Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Pfiel sowie die Hofrätin Dr. Funk Leisch und den Hofrat Dr. Eisner als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Salama, über die Revision der L M, vertreten durch die Salzborn Rechtsanwaltsgesellschaft m.b.H. in 1070 Wien, Stiftgasse 21/20, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Mai 2023, W280 2266608 1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufgehoben.
Der Bund hat der Revisionswerberin Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Die Revisionswerberin, eine Staatsangehörige der Russischen Föderation, stellte erstmals am 21. September 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen damit begründete, Angst vor Ermordung wegen Blutrache zu haben.
2 Mit Bescheid vom 12. Jänner 2018 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) diesen Antrag zurück, erklärte Italien gemäß Art. 22 Abs. 7 iVm Art. 12 Abs. 2 Dublin III VO für zuständig, ordnete die Außerlandesbringung der Revisionswerberin an und stellte fest, dass ihre Abschiebung nach Italien zulässig sei.
3 Mit Erkenntnis vom 23. Februar 2018 wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) die dagegen erhobene Beschwerde der Revisionswerberin als unbegründet ab und erklärte die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
4 In weiterer Folge tauchte die Revisionswerberin unter. Eine Überstellung nach Italien erfolgte nicht.
5 Am 11. Oktober 2021 stellte die Revisionswerberin einen Folgeantrag auf internationalen Schutz, den sie im Wesentlichen erneut mit Angst vor Blutrache begründete. Zudem brachte sie vor, zwangsverheiratet worden zu sein.
6 Mit Bescheid vom 2. Jänner 2023 wie das BFA diesen Folgeantrag ab, erteilte der Revisionswerberin keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß § 57 AsylG 2005, erließ gegen sie eine Rückkehrentscheidung, stellte fest, dass ihre Abschiebung in die Russische Föderation zulässig sei, und legte eine Frist für die freiwillige Ausreise fest.
7 Die dagegen erhobene Beschwerde wies das BVwG mit dem angefochtenen Erkenntnis nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor einem Richter männlichen Geschlechts als unbegründet ab und sprach aus, dass die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen hat:
9 Die Revision bringt zur Begründung ihrer Zulässigkeit unter anderem vor, es liege eine Verletzung des § 20 AsylG 2005 vor, weil die Revisionswerberin vorgebracht habe, zwangsverheiratet worden zu sein. Dabei handle es sich zweifellos um einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung. Das Verfahren hätte ab diesem Zeitpunkt nur noch von Personen des gleichen Geschlechts geführt werden dürfen. Das BVwG sei aus diesem Grund zur Verhandlung und Entscheidung über die Beschwerde der Revisionswerberin nicht zuständig gewesen.
10 Die Revision ist im Hinblick auf dieses Vorbringen zulässig und auch begründet.
11 Gründet ein Asylwerber seine Furcht vor Verfolgung (Art. 1 Abschnitt A Z 2 der Genfer Flüchtlingskonvention) auf Eingriffe in seine sexuelle Selbstbestimmung, ist er gemäß § 20 Abs. 1 AsylG 2005 von einem Organwalter desselben Geschlechts einzuvernehmen, es sei denn, dass er anderes verlangt. Von dem Bestehen dieser Möglichkeit ist der Asylwerber nachweislich in Kenntnis zu setzen. Für Verfahren vor dem Bundesverwaltungsgericht gilt § 20 Abs. 1 AsylG 2005 nur, wenn der Asylwerber den Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung bereits vor dem Bundesamt oder in der Beschwerde behauptet hat. Diesfalls ist eine Verhandlung von einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat durchzuführen. Ein Verlangen nach Abs. 1 ist spätestens gleichzeitig mit der Beschwerde zu stellen (§ 20 Abs. 2 AsylG 2005).
12 Verfahren über Folgeanträge sind von der Bestimmung des § 20 Abs. 1 und 2 AsylG 2005 nicht ausgenommen (vgl. VfGH 9.10.2018, E 1297/2018). Nach seinem insoweit nicht differenzierenden Wortlaut gelangt § 20 Abs. 2 AsylG 2005 in allen Verfahren vor dem BVwG zur Anwendung. Eine Unterscheidung zwischen verschiedenen Beschwerdeverfahren nach ihrem Gegenstand, welche eine Ausnahme von Verfahren über Beschwerden gegen die Zurückweisung eines Folgeantrags wegen entschiedener Sache von ihrem Anwendungsbereich begründen könnte, sieht diese Bestimmung nicht vor. Der Verwaltungsgerichtshof hat sich schon in anderem Zusammenhang für die Abgrenzung des Anwendungsbereiches des § 20 AsylG 2005 im Asylverfahren am Wortlaut dieser Bestimmung orientiert (vgl. VwGH 26.5.2021, Ro 2020/19/0002, mwN).
13 Der Verwaltungsgerichtshof hat unter Bezugnahme auf die Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes bereits ausgeführt, dass die Verhandlungsführung gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 schon dann durch Personen desselben Geschlechts durchzuführen ist, wenn die Flucht aus dem Heimatstaat nicht mit bereits stattgefundenen, sondern mit Furcht vor sexuellen Übergriffen begründet wurde (vgl. VwGH 19.5.2022, Ra 2021/19/0325; VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007; VwGH 27.6.2016, Ra 2014/18/0161, jeweils mwN; VfGH 9.10.2018, E 1297/2018; zum Fall des Eingriffs in die sexuelle Selbstbestimmung durch [drohende] Zwangsverheiratung VfGH 29.11.2021, E 2865/2021; VfGH 18.9.2015, E 1003/2014, jeweils mwN).
14 Nach dem Zweck des § 20 Abs. 2 AsylG 2005 soll die Durchführung der mündlichen Verhandlung durch einen Richter desselben Geschlechts den Abbau von Hemmschwellen bei der Schilderung von Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung bewirken. Gleiches gilt für die Furcht vor Eingriffen in die sexuelle Selbstbestimmung (vgl. erneut VwGH 19.5.2022, Ra 2021/19/0325; VwGH 26.5.2021, Ro 2020/19/0002; jeweils mwN).
15 Soweit § 20 Abs. 2 AsylG 2005 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung abstellt, hat bereits der Verfassungsgerichtshof klargestellt, dass eine Rechtssache, in der ein Asylwerber einen Eingriff in seine sexuelle Selbstbestimmung spätestens in der Beschwerde geltend macht, gleich bei Beschwerdeanfall und nicht erst dann, wenn sich nach dessen Prüfung die Durchführung einer mündlichen Verhandlung als notwendig erweist, einem Einzelrichter desselben Geschlechts oder einem aus Richtern desselben Geschlechts bestehenden Senat zur Behandlung zuzuweisen ist, sofern der Asylwerber nicht anderes verlangt. Andernfalls würde nämlich der ursprünglich zuständige Richter eine inhaltliche Entscheidung treffen, die nach der verfassungsrechtlich zutreffenden Festlegung des Gesetzgebers nur das entsprechend der Behauptung des Asylwerbers betreffend einen Eingriff in die sexuelle Selbstbestimmung von Anfang an richtig zusammengesetzte Organ des BVwG treffen darf. Die Zuständigkeit wird also bereits durch die entsprechende Behauptung vor dem BFA oder in der Beschwerde begründet, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit zu erfolgen hätte oder bereits ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen herzustellen wäre (vgl. VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007, mit Verweis auf VfGH 9.10.2018, E 1297/2018 ua).
16 Im vorliegenden Fall brachte die Revisionswerberin sowohl in ihrer Einvernahme vor dem BFA, als auch in ihrer Stellungnahme an das BFA vom 16. Dezember 2022 somit noch vor Beschwerdeerhebung vor, dass sie von ihrer Familie mehrfach zwangsverheiratet worden sei. Sie befürchte, aufgrund einer Beziehung zu einem Mann, den sie habe heiraten wollen, von ihrer Familie umgebracht zu werden. Die Revisionswerberin begründete mit diesem Vorbringen ihre Furcht vor Verfolgung der Sache nach mit erfolgten Eingriffen in ihre sexuelle Selbstbestimmung.
17 In der mündlichen Verhandlung vor dem BVwG wiederholte die Revisionswerberin ihr Vorbringen der im Herkunftsstaat erfolgten Zwangsverheiratung. Da die Zuständigkeit des BVwG aber bereits durch die entsprechende Behauptung der Revisionswerberin vor dem BFA begründet wurde, ohne dass dabei eine nähere Prüfung der Glaubwürdigkeit oder ein Zusammenhang mit dem konkreten Fluchtvorbringen zu erfolgen hatte (vgl. VwGH 13.2.2020, Ro 2019/01/0007, VfGH 29.11.2021, E 2865/2021), kommt dem Umstand keine Bedeutung zu, dass der erkennende Richter des BVwG dieses Vorbringen als unglaubwürdig gewertet hat.
18 Es ist auch nicht ersichtlich, dass die Revisionswerberin verlangt hätte, von einem Richter des anderen Geschlechts einvernommen zu werden. Die Beschwerde der Revisionswerberin hätte daher gemäß § 20 Abs. 2 AsylG 2005 einer Richterin desselben Geschlechts zugewiesen werden müssen.
19 Da das BVwG somit nicht in der nach § 20 Abs. 2 AsylG 2005 vorgeschriebenen Besetzung entschieden hat, war das angefochtene Erkenntnis schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 2 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Unzuständigkeit des Verwaltungsgerichts aufzuheben.
20 Von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 2 VwGG abgesehen werden.
21 Der Ausspruch über den Aufwandersatz gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG iVm der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 18. Jänner 2024
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