Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Mag. Nedwed sowie die Hofrätin Dr. in Sembacher, die Hofräte Mag. Marzi, Mag. Schartner, Bakk., und die Hofrätin Mag. Dr. Kusznier als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Dr. in Zeitfogel, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl gegen die am 7. Mai 2024 mündlich verkündeten und am 29. Mai 2024 schriftlich ausgefertigten Erkenntnisse des Bundesverwaltungsgerichts zu 1. L516 2287920 1/12E, 2. L516 2287927 1/11E, 3. L516 2287925 1/10E und 4. L516 2287926 1/10E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (mitbeteiligte Parteien: 1. O A, 2. S A, 3. mj. L A und 4. mj. Z A, der Dritt und die Viertmitbeteiligte vertreten durch den Erstmitbeteiligten), zu Recht erkannt:
Die angefochtenen Erkenntnisse werden wegen Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes aufgehoben.
1 Die mitbeteiligten Parteien sind eine Familie palästinensischer Volksgruppenzugehörigkeit; der Erst und die Zweitmitbeteiligte sind Ehepartner, der Dritt und die Viertmitbeteiligte ihre minderjährigen Kinder. Die Zweitmitbeteiligte ist jordanische Staatsangehörige, alle anderen mitbeteiligten Parteien sind staatenlos. Sie lebten vor ihrer Flucht in Jordanien.
2 Alle mitbeteiligten Parteien stellten am 28. September 2022 Anträge auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005) und begründeten diese im Wesentlichen mit dem in Jordanien herrschenden Rassismus gegenüber Staatenlosen palästinensischer Abstammung, den mangelnden Rechten und der daraus resultierenden Perspektivlosigkeit. Die mitbeteiligten Parteien seien zwar bei UNRWA registriert, würden von UNRWA aber trotzdem keine (ausreichende) Unterstützung erhalten und seien deshalb gezwungen gewesen, Jordanien zu verlassen.
3 Diese Anträge wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Bescheiden vom 31. Januar 2024 in Bezug auf den begehrten Asylstatus jeweils gemäß § 3 Abs. 3 Z 2 iVm § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 ab. Auch subsidiärer Schutz in Bezug auf ihren Herkunftsstaat Jordanien oder ein Aufenthaltstitel gemäß § 57 AsylG 2005 wurde ihnen nicht gewährt. Unter einem erließ das BFA gegen sie Rückkehrentscheidungen und stellte jeweils fest, dass ihre Abschiebung nach Jordanien zulässig sei. Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA jeweils mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest.
4 Mit den angefochtenen Erkenntnissen gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) den gegen diese Bescheide erhobenen Beschwerden der mitbeteiligten Parteien nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung statt. Es erkannte den dritt- und viertmitbeteiligten Parteien (erkennbar gemeint: ipso facto) den Status von Asylberechtigten zu. Hinsichtlich des Erst und der Zweitmitbeteiligten gewährte es Asyl im Familienverfahren zu ihren minderjährigen Kindern. Die Revision erklärte es gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG für nicht zulässig.
5 In seiner Begründung ging das BVwG erkennbar davon aus, dass alle mitbeteiligten Parteien dem Anwendungsbereich des Art. 1 Abschnitt D GFK unterlägen. In Bezug auf die minderjährigen dritt- und viertmitbeteiligten Parteien lägen jedoch nach Auffassung des BVwG objektive Gründe dafür vor, dass sie in den Geltungsbereich des zweiten Satzes von Art. 1 Abschnitt D GFK fielen und ihnen ipso facto Asyl zu gewähren sei. Unter Bezugnahme auf die „UNHCR Richtlinien zum internationalen Schutz Nr. 13: Die Anwendbarkeit von Art. 1 Abschnitt D GFK“ führte das BVwG aus, objektive Gründe für den Wegfall von Schutz oder Beistand durch UNRWA könnten auch systematische und anhaltende Diskriminierungen der Betroffenen darstellen. Solche „schweren Diskriminierungen“ seitens des jordanischen Staates, die nach Auffassung des BVwG sogar den Grad asylrechtlicher Verfolgung erreichten, sah das BVwG im Falle der dritt und viermitbeteiligten Parteien verwirklicht, weil ihnen die jordanische Staatsbürgerschaft trotz jordanischer Mutter verweigert werde, wodurch sie ihr ganzes Leben lang in hohem Maße benachteiligt seien und eine ernstliche (näher umschriebene) Einschränkung grundlegender bürgerlicher und politischer Rechte vorliege. Den erst und zweitmitbeteiligten Parteien sei Asyl gemäß § 34 Abs. 2 AsylG 2005 zu gewähren.
6 Dagegen richtet sich die vorliegende Amtsrevision, die zu ihrer Zulässigkeit und in der Sache zusammengefasst vorbringt, das BVwG weiche von näher genannter Rechtsprechung zur Begründungspflicht ab, weil es ohne hinreichende Begründung davon ausgegangen sei, dass die dritt und viertmitbeteiligten Parteien aufgrund von schweren, asylrelevante Verfolgung erreichenden Diskriminierungen in Jordanien gezwungen gewesen seien, das Operationsgebiet von UNRWA zu verlassen. So stelle das BVwG beispielsweise eine Diskriminierung der dritt und viertmitbeteiligten Parteien im Zugang zu Bildungseinrichtungen fest, obwohl sie einerseits noch gar nicht schulpflichtig seien und andererseits laut den getroffenen Länderfeststellungen Kinder jordanischer Mütter beim Schulzugang gleichberechtigt mit jordanischen Kindern behandelt würden. Aus diesen Länderfeststellungen ergebe sich auch keine systematische Diskriminierung von Kindern jordanischer Mütter in anderen Bereichen, wie etwa im Gesundheitssystem. Zusammengefasst gehe daraus hervor, dass gewisse Diskriminierungen Staatenloser in Jordanien bestünden, die aber in Bezug auf Kinder jordanischer Frauen keinesfalls eine Intensität erreichten, welche einer asylrelevanten Verfolgung entspräche.
7 Der Verwaltungsgerichtshof führte ein Vorverfahren durch, in welchem die mitbeteiligten Parteien eine Revisionsbeantwortung erstatteten.
Der Verwaltungsgerichtshof hat erwogen:
8 Die Amtsrevision ist zulässig und begründet.
9 Im gegenständlichen Fall ist nicht strittig, dass die mitbeteiligten Parteien in den Anwendungsbereich des Art. 1 Abschntt D GFK fallen, für den § 6 Abs. 1 Z 1 AsylG 2005 einen Asylausschlussgrund vorsieht. Dieser greift aber nur solange, als der Schutz oder Beistand von UNRWA nicht weggefallen ist. Ist vom „Wegfall“ des Schutzes im Sinne von Art. 1 Abschnitt D zweiter Satz GFK (bzw. Art. 12 Abs. 1 lit. a Statusrichtlinie) auszugehen, ist den asylwerbenden Parteien ipso-facto Asyl zuzuerkennen. Eine asylrelevante Verfolgung im Herkunftsstaat muss hingegen nicht glaubhaft gemacht werden. Im vorliegenden Fall ist somit entscheidungswesentlich, ob der Schutz oder Beistand von UNRWA für die mitbeteiligten Parteien weggefallen ist.
10 Der Wegfall des Beistandes von UNRWA erfordert die Prüfung, ob der Wegzug des Asylwerbers durch nicht von ihm zu kontrollierende und von seinem Willen unabhängige Gründe gerechtfertigt ist, die ihn zum Verlassen des Gebietes gezwungen haben und somit daran hindern, den von UNRWA gewährten Beistand zu genießen. Ein Zwang, das Einsatzgebiet von UNRWA zu verlassen, und somit ein Wegfall des Schutzes von UNRWA, hängt wie bereits erwähnt nicht vom Vorliegen individueller Verfolgung im Sinne des Art. 1 Abschnitt A GFK ab, sondern ist vielmehr auch gegeben, wenn sich die betroffene Person in einer sehr unsicheren persönlichen Lage befindet und es UNRWA unmöglich ist, ihr in diesem Gebiet Lebensverhältnisse zu gewährleisten, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang stehen. Diese Beurteilung hat individuell aufgrund aller maßgeblichen Anhaltspunkte oder Faktoren des fraglichen Sachverhalts zu erfolgen (vgl. zum Ganzen VwGH 1.2.2024, Ra 2023/18/0286, mit Hinweisen insbesondere auf die einschlägige Rechtsprechung des EuGH).
11 Das BVwG begründete seine Einschätzung des Wegfalls des Beistandes oder Schutzes von UNRWA nur für die minderjährigen dritt und viertmitbeteiligten Parteien und vermeint dazu, die schweren Diskriminierungen seitens des jordanischen Staates würden sogar die Intensität asylrelevanter Verfolgung erreichen und seien objektive Gründe, die den Wegzug aus Jordanien zur Folge gehabt hätten.
12 Keine Auseinandersetzung enthält das angefochtene Erkenntnis aber mit der entscheidungswesentlichen Frage, ob UNRWA den mitbeteiligten Parteien keinen Schutz oder Beistand im Sinne der oben dargestellten Rechtsprechung (mehr) gewähren kann und die vom BVwG angenommenen Nachteile für die dritt- und viertmitbeteiligten Parteien zumindest so hinreichend kompensieren kann, dass von keiner solchen Situation auszugehen wäre, bei der UNRWA keine Lebensverhältnisse mehr gewährleisten kann, die mit der ihm übertragenen Aufgabe im Einklang steht. Gerade darauf kommt es aber bei der Gewährung von ipso facto Asyl an. Diesem rechtlichen Aspekt wurde vom BVwG offenbar in Verkennung der Rechtslage keine Beachtung geschenkt.
13 Abgesehen davon zeigt die Amtsrevision zutreffend auf, dass die Länderfeststellungen im angefochtenen Erkenntnis, die auf entsprechenden ACCORD Anfragebeantwortungen zu Jordanien beruhen, zwar Nachteile für Kinder jordanischer Mütter und palästinensischer Väter etwa in Bezug auf die aufenthaltsrechtliche Stellung dokumentieren, die systematische, anhaltende und schwere Diskriminierung, welche sogar die Intensität einer asylrelevanten Verfolgung erreichen soll, daraus aber nicht ohne Weiteres ableitbar ist. Hierzu sei nur auf die von der Amtsrevision angesprochenen Beispiele (vgl. Rn. 6) verwiesen, die in die Erwägungen des BVwG keinen Eingang gefunden haben.
14 Das BVwG hat insofern nicht nachvollziehbar dargelegt, dass die (sei es auch nur dritt und viert ) mitbeteiligten Parteien durch nicht von ihnen zu kontrollierende und von ihrem Willen unabhängige Gründe gezwungen waren, das Einsatzgebiet von UNRWA zu verlassen. Damit fehlt aber eine ausreichende Begründung, um ihnen ipso facto Asyl zuzuerkennen.
15 In Bezug auf die erst und zweitmitbeteiligten Parteien stützte sich das BVwG im Übrigen gar nicht auf einen Wegfall des Schutzes oder Beistands von UNRWA, sondern gewährte ihnen Asyl im Familienverfahren nach ihren minderjährigen Kindern. Die unzureichende Begründung für deren Asylgewährung schlägt gemäß § 34 Abs. 4 AsylG 2005 auch auf die erst und zweitmitbeteiligten Parteien durch (vgl. etwa VwGH 18.11.2024, Ra 2023/14/0047, 0048, mwN).
16 Die angefochtenen Erkenntnisse waren daher wegen prävalierend wahrzunehmender Rechtswidrigkeit ihres Inhaltes gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.
Wien, am 2. Juni 2025
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