Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer als Richterin sowie die Hofräte Mag. Nedwed und Mag. Tolar als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des A A, vertreten durch Dr. Andreas Krist, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Liebiggasse 4, als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Dr. in Julia Ecker, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Opernring 7/18, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 7. Dezember 2020, I413 2135634 1/76E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, Staatsangehöriger des Irak aus der Stadt Ba’qubah in der Provinz Diyala und sunnitischer Moslem, stellte am 13. September 2015 einen Antrag auf internationalen Schutz, den er im Wesentlichen damit begründete, er und seine Ehefrau hätten den Irak verlassen, weil ihre Familien gegen die Beziehung gewesen seien. Während der Einvernahme vor dem Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) ergänzte der Revisionswerber, dass er nach Verlassen seiner Heimatstadt darüber in Kenntnis gesetzt worden sei, dass an der Tür seines Hauses ein Drohbrief angebracht worden sei, weil er Alkohol verkauft habe. In Österreich sei er mittlerweile wegen einer Depression in ärztlicher Behandlung.
2 Das BFA wies diesen Antrag mit Bescheid vom 13. September 2016 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten ab, erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel gemäß § 57 Asylgesetz 2005, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass seine Abschiebung in den Irak zulässig sei, und setzte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
3 Dagegen erhob der Revisionswerber Beschwerde.
4 Mit Schriftsatz vom 2. November 2017 ergänzte der Revisionswerber die Beschwerde, indem er vorbrachte, nach einem psychisch belastenden und langwierigen Prozess sehe er sich nun in der Lage, öffentlich und vor Behörden und Gerichten über seine homosexuelle Orientierung zu sprechen. Er sei sich seiner Homosexualität schon in jugendlichem Alter bewusst gewesen, habe aber seine Neigungen aufgrund der gesellschaftlichen Verachtung, die Homosexuellen im Irak entgegenschlage, und der diesbezüglichen Gefahren nur im Geheimen und in ständiger Angst ausleben können. Auch in Österreich, wo er bis Februar 2017 in einer Unterkunft der katholischen Kirche gelebt habe, habe er aus Angst, seine Unterkunft zu verlieren, und auch vor den Reaktionen der anderen irakischen Bewohner der Unterkunft zunächst seine Sexualität nur im Rahmen von „klandestinen“ Treffen mit anderen Männern in einer Pension ausgelebt. Nach dem Bekanntwerden seiner Homosexualität sei dem Revisionswerber nahegelegt worden, die Unterkunft zu verlassen. Im Februar 2017 sei er in ein Wohnprojekt für „LGBTIQ Flüchtlinge“ aufgenommen worden. Bereits im Jänner 2017 habe er sich von seiner Ehefrau, die in der Türkei verblieben sei, „getrennt“; er habe mit ihr seither keinen Kontakt mehr. Zum Beweis, dass er seine Homosexualität mittlerweile offen auslebe, legte der Revisionswerber Fotos vor, die ihn etwa bei Kundgebungen und auf Paraden mit anderen Mitgliedern der „LGBTIQ Community“, mit gleichgeschlechtlichen Partnern und Bekanntschaften oder in einem „Schwulenclub“ zeigen würden. Zum Beweis seiner Homosexualität beantragte der Revisionswerber die zeugenschaftliche Einvernahme des H und des A, mit denen er bereits selbst geschlechtliche Beziehungen gepflegt habe.
5 Mit dem angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde mit einer vorliegend nicht relevanten Maßgabe als unbegründet ab.
6 Es stellte insbesondere fest, der Revisionswerber sei nicht homosexuell. In der Beweiswürdigung führte das BVwG dazu aus, das Vorbringen im Schriftsatz vom 2. November 2017 verstoße gegen das Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA VG. Es sei nicht erkennbar, dass eine der Ausnahmen gemäß Z 1 bis 4 leg.cit. vorläge. Das Vorbringen erkläre nicht, warum der Revisionswerber „Jahre“ benötigt habe, ein im Kern gänzlich anderes als das ursprüngliche Fluchtvorbringen zu erstatten. Auch bei dem zweifellos sensiblen Thema der eigenen Sexualität wäre zu erwarten gewesen, dass ein wegen seiner sexuellen Ausrichtung im Herkunftsstaat angefeindeter oder verfolgter Mensch „diesen Grund unter anderem nennt, ohne gleich in intime Aspekte eingehen zu müssen“. Im Zeitpunkt seiner Einvernahme vor dem BFA habe der Revisionswerber bereits fast ein Jahr in Österreich gelebt. Es sei davon auszugehen, dass eine Person nach einer solchen Aufenthaltsdauer gewusst habe, dass ein Bekenntnis, homosexuell und deswegen verfolgt worden zu sein, in einer freien, „pluralen“ Gesellschaft wie der österreichischen zu keinen wie immer gearteten Problemen führe. Die Erklärung des Revisionswerbers, seine Unterbringungssituation hätte ihm nicht erlaubt, offen mit seiner Homosexualität umzugehen, sei nicht stichhaltig, weil damit stillschweigend dem damaligen Unterkunftgeber, einer katholischen Pfarrgemeinde, ohne plausible Hinweise eine homophobe Einstellung unterstellt werde. Aufgrund der glaubhaften Aussage des damaligen Pfarrers dieser Gemeinde während der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG („Stören würde es mich nicht.“) zeige sich aber, dass ein offenes Bekennen von Homosexualität keine negativen Konsequenzen für den Revisionswerber gehabt hätte. Da dem Revisionswerber sein mit dem Schriftsatz vom 2. November 2017 neu vorgebrachter Fluchtgrund immer bekannt gewesen sei, ihm die Relevanz dieses Fluchtgrundes klar sein habe müssen und er diesen Fluchtgrund auch während der Einvernahme vor dem BFA etwa zwölf Monate nach der Einreise nicht vorgebracht habe, gehe das BVwG von einer „Missbrauchsabsicht“ aus. Dieses Vorbringen sei daher unbeachtlich und werde der rechtlichen Beurteilung nicht zugrunde gelegt. Dem BVwG sei bewusst, dass „dieses Ergebnis zu Härten führen könne, insbesondere, wenn das Vorbringen zutreffen sollte“. Das Zutreffen des Vorbringens sei aber nicht zu beurteilen, weil „dies gerade der Sinn des Neuerungsverbotes“ sei.
7 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit insbesondere geltend macht, das BVwG habe das Neuerungsverbot entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, die eine schlüssige Herleitung einer Missbrauchsabsicht zur Verlängerung des Asylverfahrens voraussetze, angewendet. Außerdem habe das BVwG entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die vom Revisionswerber zum Beweis seiner Homosexualität beantragte Einvernahme des H und des A als Zeugen unterlassen.
8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof hat über die Revision in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
10 Die Revision ist zulässig und begründet.
11 Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bedarf es für die Annahme eines Neuerungsverbotes im Sinne des § 20 Abs. 1 BFA VG der Auseinandersetzung mit der Voraussetzung der missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens (vgl. VwGH 9.5.2022, Ra 2020/18/0397, mwN).
12 Das BVwG begnügte sich in diesem Zusammenhang mit dem Argument, dem Revisionswerber sei der mit der Stellungnahme vom 2. November 2017 neu vorgebrachte Fluchtgrund betreffend seine sexuelle Orientierung immer bekannt gewesen, ihm habe die Relevanz dieses Fluchtgrundes klar sein müssen und er habe diesen Fluchtgrund dennoch auch während der Einvernahme vor dem BFA etwa zwölf Monate nach der bereits 2015 erfolgten Einreise nicht vorgebracht.
13 Die Revision hält dem entgegen, die Herleitung der Absicht einer missbräuchlichen Verlängerung des Asylverfahrens sei abgesehen vom Verkennen jener (oben wiedergegebenen) Gründe, die der Revisionswerber zur Erklärung, warum er dieses Vorbringen nicht bereits früher (etwa während der Einvernahme vor dem BFA) erstattete auch deshalb unschlüssig, weil der Revisionswerber mit mehreren Eingaben selbst um Beschleunigung seines Verfahrens ersucht habe.
14 Der Verwaltungsgerichtshof kann nicht erkennen, dass das BVwG einen Vorsatz des Revisionswerbers, mit dem neuen Vorbringen das Asylverfahren missbräuchlich zu verlängern, schlüssig hergeleitet hätte. Die Überlegung des BVwG, die Erklärung des Revisionswerbers, seine Unterbringung in einer Einrichtung einer katholischen Pfarre hätte ihm nicht erlaubt, bereits früher offen mit seiner Homosexualität umzugehen, sei nicht stichhaltig, zumal die Aussage des damaligen Pfarrers („Stören würde es mich nicht.“) zeige, dass ein offenes Bekennen von Homosexualität keine negativen Konsequenzen für den Revisionswerber gehabt hätte, greift eindeutig zu kurz und wird dem auch vom EuGH betonten sensiblen Charakter der Fragen, die die persönliche Sphäre einer Person, insbesondere ihre Sexualität, betreffen, was ein Zögern bei der Darlegung intimer Aspekte erklären kann (vgl. EuGH 2.12.2014, C 148/13 bis C 150/13, A, B, C gegen die Niederlande, Rz 69, zu Art. 4 der Richtlinie 2004/83/EG [Status RL aF]; diese Rechtsprechung behält auch im Anwendungsbereich der fallbezogen maßgeblichen Neufassung der Statusrichtlinie 2011/95/EU unverändert Gültigkeit), nicht gerecht.
15 Das BVwG hat sich somit, was das Vorbringen des Revisionswerbers zu seiner Homosexualität betrifft, zu Unrecht auf das Neuerungsverbot des § 20 Abs. 1 BFA VG berufen.
16 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben.
17 Im fortgesetzten Verfahren wird das BVwG zur Frage, ob der Revisionswerber homosexuell ist und deshalb bei einer Rückkehr in den Irak einer maßgeblichen asylrelevanten Gefährdung ausgesetzt wäre, Beweise aufzunehmen, so insbesondere den Beweisanträgen des Revisionswerbers entsprechend H und A als Zeugen einzuvernehmen haben.
18 Die Entscheidung über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 13. März 2023