Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des G M, vertreten durch Dr. Paulina Andrysik Michalska, Rechtsanwältin in 1100 Wien, Hertha Firnberg-Straße 10/2/401, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. September 2023, L519 2270923 1/14E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der 1989 geborene Revisionswerber, ein türkischer Staatsangehöriger, ist ledig und ohne Sorgepflichten. Er befindet sich seit März 2006 im österreichischen Bundesgebiet und erhielt Aufenthaltstitel, insbesondere mit Gültigkeit ab 17. März 2012 den unbefristeten Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“. In Österreich leben auch seine Eltern und eine Schwester sowie weitere Verwandte. Sein Bruder wohnt im Haus der Eltern in der Türkei. In derselben Gegend leben auch eine Tante väterlicherseits und deren Sohn sowie ein Stiefonkel.
2 Mit Bescheid vom 28. März 2023 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung nach § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung in die Türkei zulässig sei, und verhängte über den Revisionswerber gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 5 FPG ein Einreiseverbot in der Dauer von fünf Jahren.
3 In seiner Begründung stellte das BFA fest, dass über den Revisionswerber zunächst mit rechtskräftigem Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 21. Juli 2015 wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG sowie nach § 27 Abs. 1 Z 1 achter Fall, Abs. 3 und 5 SMG eine Freiheitsstrafe in der Dauer von zehn Monaten (davon sieben Monate bedingt) verhängt worden sei. Der Revisionswerber sei dann mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 20. September 2021 neuerlich wegen unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften nach § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG sowie wegen des teilweise als Bestimmungstäter (§ 12 zweiter Fall StGB) begangenen, teilweise versuchten Suchtgifthandels nach § 28a Abs. 1 fünfter Fall, Abs. 3 erster Fall SMG, § 15 StGB zu einer Freiheitsstrafe in der Dauer von achtzehn Monaten (davon zwölf Monate bedingt) rechtskräftig verurteilt worden. Zuletzt sei der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 19. Oktober 2022 wegen absichtlicher schwerer Körperverletzung nach § 87 Abs. 1 StGB zu einer unbedingten Freiheitsstrafe in der Dauer von drei Jahren und sechs Monaten rechtskräftig verurteilt worden.
4 Rechtlich ging das BFA davon aus, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit iSd § 52 Abs. 5 FPG darstelle und deshalb die Erlassung einer Rückkehrentscheidung und eines fünfjährigen Einreiseverbotes auch unter Berücksichtigung der privaten und familiären Bindungen des Revisionswerbers im Bundesgebiet im Rahmen einer Interessenabwägung nach § 9 BFA VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten sei.
5 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber, der sich seit 3. August 2022 zunächst in Untersuchungshaft und anschließend in Strafhaft befand, eine Beschwerde, in der die in Rn. 3 wiedergegebenen Feststellungen zu seinen strafgerichtlichen Verurteilungen nicht in Frage gestellt, jedoch die daraus abgeleitete Gefährdungsprognose und die Interessenabwägung bekämpft wurden.
6 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 4. September 2023 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die Beschwerde nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung als unbegründet ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach es aus, dass die Revision nach Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
7 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende nach Ablehnung der Behandlung der an den Verfassungsgerichtshof erhobenen Beschwerde und ihrer Abtretung an den Verwaltungsgerichtshof (VfGH 27.11.2023, E 3255/2023 7) fristgerecht ausgeführte außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
8 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
9 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision unter dem genannten Gesichtspunkt nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
10 Vorauszuschicken ist, dass der Verwaltungsgerichtshof in ständiger Rechtsprechung judiziert, dass die bei Erlassung einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme unter Bedachtnahme auf die jeweiligen Umstände des Einzelfalls in Form einer Gesamtbetrachtung vorgenommene Interessenabwägung im Allgemeinen wenn sie auf einer verfahrensrechtlich einwandfreien Grundlage erfolgte und in vertretbarer Weise im Rahmen der von der Rechtsprechung entwickelten Grundsätze vorgenommen wurde nicht revisibel iSd Art. 133 Abs. 4 B VG ist. Das gilt sinngemäß auch für die einzelfallbezogene Erstellung einer Gefährdungsprognose und für die Bemessung der Dauer eines Einreiseverbots (vgl. dazu etwa VwGH 11.4.2024, Ra 2023/21/0073 , Rn. 8, mwN).
11 Hinsichtlich ihrer Zulässigkeit bringt die Revision unter Wiedergabe von fallbezogen nicht einschlägiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zum Ausschluss von der Asylgewährung nach § 6 Abs. 1 Z 4 AsylG 2005 vor, das BVwG hätte zur Erstellung einer Zukunftsprognose ein medizinisches Sachverständigengutachten, insbesondere aus dem Fachgebiet der Neurologie und Psychiatrie, einholen müssen. Nach ausführlicher Darstellung der Urteile EGMR (Große Kammer) 23.6.2008, Maslov gg. Österreich , 1638/03, und EGMR 28.6.2007, Kaya gg. Deutschland , 31.753/02, rügt die Revision des Weiteren ein Abweichen von dieser Rechtsprechung. Die gesamte Familie des Revisionswerbers und sein soziales Netz befänden sich in Österreich, wo der Revisionswerber etwa die Hälfte seines Lebens verbracht habe. Er sei „lediglich“ wegen § 87 StGB zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren und sechs Monaten verurteilt worden, womit nur ein Drittel des Strafrahmens ausgeschöpft worden sei. Auch bei der Verurteilung aus 2021 habe die überdies teilweise bedingt nachgesehene Freiheitsstrafe für eine beim Versuch gebliebene Straftat nur der Hälfte des Strafrahmens entsprochen. Der süchtig gewesene Revisionswerber habe eine Therapie absolviert und sich „zwischendurch“ auch wohlverhalten. In einem gleichartig gelagerten Fall, nämlich zu VwGH 10.10.2023, Ra 2022/21/0104, habe der Verwaltungsgerichtshof die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen als rechtswidrig erachtet. Bei der Feststellung der Situation im Herkunftsstaat des Revisionswerbers habe das BVwG außerdem im Entscheidungszeitpunkt nicht mehr aktuelle Länderberichte herangezogen.
12 Zunächst ist diesem Vorbringen entgegen zu halten, dass die Unterlassung der Einholung eines im Beschwerdeverfahren im Übrigen nicht beantragten Sachverständigengutachtens in Bezug auf die Erstellung der Gefährdungsprognose für den Revisionswerber keinen Verfahrensmangel begründet. Das Absehen von der Einholung eines Gutachtens steht vielmehr im Einklang mit der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes, der zufolge ein durch ein Gutachten festgestellter Gesinnungswandel, der nicht in einem einen relevanten Zeitraum umfassenden Wohlverhalten seine Entsprechung gefunden habe, für den Wegfall der Gefährdungsprognose nicht ausreiche (vgl. etwa VwGH 16.8.2022, Ra 2021/21/0123, Rn. 14, mwN). Nach der Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes, auf die sich auch das BVwG bezog, ist der Gesinnungswandel eines Straftäters nämlich grundsätzlich daran zu messen, ob und wie lange er sich nach dem Vollzug einer Haftstrafe in Freiheit wohlverhalten hat, wobei dies selbst für den Fall einer bereits erfolgreich absolvierten Therapie gilt. Dieser Zeitraum ist umso länger anzusetzen, je nachdrücklicher sich wie auch hier die Gefährlichkeit des Fremden manifestiert hat (siehe auch dazu VwGH 11.4.2024, Ra 2023/21/0073, nunmehr Rn. 11, mwN). Im vorliegenden Fall befand sich der Revisionswerber im maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses aber noch in Strafhaft, sodass schon deshalb von keinem relevanten Zeitraum des Wohlverhaltens in Freiheit ausgegangen werden konnte.
13 In diesem Zusammenhang erweist sich auch der Hinweis auf die mit den ersten Strafurteilen jeweils teilbedingt verhängten Strafen als nicht zielführend, wird dabei doch die ständige Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes außer Acht gelassen, wonach das Fehlverhalten eines Fremden und die daraus abzuleitende Gefährlichkeit ausschließlich aus dem Blickwinkel des Fremdenrechts, also (auch) unabhängig von gerichtlichen Erwägungen über bedingte Strafnachsichten oder eine bedingte Entlassung aus dem Strafvollzug, zu beurteilen ist (vgl. etwa VwGH 30.4.2021, Ra 2021/21/0071, Rn. 15, mwN). Dabei ist vor allem auf die Art und Schwere der den Verurteilungen zugrundeliegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. etwa VwGH 27.4.2023, Ra 2022/21/0130 Rn. 14, mwN).
14 Angesichts dessen kommt es in Bezug auf die dem Revisionswerber zur Last liegenden Suchtgiftdelikte vorrangig darauf an, dass insoweit ein einschlägiger Rückfall und überdies eine Steigerung der Delinquenz vorlag. Außerdem lag dem zuletzt ergangenen Urteil vom 19. Oktober 2022 zugrunde, der Revisionswerber habe am 6. Juni 2022 einer anderen Person mit einem Messer mit einer 11 cm langen Klinge in den Rücken und in den linken Oberarm gestochen, wodurch das Opfer unter anderem eine Stichwunde im linken Rückenabschnitt auf der Höhe der sechsten Rippe mit Eröffnung der Brusthöhle, Beschädigung des linken Lungenunterlappens und nachfolgender Blut /Luftbrustbefüllung erlitten habe.
15 Vor diesem Hintergrund erweist sich die nach Verschaffung auch eines persönlichen Eindrucks im Rahmen der mündlichen Verhandlung getroffene Beurteilung des BVwG, das sich der Annahme des BFA bezüglich der Erfüllung des Gefährdungsmaßstabes nach § 52 Abs. 5 FPG anschloss, jedenfalls als vertretbar.
16 Soweit sich die Revision insbesondere mit dem Hinweis auf die lange Aufenthaltsdauer und die soziale Verankerung des Revisionswerbers in Österreich gegen die Interessenabwägung nach § 9 BFA VG wendet, vermag sie ebenfalls nicht deren Unvertretbarkeit aufzuzeigen. Das BVwG nahm nämlich im Rahmen der Interessenabwägung ausreichend auf diese für einen Verbleib des Revisionswerbers sprechenden Umstände Bedacht. In Anbetracht vor allem der erwähnten letzten, überdies innerhalb offener Probezeit begangenen Straftat des Revisionswerbers, die vom BVwG als „brutal“ und „hinterlistig“ qualifiziert und zu Recht auch als „besonders gravierend“ bewertet wurde, erweist sich die Interessenabwägung fallbezogen aber zumindest als vertretbar.
17 Was die in der Revision erwähnten Urteile des EGMR anbelangt, sind die ihnen zugrundeliegenden Sachverhalte, in denen es einerseits um einen Jugendstraftäter und andererseits um einen „Migranten der zweiten Generation“ ging, mit dem vorliegenden Fall auch sonst nicht vergleichbar. Dies gilt gleichermaßen für das in der Revision ebenfalls angeführte Erkenntnis VwGH 10.10.2023, Ra 2022/21/0104, in dem das maßgebliche Fehlverhalten des Fremden keine derartige Gravität wie im gegenständlichen Fall aufwies. Aus den in der Revision ins Treffen geführten Entscheidungen ist daher für den vorliegenden Fall nichts zu gewinnen.
18 Soweit in der Revision noch die fehlende Aktualität der vom BVwG herangezogenen Länderberichte geltend gemacht wird, unterlässt es die Revision, die Relevanz dieses Verfahrensmangels darzulegen (vgl. zu diesem Erfordernis allgemein etwa VwGH 28.5.2020, Ra 2020/21/0073, Rn. 18, mwN).
19 Der Revision gelingt es somit insgesamt nicht, eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG aufzuzeigen, weshalb sie gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen war.
Wien, am 29. August 2024