JudikaturVwGH

Ra 2024/18/0064 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
03. März 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed als Richter sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision 1. der S A, 2. der M D, 3. des H D, und 4. der Z D, alle vertreten durch Dr. Dominik Hofmarcher als bestellter Verfahrenshelfer, dieser vertreten durch Mag. Maximilian Trautinger, Rechtsanwalt in 1200 Wien, Dietmayrgasse 1/2/4, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 18. Jänner 2024, 1. W215 2252444 1/21E, 2. W215 2252447 1/9E, 3. W215 2252445 1/9E und 4. W215 2252448 1/9E, betreffend Asylangelegenheiten (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird, soweit es die Erstrevisionswerberin betrifft, wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, im Übrigen wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

Der Bund hat den revisionswerbenden Parteien Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Die Erstrevisionswerberin ist die Mutter der (zwischenzeitig volljährig gewordenen) Zweitrevisionswerberin, des minderjährigen Drittrevisionswerbers und der minderjährigen Viertrevisionswerberin. Die revisionswerbenden Parteien sind Staatsangehörige Syriens und Angehörige der arabischen Volksgruppe. Sie stellten am 23. November 2020 bzw. am 20. April 2021 jeweils Anträge auf internationalen Schutz in Österreich, welche die Erstrevisionswerberin im Wesentlichen damit begründete, dass die Familie Syrien aufgrund des Krieges verlassen habe. Sie habe ihre Kinder in Sicherheit bringen wollen. Ihr Ehemann sei entführt worden und sie wisse nicht, ob er noch am Leben sei.

2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diese Anträge mit Bescheiden vom 25. und 26. Jänner 2022 jeweils hinsichtlich der Zuerkennung des Status der Asylberechtigten ab (Spruchpunkt I.), erkannte den revisionswerbenden Parteien den Status der subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt II.) und erteilte ihnen befristete Aufenthaltsberechtigungen (Spruchpunkt III.).

3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die gegen die Nichtzuerkennung des Status der Asylberechtigten erhobenen Beschwerden der revisionswerbenden Parteien gemäß § 3 Abs. 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.

4 Begründend führte das BVwG im Wesentlichen aus, die revisionswerbenden Parteien seien bis zur Ausreise im Jahr 2017 im Herkunftsstaat keinen persönlichen Übergriffen ausgesetzt gewesen. Insbesondere könne weder festgestellt werden, dass die Erstrevisionswerberin, die Zweitrevisionswerberin und die Viertrevisionswerberin alleinstehende Frauen seien, noch, dass die Erstrevisionswerberin und die Zweitrevisionswerberin politische Aktivistinnen seien, dass die revisionswerbenden Parteien Familienangehörige von Oppositionellen seien, dass der Drittrevisionswerber von der Freien Syrische Armee (FSA) zwangsrekrutiert hätte werden sollen, oder dass der Zweitrevisionswerberin und der Viertrevisionswerberin im Herkunftsstaat „wegen Schwerhörigkeit“ Verfolgung drohe. Was das Vorbringen, die Erstrevisionswerberin, die Zweitrevisionswerberin und die Viertrevisionswerberin seien alleinstehende Frauen, betreffe, werde übersehen, dass die Erstrevisionswerberin nach wie vor mit ihrem Ehegatten - dem Vater der weiteren revisionswerbenden Parteien - „verheiratet bzw. dieser nicht verstorben“ sei. Die Zweitrevisionswerberin und die Viertrevisionswerberin lebten im Herkunftsstaat gemeinsam mit ihrer Familie und eine (hypothetische) Rückkehr könnte gemeinsam als Familie erfolgen. Diese seien daher keine alleinstehenden Frauen. Rechtlich folgerte das BVwG u.a. daraus, dass die revisionswerbenden Parteien weder vor ihrer Ausreise noch in Zukunft eine konkrete Verfolgung im Herkunftsstaat glaubhaft hätten machen können, weshalb die Beschwerden abzuweisen seien.

5 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die zu ihrer Zulässigkeit u.a. geltend macht, die Beweiswürdigung des BVwG sei in entscheidenden Punkten unschlüssig bzw. aktenwidrig, da die Zugehörigkeit der Erstrevisionswerberin zur sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen trotz des ungewissen Verbleibs ihres Ehemannes verneint worden sei. Dass alleinstehenden Frauen in Syrien mit maßgeblicher Wahrscheinlichkeit Verfolgung drohe, ergebe sich aus den Feststellungen des BVwG. Dieses habe jedoch ohne weitere Beweiswürdigung festgestellt, dass der Ehemann noch am Leben sei und die Erstrevisionswerberin daher nicht der sozialen Gruppe der alleinstehenden Frauen angehöre.

6 Das BFA erstattete - nach Einleitung des Vorverfahrens durch den Verwaltungsgerichtshof - keine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

7 Die Revision ist zulässig und begründet.

8 Vorauszuschicken ist, dass nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die Rechtmäßigkeit der Entscheidung des BVwG gemäß § 41 VwGG auf der Grundlage der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses zu prüfen ist. Dementsprechend entziehen sich Änderungen der Sach- und Rechtslage, die sich nach Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses ereignet haben, einer Prüfung im gegenständlichen Revisionsverfahren (vgl. etwa VwGH 19.3.2024, Ra 2022/18/0326, mwN).

9 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes hat das Verwaltungsgericht neben der Durchführung aller zur Klarstellung des Sachverhaltes erforderlichen Beweise auch die Pflicht, auf das Parteivorbringen, soweit es für die Feststellung des Sachverhaltes von Bedeutung sein kann, einzugehen. Das Verwaltungsgericht darf sich über erhebliche Behauptungen und Beweisanträge nicht ohne Ermittlungen und ohne Begründung hinwegsetzen. Nach der höchstgerichtlichen Judikatur verlangt eine schlüssige Beweiswürdigung, dass das Verwaltungsgericht dabei alle in Betracht kommenden Umstände vollständig berücksichtigt hat (vgl. VwGH 5.9.2024, Ra 2023/18/0463, mwN).

10 Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das BVwG seine Begründungspflicht verletzt.

11 Die Revision weist zutreffend darauf hin, dass die Einschätzung des BVwG, der Erstrevisionswerberin drohe in ihrem Heimatland keine Verfolgung als alleinstehende Frau, da diese „nach wie vor mit ihrem Ehegatten ... verheiratet bzw. dieser nicht verstorben“ sei, nur mangelhaft begründet wurde.

12 Diese - abschließende - Begründung des BVwG lässt nämlich gänzlich außer Acht, dass die Erstrevisionswerberin im Verfahren durchgehend und gleichbleibend vorgebracht hat, keine Informationen zum Verbleib ihres Ehemannes zu haben. Bereits in der Erstbefragung führte sie an, ihr Ehemann sei entführt worden und sie wisse nicht, ob er noch am Leben sei. Gemäß den Angaben in der Beschwerde hätte sich der Ehemann auf der Flucht in einem anderen Auto aufgehalten, wonach dieses zu brennen begonnen habe, und die Erstrevisionswerberin wisse seither nicht, wo er sich befinde. In der Stellungnahme zur Beschwerde vom 23. Juni 2023 wurde dargelegt, die Erstrevisionswerberin habe ihren Mann verloren, sein Aufenthalt bzw. Verbleib sei ungewiss. Sie verfüge in Syrien über keine Angehörigen, die ihr im Fall einer Rückkehr Schutz gewähren könnten, weshalb sie eine faktisch alleinstehende Frau ohne Schutz eines Familienverbandes wäre.

13 Ungeachtet dessen (und ohne zu beachten, dass gemäß dem Bescheid des BFA „nicht mit Sicherheit festgestellt“ habe werden können, ob die Erstrevisionswerberin „tatsächlich ... verheiratet“ sei) führte das BVwG keine weiteren Ermittlungen zu dieser Frage durch und setzte sich insbesondere in der mündlichen Verhandlung nicht mit diesem Vorbringen auseinander, obwohl sich dieses von zentraler Bedeutung für die Qualifikation der Erstrevisionswerberin als alleinstehende Frau erweist. Des Weiteren traf das BVwG im angefochtenen Erkenntnis keine Feststellungen zum Familienstand der Erstrevisionswerberin, sondern legte die Annahme, der Ehemann sei nicht verstorben und nach wie vor mit der Erstrevisionswerberin verheiratet, ohne nähere Begründung seiner Beweiswürdigung zugrunde.

14 Diese Argumentation des BVwG allein vermag daher die Abweisung des Asylantrages in Bezug auf das Vorbringen, die Erstrevisionswerberin gelte im Falle ihrer Rückkehr als alleinstehende Frau, nicht zu tragen.

15 Eine schlüssige und nachvollziehbar begründete Beweiswürdigung im Sinne der angeführten Rechtsprechung hätte es erfordert, die - bezogen auf das Vorbringen der Erstrevisionswerberin - notwendigen Ermittlungen durchzuführen, fallbezogen die erforderlichen Feststellungen zu treffen und diese an den dafür konkret heranzuziehenden Länderfeststellungen zu messen. Dies hat das BVwG im angefochtenen Erkenntnis unterlassen und insbesondere nicht näher dargelegt, auf welche konkreten Umstände und Tatsachen es seine Annahme der aufrechten Ehe der Erstrevisionswerberin stützte.

16 Die Klärung des tatsächlichen Familienstandes der Erstrevisionswerberin erweist sich dabei schon deswegen als relevant, weil sich erst ausgehend davon beurteilen lässt, ob es das BVwG zu Recht unterlassen hat, sich mit den von ihm im angefochtenen Erkenntnis selbst getroffenen Länderfeststellungen zu Frauen in Syrien, die insbesondere ausführen, dass alleinstehende Frauen aufgrund des Konflikts einem besonderen Risiko von Gewalt oder Belästigung ausgesetzt seien (vgl. zur Situation alleinstehender Frauen auch VfGH 11.6.2024, E 3551/2023 u.a., mit Hinweis auf die - vom BVwG nicht zitierten - UNHCR-Erwägungen vom März 2021 zum Schutzbedarf von Personen, die aus der Arabischen Republik Syrien fliehen), zu befassen.

17 Es ist nicht auszuschließen, dass das BVwG bei Vermeidung der aufgezeigten Begründungsmängel zu einem anderen Verfahrensergebnis hätte gelangen können. Das angefochtene Erkenntnis war deshalb, soweit es die Erstrevisionswerberin betrifft, gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das übrige Vorbringen in der Revision einzugehen war.

18 Dieser Umstand schlägt im Familienverfahren gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 ungeachtet allfälliger eigener Fluchtgründe auch auf die übrigen revisionswerbenden Parteien als Familienmitglieder durch und führt zur inhaltlichen Rechtswidrigkeit der sie betreffenden Entscheidung (vgl. etwa VwGH 7.5.2024, Ra 2023/18/0003 bis 0010, mwN). Das sie betreffende Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit des Inhaltes aufzuheben.

19 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH-Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 3. März 2025

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