000, Zl. 98/20/0417).

Rechtlich folgt daraus:

Wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, konnte der BF keine drohende asylrelevante Verfolgung in seinem Herkunftsstaat glaubhaft machen, weswegen die Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten nicht in Betracht kommt.

Überdies kann hinsichtlich des beim BFA geltend gemachten Fluchtgrundes, wonach er Rachehandlungen seitens der Cousins fürchte, da der BF diese in der Vergangenheit beschimpft habe und von ihnen die Grundstücke zurückverlangen wolle, nicht erkannt werden, dass dieser Sachverhalt mit einem der in der GFK aufgezählten Verfolgungsgründe in Zusammenhang stünde.

Im Hinblick auf den ca. XXXX Aufenthalt des BF im Bundesgebiet ist festzuhalten, dass aus den zugrunde gelegten Länderberichten sowie dem notorischen Amtswissen nicht ableitbar ist, dass alleine ein selbst mehrjähriger Aufenthalt in Europa und eine sich daraus abgeleitete bzw. unterstellte westliche Geisteshaltung bei Männern bereits mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit eine Verfolgung asylrelevanter Intensität auslösen würde; die entfernte Möglichkeit einer Verfolgung genügt dafür nicht. Es haben sich auch keine Anhaltspunkte dahin ergeben, dass dem BF, aufgrund seines Merkmals als Rückkehrer, individuell eine Verfolgung drohen würde.

Hinsichtlich einer Verfolgung von Rückkehrern ist auszuführen, dass im Hinblick auf die derzeit vorliegenden herkunftsstaatsbezogenen Erkenntnisquellen zur aktuellen Lage von Rückkehrern in Afghanistan sich keine ausreichenden Anhaltspunkte dahingehend ergeben haben, dass alle Rückkehrer gleichermaßen bloß auf Grund ihres gemeinsamen Merkmals als Rückkehrer und ohne Hinzutreten weiterer konkreter und individueller Eigenschaften im Falle ihrer Rückkehr mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Gefahr laufen, im gesamten Staatsgebiet Afghanistans einer systematischen asylrelevanten (Gruppen-) Verfolgung ausgesetzt zu sein. Allfällige Diskriminierungen und Ausgrenzungen erreichen nicht jenes Ausmaß, das erforderlich wäre, um eine spezifische Verfolgung aller afghanischen Staatsangehörigen, die mehrere Jahre in Europa verbracht, für gegeben zu erachten.

Im Übrigen stellt eine allgemeine desolate wirtschaftliche und soziale Situation nach ständiger Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes keinen hinreichenden Grund für eine Asylgewährung dar (vgl. etwa VwGH 14.03.1995, 94/20/0789; VwGH 17.06.1993, 92/01/1081). Wirtschaftliche Benachteiligungen können nur dann asylrelevant sein, wenn sie jegliche Existenzgrundlage entziehen (vgl. etwa VwGH 09.05.1996, 95/20/0161; VwGH 30.04.1997, 95/01/0529 u.a.). Aber selbst für den Fall des Entzugs der Existenzgrundlage ist eine Asylrelevanz nur dann anzunehmen, wenn dieser Entzug mit einem in der GFK genannten Anknüpfungspunkt – nämlich der Rasse, der Religion, der Nationalität, der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe oder der politischen Gewinnung – zusammenhängt (siehe auch BVwG 15.12.2014, W225 1434681-1/31E). Derartiges hat der BF jedoch nicht glaubhaft behauptet.

Die Beschwerde war daher im Ergebnis als unbegründet abzuweisen.

3.2. Zum Unterbleiben einer mündlichen Beschwerdeverhandlung

Gemäß § 21 Abs 7 BFA-VG kann eine mündliche Verhandlung unterbleiben, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht. Im Übrigen gilt § 24 VwGVG.

Gemäß § 24 Abs. 1 VwGVG hat das Verwaltungsgericht auf Antrag oder, wenn es dies für erforderlich hält, von Amts wegen eine öffentliche mündliche Verhandlung durchzuführen. Nach Abs. 4 leg. cit. kann, soweit durch Bundes- oder Landesgesetz nichts anderes bestimmt ist, das Verwaltungsgericht ungeachtet eines Parteiantrags von einer Verhandlung absehen, wenn die Akten erkennen lassen, dass die mündliche Erörterung eine weitere Klärung der Rechtssache nicht erwarten lässt, und einem Entfall der Verhandlung weder Art. 6 Abs. 1 der Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten noch Art. 47 der Charta der Grundrechte der Europäischen Union, ABl. Nr. C 83 vom 30.03.2010 S. 389, entgegenstehen.

Der Verfassungsgerichtshof (VfGH) hat in Bezug auf § 41 Abs. 7 AsylG 2005 in der Fassung bis 31.12.2013 unter Berücksichtigung des Art. 47 iVm Art. 52 der Grundrechte-Charta der Europäischen Union (im Folgenden: GRC) ausgesprochen, dass das Unterbleiben einer mündlichen Verhandlung in Fällen, in denen der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde erklärt erscheint oder sich aus den Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen tatsachenwidrig ist, im Einklang mit Art. 47 Abs. 2 GRC steht, wenn zuvor bereits ein Verwaltungsverfahren stattgefunden hat, in dessen Rahmen Parteiengehör gewährt wurde. Hat die beschwerdeführende Partei hingegen bestimmte Umstände oder Fragen bereits vor der belangten Behörde releviert oder sind solche erst nachträglich bekannt geworden, ist die Durchführung einer mündlichen Verhandlung erforderlich, wenn die von der beschwerdeführenden Partei bereits im Verwaltungsverfahren oder in der Beschwerde aufgeworfenen Fragen - allenfalls mit ergänzenden Erhebungen - nicht aus den Verwaltungsakten beantwortet werden können, und insbesondere, wenn der Sachverhalt zu ergänzen oder die Beweiswürdigung mangelhaft ist (VfGH 14.03.2012, U 466/11-18, U 1836/11-13).

Der Verwaltungsgerichtshof (VwGH) hat mit Erkenntnis vom 28.05.2014, Zl. Ra 2014/20/0017 und 0018-9, für die Auslegung der in § 21 Abs. 7 BFA-VG enthaltenen Wendung "wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint" unter Bezugnahme auf das Erkenntnis des VfGH vom 12.03.2012, Zl. U 466/11 ua., festgehalten, dass der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen muss. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offengelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinaus gehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Schließlich ist auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen.

Die Voraussetzungen für ein Absehen von der Verhandlung gemäß § 21 Abs. 7 BFA-VG, wonach eine mündliche Verhandlung unterbleiben kann, wenn der Sachverhalt aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde geklärt erscheint oder sich aus den bisherigen Ermittlungen zweifelsfrei ergibt, dass das Vorbringen nicht den Tatsachen entspricht, sind im gegenständlichen Fall erfüllt, zumal einerseits den Ausführungen des Bundesamtes im angefochtenen Bescheid nicht substantiiert entgegengetreten wird und andererseits das in der Beschwerde erstmals geäußerte Vorbringen, wie bereits in der Beweiswürdigung ausführlich dargelegt, gegen das in § 20 BFA-VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt.

Zu Spruchteil B) Unzulässigkeit der Revision

Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG hat das Verwaltungsgericht im Spruch seines Erkenntnisses oder Beschlusses auszusprechen, ob die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG zulässig ist. Der Ausspruch ist kurz zu begründen.

Im vorliegenden Fall ist die ordentliche Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig, weil die Entscheidung nicht von der Lösung einer Rechtsfrage grundsätzlicher Bedeutung abhängt. Das Bundesverwaltungsgericht konnte sich bei allen erheblichen Rechtsfragen auf eine ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bzw. auf eine ohnehin klare Rechtslage stützen. Die maßgebliche Rechtsprechung wurde in der rechtlichen Beurteilung wiedergegeben. Ob ein Fluchtvorbringen als glaubhaft einzustufen ist, ist zudem auf Ebene der Beweiswürdigung zu beurteilen.