JudikaturVwGH

Ra 2024/16/0039 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
28. April 2025

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Thoma sowie die Hofrätin Dr. Reinbacher, den Hofrat Dr. Bodis, die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Mag. M. Mayr als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Finanzamts Österreich in 3300 Amstetten, Graben 7, gegen das Erkenntnis des Bundesfinanzgerichts vom 29. März 2024, RV/4100344/2023, betreffend Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag (mitbeteiligte Partei: R W in S, vertreten durch die AHP Rechtsanwälte OG in 9020 Klagenfurt, Neuer Platz 5/III), zu Recht erkannt:

Spruch

Das Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid vom 16. März 2023 forderte das Finanzamt Österreich (im Folgenden: Finanzamt) von der mitbeteiligten Partei Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag für ihre Tochter für den Zeitraum Jänner 2023 bis Februar 2023 iHv insgesamt € 473 zurück.

2 Die dagegen erhobene Beschwerde der Mitbeteiligten wies das Finanzamt mit Beschwerdevorentscheidung vom 3. April 2023 als unbegründet ab. Die mitbeteiligte Partei stellte einen Vorlageantrag.

3 Mit dem angefochtenen Erkenntnis gab das Bundesfinanzgericht der Beschwerde der mitbeteiligten Partei gemäß § 279 BAO Folge und hob den angefochtenen Bescheid auf. Die Revision erklärte das Bundesfinanzgericht gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.

4 Das Bundesfinanzgericht stellte nach Wiedergabe des Verwaltungsgeschehens und soweit hier relevant fest, die 2001 geborene Tochter der mitbeteiligten Partei absolviere seit 1. Juni 2022 die exekutivdienstliche Ausbildung (Polizeigrundausbildung) in Form eines näher bezeichneten Grundausbildungslehrgangs an der Sicherheitsakademie Graz.

5 Für die Monate Jänner bis Februar 2023 habe die Tochter der mitbeteiligten Partei Einkünfte iHv monatlich € 2.103,40 bezogen. Insgesamt habe die Tochter der mitbeteiligten Partei im Kalenderjahr 2023 laut Einkommensteuerbescheid vom 13. März 2024 ein Einkommen iHv € 22.069,71 erzielt.

6 In rechtlicher Hinsicht führte das Bundesfinanzgericht soweit hier relevant nach Wiedergabe der maßgeblichen rechtlichen Bestimmungen aus, zur Beantwortung der Frage, ob die Einkommensgrenze des § 5 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG) überschritten sei, sei eine ex post Betrachtung zum Ende des Kalenderjahres anzustellen. Dabei seien alle in dieses Kalenderjahr fallenden Zeiten zu berücksichtigen, für die Anspruch auf Familienbeihilfe bestehe. Dies könne dazu führen, dass die Auszahlung für das betreffende Kalenderjahr bis auf null zu kürzen sei.

7 Im maßgeblichen Zeitraum Jänner bis Februar 2023 habe die Tochter der mitbeteiligten Partei die Polizeigrundausbildung absolviert. Aus dem Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofes vom 13. Dezember 2022, Ro 2022/16/0004, ergebe sich, dass eine Polizeigrundausbildung nicht als anerkanntes Lehrverhältnis im Sinne des § 5 Abs. 1 lit. b FLAG anzusehen sei.

8 Im streitgegenständlichen Zeitraum Jänner 2023 bis Februar 2023 habe die Tochter der mitbeteiligten Partei laut Versicherungsdatenauszug Einkünfte iHv jeweils € 2.103,40 bezogen. Ungeachtet des Umstandes, dass der in § 5 Abs. 1 FLAG genannte Grenzbetrag von € 15.000 noch nicht erreicht worden sei, habe das Finanzamt die Familienbeihilfe und den Kinderabsetzbetrag für diesen Zeitraum mit dem angefochtenen Bescheid rechtswidrig zurückgefordert. Aufgrund der gesetzlich angeordneten ex post Betrachtung wären alle im Kalenderjahr 2023 anfallenden Zeiten zu berücksichtigen gewesen. Erst wenn der Grenzbetrag von € 15.000 überschritten werde, verringere sich die Familienbeihilfe, die für ein Kind zu bezahlen sei, im betreffenden Kalenderjahr um den den Grenzbetrag übersteigenden Betrag.

9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des Finanzamts. Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein. Die mitbeteiligte Partei erstattete eine Revisionsbeantwortung, in der sie die Zurück , in eventu die Abweisung der Revision sowie die Zuerkennung des Schriftsatzaufwandes beantragte.

10 Das Finanzamt bringt zur Begründung der Zulässigkeit der Revision vor, das Bundesfinanzgericht sei insofern von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen, als es grundsätzlich von der Sachlage im Zeitpunkt seiner Entscheidung auszugehen habe. Daher seien auch Veränderungen des Sachverhalts zu berücksichtigen. Das Bundesfinanzgericht weiche ohne jegliche Begründung von dieser näher genannten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab und habe den Sachverhalt zum Zeitpunkt der Bescheiderlassung beurteilt. Insofern liege auch ein relevanter Begründungsmangel vor.

Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:

11 Die Revision ist zulässig; sie ist auch begründet.

12 § 5 Abs. 1 Familienlastenausgleichsgesetz (FLAG), BGBl. Nr. 376/1967 idF BGBl. I Nr. 109/2020, lautete:

„§ 5. (1) Ein zu versteuerndes Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) eines Kindes führt bis zu einem Betrag von 15.000 € in einem Kalenderjahr nicht zum Wegfall der Familienbeihilfe. Übersteigt das zu versteuernde Einkommen (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) eines Kindes in einem Kalenderjahr, das nach dem Kalenderjahr liegt, in dem das Kind das 19. Lebensjahr vollendet hat, den Betrag von 15.000 €, so verringert sich die Familienbeihilfe, die für dieses Kind nach § 8 Abs. 2 einschließlich § 8 Abs. 4 gewährt wird, für dieses Kalenderjahr um den 15.000 € übersteigenden Betrag. § 10 Abs. 2 ist nicht anzuwenden. Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) des Kindes bleiben außer Betracht:

a) das zu versteuernde Einkommen, das vor oder nach Zeiträumen erzielt wird, für die Anspruch auf Familienbeihilfe besteht,

b) Entschädigungen aus einem anerkannten Lehrverhältnis,

c) Waisenpensionen und Waisenversorgungsgenüsse.

d) Ausgleichszulagen und Ergänzungszulagen, die aufgrund sozialversicherungs oder pensionsrechtlicher Vorschriften gewährt werden.

[...]“.

13 Anspruchsvoraussetzungen sind im Familienbeihilfenrecht grundsätzlich ex ante zu prüfen (vgl. etwa VwGH 30.10.2024, Ra 2024/16/0009; 27.9.2012, 2010/16/0084, mwN).

14 Nur ausnahmsweise ist eine ex post Betrachtung vorzunehmen, wenn etwa die Höhe eines beihilfenschädlichen Einkommens des Kindes zu prüfen ist (§ 5 Abs. 1 FLAG; vgl. VwGH 29.9.2011, 2011/16/0086) oder wenn zur Anspruchsvoraussetzung zu prüfen ist, ob nach dem Anspruchszeitraum eine Berufsausbildung zum „frühest möglichen“ Zeitpunkt begonnen wird (§ 2 Abs. 1 lit. d und lit. e FLAG). Solche ex post Betrachtungen können dann ebenso zur Rückforderung nach § 26 Abs. 1 FLAG führen wie Rückforderungen, weil die Anspruchsvoraussetzungen von vorneherein nicht oder nicht mehr vorgelegen sind (vgl. VwGH 3.9.2020, Ra 2020/16/0033, mwN).

15 Das Bundesfinanzgericht hat ausgehend von dieser Rechtlage zutreffend angenommen, dass die Voraussetzungen zur Beurteilung, ob das zu versteuernde Einkommen der Tochter der mitbeteiligten Partei im Kalenderjahr 2023 den Betrag von 15.000 € überschritten habe, im Zeitpunkt der Erlassung des Bescheids des Finanzamts vom 16. März 2023 nicht vorlagen. Im Entscheidungszeitpunkt des Finanzamts (16. März 2023) konnten noch nicht alle in das Kalenderjahr 2023 fallenden Monate, in denen ein Anspruch auf Familienbeihilfe bestand, berücksichtigt werden; die Grenze des zu versteuernden Einkommens gemäß § 5 Abs. 1 FLAG war zu diesem Zeitpunkt nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts nicht überschritten.

16 Gemäß § 279 Abs. 1 BAO hat das Verwaltungsgericht von hier nicht betroffenen Fällen abgesehen immer in der Sache selbst zu entscheiden. Es ist berechtigt, sowohl im Spruch als auch hinsichtlich der Begründung seine Anschauung an die Stelle jener der Abgabenbehörde zu setzen und demgemäß den angefochtenen Bescheid nach jeder Richtung abzuändern, aufzuheben oder die Bescheidbeschwerde als unbegründet abzuweisen (vgl. VwGH 13.6.2023, Ra 2020/16/0118; 2.2.2023, Ra 2020/13/0012, mwN).

17 Dabei hat das Verwaltungsgericht grundsätzlich nach der Sach und Rechtslage zu entscheiden, welche im Zeitpunkt seiner Entscheidung vorliegt (vgl. VwGH 31.1.2024, Ra 2021/13/0128; 15.10.2021, Ra 2019/16/0136, mwN). Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist die Entscheidung über die Gewährung von monatlich wiederkehrenden Leistungen, zu denen auch die Familienbeihilfe zählt, ein zeitraumbezogener Abspruch (vgl. etwa VwGH 5.9.2024, Ra 2022/16/0035, mwN). Dies gilt auch für die Familienbeihilfe (vgl. VwGH 28.4.2009, 2006/13/0189, wonach die Familienbeihilfe eine Beihilfe im Sinn des § 2 lit. A Z 1 BAO ist).

18 Welche materiell rechtlichen Bestimmungen das Bundesfinanzgericht im Rückforderungszeitraum Jänner 2023 bis Februar 2023 für die Frage des Bestehens eines Anspruchs auf Familienbeihilfe der mitbeteiligten Partei anzuwenden hatte, ist im Revisionsfall nicht strittig.

19 Die bei der Entscheidung über die Bescheidbeschwerde bestehende Änderungsbefugnis im Sinne des § 279 Abs. 1 zweiter Satz BAO nach jeder Richtung ist (nur) durch die Sache nach § 279 Abs. 1 erster Satz BAO begrenzt. Sache ist im Bescheidbeschwerdeverfahren die Angelegenheit, die den Inhalt des Spruches des bekämpften Bescheides erster Instanz gebildet hat (vgl. VwGH 7.9.2021, Ro 2018/15/0026, mwN).

20 Sache des Verfahrens war im vorliegenden Fall die Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag von der mitbeteiligten Partei für den Zeitraum Jänner 2023 bis Februar 2023 aufgrund der Überschreitung des Grenzbetrages nach § 5 Abs. 1 FLAG durch ihre Tochter im Kalenderjahr 2023. Das FLAG bietet keinen Anhaltspunkt dafür, dass das Bundesfinanzgericht dabei von der Sachlage im Zeitpunkt der Entscheidung des Finanzamts auszugehen hatte. Das Bundesfinanzgericht hatte seiner Entscheidung über die Rückforderung von Familienbeihilfe und Kinderabsetzbetrag das im Kalenderjahr 2023 von der Tochter der mitbeteiligten Partei bezogene zu versteuernde Einkommen zu Grunde zu legen.

21 Nach den Feststellungen des Bundesfinanzgerichts bezog die Tochter der mitbeteiligten Partei im Kalenderjahr 2023 laut Einkommenssteuerbescheid vom 13. März 2024 ein Einkommen iHv € 22.069,71. Der Anspruch der mitbeteiligten Partei auf Familienbeihilfe hätte sich daher ausgehend von einem aufrechten Anspruch auf Familienbeihilfe für die restlichen Monate des Jahres 2023 für das Kalenderjahr 2023 um den 15.000 € übersteigenden Betrag verringern müssen.

22 Bei der Ermittlung des zu versteuernden Einkommens (§ 33 Abs. 1 EStG 1988) des Kindes bleibt gemäß § 5 Abs. 1 lit. a FLAG das zu versteuernde Einkommen, das vor oder nach Zeiträumen erzielt wird, für die Anspruch auf Familienbeihilfe besteht, außer Betracht. Zur Beantwortung der Frage, ob die Betragsgrenze des § 5 Abs. 1 FLAG überschritten wurde, sind daher alle in dieses Kalenderjahr fallenden Zeiten zu berücksichtigen, für die Anspruch auf Familienbeihilfe besteht (vgl. erneut VwGH 29.9.2011, 2011/16/0086). Dies setzt im Fall der Rückforderung von Familienbeihilfe für einzelne Monate des Kalenderjahres Feststellungen voraus, die eine Beurteilung ermöglichen, ob in den übrigen Monaten des Kalenderjahres Anspruch auf Familienbeihilfe für das Kind bestand. Solche Feststellungen hat das Bundesfinanzgericht in dem angefochtenen Erkenntnis nicht getroffen.

23 Das angefochtene Erkenntnis war aus den dargestellten Gründen gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.

Wien, am 28. April 2025

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