Rückverweise
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed, die Hofräte Dr. Sutter und Mag. Tolar sowie die Hofrätinnen Dr. in Gröger und Dr. in Sabetzer als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Amesberger, über die Revision des K A, vertreten durch Mag. Emanuel Boesch, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Franz Josefs Kai 47, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 15. Juni 2023, W187 2261127 1/6E, betreffend eine Asylangelegenheit (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von EUR 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatenloser palästinensischer Herkunft, stellte am 22. Dezember 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz in Österreich. Er brachte zusammengefasst vor, in Damaskus/Syrien geboren und aufgewachsen zu sein. Nach dem Ausbruch des Bürgerkriegs in Syrien sei er im Jahr 2013 in den Libanon gereist und dort acht Jahre lang geblieben, ehe er von dort im Jahr 2021 die Flucht nach Europa angetreten habe. Nach Syrien wolle er nicht zurück, denn ihm drohe dort der Militärdienst. Den Libanon, wo er (auch) Unterstützung von UNRWA erhalten habe, habe er verlassen, weil er als Palästinenser diskriminiert worden sei. Man habe ihn nicht mehr im Land haben wollen.
2 Mit Bescheid vom 19. September 2022 erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) dem Revisionswerber wegen des anhaltenden Bürgerkriegs in Syrien subsidiären Schutz zu und erteilte ihm eine befristete Aufenthaltsberechtigung. Den Antrag auf Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten wies das BFA hingegen ab, weil der Revisionswerber eine asylrelevante Bedrohung in Syrien nicht glaubhaft gemacht habe.
3 Die dagegen erhobene Beschwerde des Revisionswerbers wies das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit dem angefochtenen Erkenntnis „gemäß § 3 Abs 1 AsylG 2005 in Verbindung mit Art 12 Abs 1 lit a der Richtlinie 2011/95/EU vom 13. Dezember 2011“ als unbegründet ab und erklärte die Revision für nicht zulässig.
4 Es stellte fest, dass der Revisionswerber ein staatenloser Palästinenser sei, der in Damaskus/Syrien geboren worden und dort aufgewachsen sei. Im Jahr 2013 sei er vor einer potentiellen Zwangsrekrutierung in den Libanon in ein Flüchtlingslager im Verwaltungssprengel der Stadt Baalbek geflüchtet. Er sei beim Hilfswerk der Vereinten Nationen für palästinensische Flüchtlinge (UNRWA) in Syrien registriert worden. Im Libanon habe er tatsächliche Leistungen von UNRWA erhalten und auch eine Arbeitsgenehmigung gehabt. Der Revisionswerber habe im Libanon „keine Probleme wegen seiner Religion, Blutfehden, Sippenhaftung oder Racheakten“ gehabt. Er sei im Libanon nie inhaftiert gewesen und habe keine Probleme mit Behörden im Libanon darlegen können. Im Jahr 2021 sei der Revisionswerber einmal wegen seiner Herkunft von unbekannten Männern angegriffen und geschlagen worden. Aufgrund der dadurch verursachten (Gesamt )Unzufriedenheit habe er nicht mehr im Libanon bleiben wollen und sei nach Europa gereist.
5 Im Folgenden traf das BVwG umfangreiche Länderfeststellungen zur Lage in Syrien, insbesondere zur Lage der dort lebenden Palästinenser (einschließlich der Leistungen von UNRWA im Rahmen ihrer Zugangsmöglichkeiten). Zur Lage der Palästinenser im Libanon wurden keine entsprechenden Feststellungen getroffen.
6 Rechtlich folgerte das BVwG, es sei zu prüfen, ob der Revisionswerber im Sinn des Art. 12 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen sei oder er ipso facto Schutz erhalten müsse, weil er unter dem Schutz von UNRWA gestanden sei und dieser Beistand aus „irgendeinem Grund“ weggefallen sei. Der Revisionswerber habe durch die Vorlage seiner „UNRWA Family Registration Card“ und durch Vorbringen in der mündlichen Verhandlung glaubhaft machen können, dass er als bei UNRWA registrierter palästinensischer Flüchtling unter dem Schutz und Beistand von UNRWA gestanden sei und die Hilfe von UNRWA tatsächlich in Anspruch genommen habe. Er habe sich ca. acht Jahre im Libanon aufgehalten und dort keine Probleme mit den zuständigen Behörden gehabt; insbesondere sei er nie inhaftiert worden. Anzeichen für unregelmäßige Leistungserbringungen oder Leistungseinschränkungen durch UNRWA seien nicht hervorgekommen. Er habe außerdem eine aufrechte Arbeitsgenehmigung gehabt. Eine persönlich sehr unsichere Lage oder mangelnde Lebensverhältnisse ließen sich daraus nicht ableiten. Ein Vorbringen in diese Richtung sei auch nicht erstattet worden. Der Revisionswerber sei einmal in acht Jahren von unbekannten maskierten Personen wegen seiner Herkunft angegriffen und geschlagen worden. Aufgrund der dadurch verursachten (Gesamt )Unzufriedenheit habe er nicht länger im Libanon bleiben wollen und sei nach Europa gereist. Als Grund für die Asylantragstellung in Österreich sei immer nur der syrische Bürgerkrieg und der Einzug zum syrischen Militärdienst angegeben worden. Die Lebensumstände im Libanon seien vor dem BFA nicht einmal ansatzweise thematisiert worden. Nach Ansicht des BVwG sei die Ausschlussklausel damit weiterhin anzuwenden. Sowohl die Voraussetzungen für eine Asylgewährung als auch „ipso facto“ Schutz lägen nicht vor und die Beschwerde sei daher abzuweisen.
7 Dagegen wendet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die (u.a.) geltend macht, dass die angefochtene Entscheidung keine Feststellungen zur aktuellen Lage palästinensischer Flüchtlinge im Libanon und zur konkreten Möglichkeit einer Rückkehr in ein Operationsgebiet des UNRWA enthalte. Der Revisionswerber habe bereits in seiner Beschwerde umfassendes Vorbringen zu diesen Themen erstattet und auf eine Vielzahl von Länderberichten verwiesen, die das BVwG in seiner Entscheidung vollkommen unberücksichtigt gelassen habe. Aufgrund dieser Länderberichte hätte das BVwG zum Ergebnis gelangen müssen, dass die Lage für palästinensische Flüchtlinge im Libanon prekär sei. Die Bedingungen in den Lagern von UNRWA seien sehr schlecht und durch Überbelegung, schlechte Wohnverhältnisse, Arbeitslosigkeit und Armut gekennzeichnet. Die Haltung der libanesischen Regierung gegenüber Staatenlosen palästinensischer Herkunft habe sich in den letzten Jahren drastisch geändert und es komme deren Absicht zum Ausdruck, die Anwesenheit dieser Bevölkerungsgruppe im libanesischen Staatsgebiet nicht länger zu dulden. Vor diesem Hintergrund habe das BVwG nicht davon ausgehen dürfen, dass der Revisionswerber den Libanon aufgrund einer „(Gesamt )Unzufriedenheit“ verlassen habe, sondern vielmehr aufgrund der eingetretenen sehr unsicheren persönlichen Lage, in welcher es auch dem UNRWA unmöglich gewesen sei, ihm dort entsprechende Lebensverhältnisse zu gewährleisten. Der Wegzug des Revisionswerbers aus dem Mandatsgebiet von UNRWA sei durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt gewesen.
8 Das BFA hat zu dieser Revision keine Revisionsbeantwortung erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
9 Der Revisionsfall wirft grundsätzliche Rechtsfragen der Behandlung von Asylanträgen palästinensischer Asylwerbender im Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D der Genfer Flüchtlingskonvention (GFK) auf, die vom BFA nicht erkannt und vom BVwG wie im Folgenden zu zeigen sein wird nur unzureichend behandelt wurden. Die Revision erweist sich daher zur weiteren Klarstellung der Rechtslage als zulässig; sie ist auch begründet.
10 Gemäß § 6 Abs. 1 Z 1 Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) ist ein Fremder von der Zuerkennung des Status eines Asylberechtigten ausgeschlossen, wenn und solange er Schutz gemäß Art. 1 Abschnitt D GFK genießt.
11 Nach Art. 1 Abschnitt D GFK findet dieses Abkommen auf Personen keine Anwendung, die derzeit von anderen Organen oder Organisationen der Vereinten Nationen als dem Hochkommissär der Vereinten Nationen für Flüchtlinge Schutz oder Hilfe erhalten. Wenn dieser Schutz oder diese Hilfe aus irgendeinem Grunde wegfällt, ohne dass die Stellung dieser Personen gemäß den bezüglichen Beschlüssen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geregelt ist, so werden diese Personen ipso facto der Vorteile dieses Abkommens teilhaftig.
12 Art. 12 Abs. 1 lit. a der Richtlinie 2011/95/EU (Statusrichtlinie) sieht vor, dass ein Drittstaatsangehöriger oder ein Staatenloser von der Anerkennung als Flüchtling ausgeschlossen ist, wenn er den Schutz oder Beistand einer Organisation oder einer Institution der Vereinten Nationen mit Ausnahme des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Flüchtlinge gemäß Art. 1 Abschnitt D GFK genießt. Wird ein solcher Schutz oder Beistand aus irgendeinem Grund nicht länger gewährt, ohne dass die Lage des Betroffenen gemäß den einschlägigen Resolutionen der Generalversammlung der Vereinten Nationen endgültig geklärt worden ist, genießt er ipso facto den Schutz dieser Richtlinie.
13 Das Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästinaflüchtlinge im Nahen Osten (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East UNRWA) ist eine Organisation der Vereinten Nationen, die gegründet wurde, um Palästinenser als „Palästinaflüchtlinge“ zu schützen und ihnen beizustehen. Sein Mandat erstreckt sich auf ein Einsatzgebiet mit fünf Operationsgebieten, nämlich dem Gazastreifen, dem Westjordanland (einschließlich Ostjerusalems), Jordanien, dem Libanon und Syrien (vgl. etwa EuGH 5.10.2023, C 294/22, Rs. OFPRA gegen SW, Rn. 27). Das Mandat des UNRWA wurde sukzessive verlängert und besteht aktuell noch bis zum 30. Juni 2026 (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts 11.1.2024, C 563/22, Rs. SN und LN, Rn. 1, unter Hinweis auf die Resolution Nr. 77/123 der Generalversammlung der Vereinten Nationen vom 12. Dezember 2022).
14 Der Revisionswerber ist nach den insoweit unbestrittenen Feststellungen im angefochtenen Erkenntnis bei UNRWA einer Organisation der Vereinten Nationen im Sinne des Art. 1 Abschnitt D GFK als Flüchtling registriert und hat dessen Leistungen vor seiner Flucht auch tatsächlich in Anspruch genommen.
15 Damit fällt der Revisionswerber in den Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D GFK, für den § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 einen Asylausschlussgrund vorsieht. Dieser greift aber nur solange, als der Schutz oder Beistand von UNRWA nicht weggefallen ist. Ist vom „Wegfall“ des Schutzes im Sinne von Art. 1 Abschnitt D GFK (bzw. Art. 12 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie) auszugehen, ist den Asylwerbern ipso facto Asyl zuzuerkennen. Eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat muss hingegen nicht glaubhaft gemacht werden (vgl. dazu etwa VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0274, mwN).
16 Ausgehend davon erweist es sich als rechtlich unzureichend, wenn sich das BFA fallbezogen darauf beschränkte, eine asylrelevante Verfolgung des Revisionswerbers im angenommenen Herkunftsstaat Syrien (vgl. dazu die Legaldefinition des Herkunftsstaates für Staatenlose in § 2 Abs. 1 Z 17 AsylG 2005) zu verneinen. Entscheidungsrelevant war hingegen, ob der Revisionswerber, der gemäß § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 (in Verbindung mit Art. 1 Abschnitt D GFK) von der Asylgewährung ausgeschlossen wäre, deshalb ipso facto Asyl bekommen muss, weil der Schutz oder Beistand von UNRWA weggefallen ist.
17 Das BVwG erkannte diese Problematik zwar, führte die Prüfung jedoch wie im Folgenden zu zeigen sein wird nur unzureichend durch. Abgesehen davon formulierte es den Spruch seiner Entscheidung unter gänzlicher Außerachtlassung des § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005, bezog sich hinsichtlich der angewendeten Normen auf Art. 12 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie und erweckte so den unrichtigen Eindruck, die zitierte Norm der Statusrichtlinie müsse hier zur Gänze unmittelbar angewendet werden (zur unmittelbaren Anwendbarkeit des Art. 12 Abs. 1 lit. a zweiter Satz Statusrichtlinie bei Gewährung von ipso facto Asyl vgl. hingegen erneut VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0274).
18 Im gegenständlichen Fall ist somit entscheidungswesentlich, ob der Schutz oder Beistand von UNRWA für den Revisionswerber weggefallen ist.
19 Der Wegfall des Beistandes von UNRWA erfordert die Prüfung, ob der Wegzug des Asylwerbers durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebietes gezwungen haben und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen (vgl. etwa VwGH 5.12.2022, Ra 2022/18/0179, mwN).
20 Ein Zwang, das Einsatzgebiet von UNRWA zu verlassen, und somit ein Wegfall des Schutzes von UNRWA, hängt wie bereits erwähnt nicht vom Vorliegen individueller Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A GFK ab, sondern ist vielmehr auch gegeben, wenn sich die betroffene Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es UNRWA unmöglich ist, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen (vgl. EuGH 19.12.2012, Rs. El Kott, C 364/11, Rn. 63, 65). Eine in Folge bewaffneter Konflikte entstandene unzureichende Versorgungslage stellt folglich einen nicht vom Revisionswerber zu kontrollierenden und von seinem Willen unabhängigen Grund für seinen Wegzug dar. Sie ist damit auch als Grund für den Wegfall des Schutzes oder Beistandes von UNRWA anzusehen, der zur ipso facto Zuerkennung von Asyl führen muss (vgl. erneut VwGH 23.1.2018, Ra 2017/18/0274, mit Hinweis auf EuGH C 364/11).
21 Wie der EuGH im Urteil vom 13. Jänner 2021, C 507/19, Rs. Bundesrepublik gegen XT, klargestellt hat, sind zur Feststellung, ob der Schutz oder Beistand von UNRWA nicht länger gewährt wird, alle Operationsgebiete des Einsatzgebietes des UNRWA zu berücksichtigen. Gleichzeitig betonte der EuGH in dieser Entscheidung, dass die Registrierung bei UNRWA für den Betroffenen keinen Anspruch darauf begründet, in das Einsatzgebiet dieser Organisation einzureisen oder sich innerhalb dieses Einsatzgebietes zu bewegen, indem er von einem Einsatzgebiet in ein anderes reist. Das UNRWA verfüge nämlich nicht über die Befugnis, Staatenlosen palästinensischer Herkunft den Zugang zu den Gebieten der fünf Operationsgebiete seines Einsatzgebietes zu erlauben, da die Gebiete zu verschiedenen Staaten oder autonomen Gebieten gehören. Daher müssen die Asylbehörden und das Gericht, bei dem ein Rechtsbehelf gegen deren Entscheidung anhängig ist, alle maßgeblichen Umstände des fraglichen Sachverhalts berücksichtigten, die Aufschluss über die Frage geben können, ob der betreffende Staatenlose palästinensischer Herkunft in dem Zeitpunkt, in dem er aus dem Einsatzgebiet des UNRWA ausreiste, die konkrete Möglichkeit hatte, in eines der fünf Operationsgebiete des Einsatzgebietes von UNRWA einzureisen, um dort den Schutz oder Beistand dieser Organisation in Anspruch zu nehmen (Rn. 58 f). Auch zu einer weiteren Rechtsfrage äußerte sich der EuGH in dieser Entscheidung: Verlässt ein Staatenloser palästinensischer Herkunft freiwillig ein Operationsgebiet des UNRWA, in dem er sich nicht in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befunden hat, obwohl er aufgrund ihm vorliegender konkreter Informationen vernünftigerweise nicht damit rechnen kann, in absehbarer Zeit wieder in das Operationsgebiet zurückkehren zu können, ist nicht davon auszugehen, dass der Schutz oder Beistand von UNRWA weggefallen ist, und es ist ihm kein Asylstatus zu gewähren (Rn. 80).
22 Abgesehen davon hat eine Beurteilung individuell aufgrund aller maßgeblichen Anhaltspunkte oder Faktoren des fraglichen Sachverhalts zu erfolgen, wie er sich zum Zeitpunkt des Wegzugs des betroffenen Asylwerbers aus dem UNRWA Einsatzgebiet darstellt, wobei auch die Umstände zu berücksichtigen sind, die zu dem Zeitpunkt gegeben sind, zu dem die zuständige Verwaltungsbehörde ihre Entscheidung über den Antrag der betroffenen Person auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft erlassen hat oder die zuständigen Gerichte über den Rechtsbehelf gegen eine die Anerkennung als Flüchtling versagende Entscheidung entscheiden (vgl. EuGH 3.3.2022, C 349/20, Rs. NB und AB, Rn. 53, mwN).
23 Werden diese Rechtsgrundsätze auf den vorliegenden Fall angewandt, so ist zunächst festzuhalten, dass der Revisionswerber ähnlich jenem Fall, der dem zitierten Urteil des EuGH C 507/19 zugrunde lag im Operationsgebiet des UNRWA in Syrien aufgewachsen ist und zuletzt mehrere Jahre im Operationsgebiet von UNRWA im Libanon aufhältig war, ehe er die Flucht nach Europa antrat.
24 Dass es dem Revisionswerber zum Zeitpunkt dieser Flucht aus dem Libanon möglich gewesen wäre, (wieder) Schutz oder Beistand von UNRWA in Syrien zu erlangen, hat das BVwG nicht angenommen. Dem stünden auch die getroffenen Länderfeststellungen zur Lage Staatenloser palästinensischer Herkunft in Syrien, der anhaltende Bürgerkrieg und der wegen der instabilen Sicherheitslage teilrechtskräftig gewährte subsidiäre Schutzstatus in Bezug auf Syrien entgegen. Die drei anderen Operationsgebiete von UNRWA (in Jordanien, im Westjordanland und in Gaza) standen im Verfahren als Zufluchtsorte nicht in Rede.
25 Insoweit erweist es sich als richtig, wenn das BVwG in seiner rechtlichen Beurteilung die Frage aufwarf, ob der Revisionswerber gezwungen war, das Operationsgebiet von UNRWA im Libanon, wo er sich tatsächlich aufhielt, zu verlassen. Nicht nachvollziehbar ist hingegen, dass diese Beurteilung ohne entsprechende Länderfeststellungen zur Lage im Libanon erfolgte, obwohl in der Beschwerde, wie die Revision zutreffend geltend macht, diesbezüglich umfassendes Vorbringen erstattet und darauf hingewiesen worden war, dass in den näher genannten Länderberichten eine „sehr schlechte Lage“ in Bezug auf die Flüchtlingslager von UNRWA im Libanon gezeichnet werde bzw. die (Wieder )Einreise in den Libanon für palästinensische Flüchtlinge im Zeitpunkt der Ausreise des Revisionswerbers „de facto nicht möglich“ gewesen sei.
26 Sollten dem BVwG derartige Feststellungen nicht erforderlich erschienen sein, weil es davon ausging, dass der Revisionswerber kein Vorbringen erstattet habe, aus dem auf „eine persönlich sehr unsichere Lage oder mangelnde Lebensverhältnisse“ bzw. auf „Anzeichen für unregelmäßige Leistungserbringungen oder Leistungseinschränkungen durch die UNRWA“ geschlossen werden könne, setzt es sich unzulässig über das oben dargestellte Beschwerdevorbringen hinweg. Auch die weitere Überlegung, der Revisionswerber habe die Lebensumstände im Libanon vor dem BFA nicht einmal ansatzweise thematisiert, trifft nicht zu, hat er dort auf die Frage, weshalb er nicht im Libanon geblieben sei, doch (zumindest) angeführt, es habe im Libanon „ein Problem“ gegeben, er sei nicht in Ruhe gelassen und diskriminiert worden, weil er Palästinenser sei, bzw. habe man ihn „nicht mehr in diesem Land haben“ wollen. Das BVwG zieht auch nicht in Zweifel, dass der unmittelbare Anlass für die Ausreise ein körperlicher Übergriff von Maskierten auf den Revisionswerber gewesen sei; ob ihm weitere derartige Angriffe drohen konnten und er dagegen Schutz finden hätte können, wird vom BVwG nicht weiter überprüft.
27 Aus diesen Gründen ist die Einschätzung des BVwG, der Schutz oder Beistand von UNWRA für den Revisionswerber im Operationsgebiet im Libanon sei im Zeitpunkt seiner Ausreise nicht weggefallen gewesen, nicht hinreichend begründet und nicht durch entsprechende Feststellungen insbesondere zur Lage Staatenloser palästinensischer Herkunft im Libanon gedeckt.
28 Auch lässt sich auf der Grundlage der getroffenen Feststellungen nicht abschließend beurteilen, ob unter der Annahme, dass der Revisionswerber in diesem Operationsgebiet den Schutz oder Beistand von UNRWA nicht verloren hat eine Wiedereinreise in dieses Gebiet für ihn möglich wäre (was von der Revision bestritten wird); wenn nein, ob dieser Umstand für ihn bei der Ausreise vernünftigerweise vorhersehbar war und er sich entsprechend der in Rn. 21 zitierten Rechtsprechung des EuGH freiwillig des Schutzes oder Beistands von UNRWA begeben hat.
29 Das angefochtene Erkenntnis war daher wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben.
30 Von der beantragten mündlichen Verhandlung konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 VwGG abgesehen werden.
31 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 1. Februar 2024