Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl gegen das am 24. Februar 2023 mündlich verkündete und mit 14. März 2023 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, L525 2217018 1/16E, betreffend Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und Erteilung eines Aufenthaltstitels „Aufenthaltsberechtigung plus“ nach § 55 AsylG 2005 (mitbeteiligte Partei: S N, vertreten durch Mag. Dr. Bernhard Rosenkranz, Rechtsanwalt in 5020 Salzburg, Plainstraße 23), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im bekämpften Umfang (Spruchpunkte A2. und A3.) wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der 1998 geborene Mitbeteiligte, ein pakistanischer Staatsangehöriger, stellte in Österreich am 5. November 2018 einen Antrag auf internationalen Schutz. Dieser Antrag wurde mit Bescheid des Bundesamtes für Fremdenwesen und Asyl (BFA) vom 25. Februar 2019 zur Gänze abgewiesen (Spruchpunkte I. und II.). Weiters wurde dem Mitbeteiligten ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005 (von Amts wegen) nicht erteilt (Spruchpunkt III.), gegen ihn eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 2 Z 2 FPG erlassen (Spruchpunkt IV.), und gemäß § 52 Abs. 9 FPG festgestellt, dass seine Abschiebung nach Pakistan zulässig sei (Spruchpunkt V.). Gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG wurde die Frist für die freiwillige Ausreise mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung festgelegt (Spruchpunkt VI.), und es wurde dem Mitbeteiligten gemäß § 15b Abs. 1 AsylG 2005 ab dem 5. November 2018 die Unterkunftnahme in einem näher bezeichneten Quartier aufgetragen (Spruchpunkt VII.).
2 Gegen diesen Bescheid erhob der Mitbeteiligte Beschwerde. Mit dem angefochtenen, am 24. Februar 2023 mündlich verkündeten und mit 14. März 2023 schriftlich ausgefertigten Erkenntnis stellte das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) das Verfahren hinsichtlich der Spruchpunkte I., II., und III. wegen Zurückziehung der Beschwerde ein (Spruchpunkt A1.), es gab der Beschwerde gegen Spruchpunkt IV. statt, erklärte die Rückkehrentscheidung gemäß § 9 BFA VG auf Dauer für unzulässig und erteilte dem Mitbeteiligten einen Aufenthaltstitel „Aufenthaltsberechtigung plus“ gemäß §§ 54 Abs. 1 Z 1, 55 Abs. 1 und 58 Abs. 2 AsylG 2005 für die Dauer von zwölf Monaten (Spruchpunkt A2.). Die Spruchpunkte V., VI. und VII. des bei ihm angefochtenen Bescheides des BFA vom 25. Februar 2019 behob das BVwG ersatzlos (Spruchpunkt A3.). Die Revision erklärte das BVwG gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
3 In seiner Entscheidungsbegründung lege das BVwG dar, dass der Mitbeteiligte insoweit über Deutschkenntnisse verfüge, als eine Unterhaltung über Alltagsthemen mit ihm auf Deutsch möglich sei. Er gehe seit mehreren Jahren mit einer Gewerbeberechtigung einer Tätigkeit als selbständiger Paketzusteller nach und erwirtschafte dadurch ein Einkommen, das deutlich über der Geringfügigkeitsgrenze liege; insgesamt habe er nur für drei Tage Leistungen aus der Grundversorgung bezogen. Der Mitbeteiligte lebe in einer ortsüblichen Mietwohnung, habe ein Auto für seine Berufstätigkeit gekauft, zahle Steuern und Versicherungen und sei unbescholten. In Pakistan verfüge der Mitbeteiligte über familiäre Anknüpfungspunkte und stehe mit seiner Familie in regelmäßigem Kontakt; in Österreich habe er „wenig feststellbare soziale Kontakte“, er verbringe seine Freizeit mit Freunden.
4 Vor diesem Hintergrund kam das BVwG im Rahmen der nach § 9 BFA VG durchgeführten Interessenabwägung zu dem Ergebnis, dass zwar eine umfassende soziale Integration des Mitbeteiligten nicht festgestellt werden könne und nicht hervorgekommen sei, dass seine Wiedereingliederung in Pakistan nicht möglich wäre. Dennoch erwiesen sich nach Ansicht des BVwG die auch nach dem Eindruck in der mündlichen Verhandlung insgesamt besonders positiv zu bewertenden Integrationsbemühungen des Mitbeteiligten als derart ausgeprägt, dass sie auch das „massive“ Interesse der Republik Österreich auf Einhaltung der fremden- und asylrechtlichen Bestimmungen und das Interesse an einer geordneten Migration in das Bundesgebiet überwögen.
5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Amtsrevision des BFA, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen vom Mitbeteiligten eine Revisionsbeantwortung erstattet wurde erwogen hat:
6 Zur Begründung der Zulässigkeit seiner Revision wendet sich das BFA unter Berufung auf näher zitierte Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes dagegen, dass im vorliegend zu beurteilenden Fall vom BVwG eine solche „außergewöhnliche Konstellation“ angenommen wurde, in der bei einer unter fünfjährigen Aufenthaltsdauer die persönlichen Interessen des Fremden die öffentlichen Interessen an einer Aufenthaltsbeendigung überwiegen.
7 Mit diesem Vorbringen erweist sich die vorliegende Amtsrevision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG den Verwaltungsgerichtshof nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig; sie ist auch berechtigt.
8 Der Amtsrevision ist nämlich im Ergebnis darin zu folgen, dass der Verwaltungsgerichtshof in seiner Judikatur bei der Frage, ob die Rückkehrentscheidung einen unverhältnismäßigen Eingriff in das Recht auf Privat- und Familienleben nach Art. 8 EMRK darstellt, auch bei einem wie hier gegebenen Aufenthalt von viereinhalb Jahren noch darauf abgestellt hat, ob in Bezug auf die hier erlangte Integration eine „außergewöhnliche Konstellation“ vorliegt (vgl. etwa VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0133, Rn. 7, mwN).
9 Es wird vom Verwaltungsgerichtshof nicht verkannt, dass der unbescholtene Mitbeteiligte wie das BVwG ins Treffen führte besondere Anstrengungen gezeigt hat, sich in Österreich insbesondere sprachlich und beruflich zu integrieren, und zwar in Form der Erlangung von Sprachkenntnissen, die einfache Unterhaltungen auf Deutsch ermöglichen, und dem Aufbau einer selbständigen Tätigkeit als Paketzusteller, aufgrund derer der Mitbeteiligte bereits zu einem frühen Zeitpunkt seines Aufenthaltes in Österreich selbsterhaltungsfähig war. Allerdings besteht insgesamt trotzdem noch keine derartige Verdichtung der persönlichen Interessen, dass von einer „außergewöhnlichen Konstellation“ gesprochen werden und dem Mitbeteiligten alleine wegen dieser Integrationsbemühungen ungeachtet des noch nicht langen und weitgehend iSd § 9 Abs. 2 Z 8 BFA VG unsicheren Inlandsaufenthaltes und des Umstandes, dass bei ihm nur ein Eingriff in das Privatleben und nicht auch in ein Familienleben zur Debatte steht unter dem Gesichtspunkt des Art. 8 EMRK ein dauernder Verbleib in Österreich ermöglicht werden müsste (siehe zu vergleichbaren Fällen etwa neuerlich VwGH 16.7.2020, Ra 2020/21/0133, nunmehr Rn. 8, mwN).
10 Der Verwaltungsgerichtshof hat schon mehrfach klargestellt, es möge rechtspolitisch als Manko empfunden werden, dass der Gesetzgeber für Fälle wie den vorliegenden kein humanitäres Aufenthaltsrecht vorgesehen habe. Das kann aber wie neuerlich zu wiederholen ist nicht dazu führen, dass die im Vergleich zum „Aufenthaltstitel in besonders berücksichtigungswürdigen Fällen“ nach § 56 AsylG 2005 strengeren Voraussetzungen für die nach § 9 Abs. 3 BFA VG vorzunehmende Feststellung der dauernden Unzulässigkeit einer Rückkehrentscheidung und die inhaltsgleichen Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach § 55 AsylG 2005 unterlaufen werden (siehe zum Ganzen etwa VwGH 24.8.2021, Ra 2019/21/0286, Rn. 9, mwN).
11 Bei seiner nach Art. 8 EMRK vorgenommenen Interessenabwägung bewegte sich das BVwG bezogen auf den maßgeblichen Zeitpunkt der Erlassung des angefochtenen Erkenntnisses somit nicht innerhalb der vom Verwaltungsgerichtshof entwickelten Grundsätze, weshalb es im angefochtenen Umfang wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben war.
Wien, am 23. Mai 2024