Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie die Hofrätinnen Mag. Rossmeisel und Dr. in Sembacher als Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Kreil, MA, über die Revision des M M, vertreten durch Mag. Andreas Fritz, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Salztorgasse 1/9, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 29. August 2023, W103 2165054 2/22E, betreffend Angelegenheiten nach dem AsylG 2005 und dem FPG (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger Somalias, stellte am 8. März 2015 als unbegleiteter Minderjähriger einen Antrag auf internationalen Schutz nach dem Asylgesetz 2005 (AsylG 2005), den das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl mit Bescheid vom 16. Juni 2017 hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten als unbegründet abwies und unter einem dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten zuerkannte. Die gegen die Abweisung des Antrags auf Zuerkennung des Status des Asylberechtigten zunächst erhobene Beschwerde zog der Revisionswerber am 27. Juni 2019 im Rahmen der mündlichen Beschwerdeverhandlung zurück.
2 In den Jahren 2017 und 2019 wurde der Revisionswerber wiederholt straffällig.
3 Mit Bescheid vom 15. Oktober 2020 verlängerte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zuletzt die befristete Aufenthaltsberechtigung des Revisionswerbers als subsidiär Schutzberechtigter um weitere zwei Jahre.
4 In den Jahren 2020 und 2021 wurde der Revisionswerber erneut straffällig und das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl leitete ein Aberkennungsverfahren ein.
5 Mit Bescheid vom „2. Juni 2021“, zugestellt am 7. Juli 2021, erkannte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl dem Revisionswerber den Status des subsidiär Schutzberechtigten gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 ab (Spruchpunkt I.), entzog ihm die befristete Aufenthaltsberechtigung gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 (Spruchpunkt II.), erteilte dem Revisionswerber keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen (Spruchpunkt III.), erließ gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 10 Abs. 1 Z 5 AsylG 2005 iVm § 9 BFA VG und § 52 Abs. 2 Z 4 Fremdenpolizeigesetz 2005 (FPG; Spruchpunkt IV.), erklärte die Zurückweisung, Zurückschiebung oder Abschiebung des Revisionswerbers nach Somalia gemäß § 9 Abs. 2 AsylG 2005 iVm § 52 Abs. 9 FPG für unzulässig (Spruchpunkt V.) und setzte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine vierzehntägige Frist für die freiwillige Ausreise fest (Spruchpunkt VI.).
6 Diesen Bescheid begründete das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl zusammengefasst und soweit für das vorliegende Verfahren wesentlich hinsichtlich der Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten mit den bis zum Bescheid vorliegenden fünf Verurteilungen des Revisionswerbers und der daraus resultierenden Straffälligkeit, der unverändert gebliebenen Situation in Somalia und der damit einhergehenden Unzulässigkeit der Abschiebung des Revisionswerbers nach Somalia. Dabei stützte sich das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl auf eine Einsichtnahme ins Strafregister sowie auf im Akt aufliegende Ausfertigungen der Strafurteile.
7 Gegen diesen Bescheid erhob der Revisionswerber Beschwerde an das Bundesverwaltungsgericht, die vom Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl am 11. August 2021 vorgelegt wurde.
8 Im Jahr 2022 wurde der Revisionswerber erneut straffällig.
9 Mit Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 19. September 2022 wurde das Beschwerdeverfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union in der Rechtssache C 663/21 ausgesetzt.
10 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis wies das Bundesverwaltungsgericht ohne Durchführung einer Verhandlung die Beschwerde gegen die Spruchpunkte I., II. und III. als unbegründet ab, gab ihr hinsichtlich der Spruchpunkte IV., V. und VI. statt und behob diese Spruchpunkte ersatzlos (Spruchpunkt A.). Die Erhebung einer Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG erklärte das Bundesverwaltungsgericht für nicht zulässig (Spruchpunkt B.).
11 Seinen Erwägungen legte das Bundesverwaltungsgericht Feststellungen zugrunde, wonach sich die Umstände, die zur Gewährung des subsidiären Schutzes geführt hätten, seit der Verlängerung des Status am 15. Oktober 2020 nicht wesentlich und nachhaltig geändert hätten. Weiters gab es die Geschäftszahlen, Deliktsnormen, Strafhöhe, Entscheidungen über Nachsichten und deren Widerruf zu insgesamt sieben Urteilen den Revisionswerber betreffend wieder und traf genauere Feststellungen zu den Tatumständen der zuletzt im Jahr 2022 begangenen Taten sowie zur Strafbemessung durch das Landesgericht für Strafsachen Graz.
12 Beweiswürdigend verwies das Bundesverwaltungsgericht hinsichtlich der Feststellungen zu den strafgerichtlichen Verurteilungen auf einen Auszug aus dem österreichischen Strafregister sowie auf die im Akt des Bundesverwaltungsgerichts aufliegenden Strafurteile, ohne dies näher auszuführen.
13 Rechtlich begründete das Bundesverwaltungsgericht seine Entscheidung zur Beschwerde über die Aberkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten damit, dass es sich der Ansicht des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl anschließe. Dieses hätte die Aberkennung auf § 9 Abs. 2 Z 2 AsylG 2005 und die durch den Revisionswerber damit verbundene Gefahr für die Allgemeinheit oder die Sicherheit der Republik begründet. Der Revisionswerber sei nunmehr erneut strafgerichtlich verurteilt worden, weshalb sich das Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung auf § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 stütze. Dies könne nach näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht alleine darauf gestützt werden, dass ein Fremder wegen eines Verbrechens verurteilt worden sei. Vielmehr habe eine Einzelfallprüfung stattzufinden, eine Gefährdungsprognose müsse in diesem Zusammenhang aber nicht durchgeführt werden. Sodann würdigte das Bundesverwaltungsgericht die von ihm festgestellten Umstände der Tat, die der Verurteilung im Jahr 2022 zugrunde lagen und kam zu dem Schluss, dass der Revisionswerber den Aberkennungsgrund gemäß § 9 Abs. 2 Z 3 AsylG 2005 verwirklicht habe. Dementsprechend sei gemäß § 9 Abs. 4 AsylG 2005 auch die Beschwerde gegen Entzug der Aufenthaltsberechtigung abzuweisen gewesen, wie auch jene gegen die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen. Der Gerichtshof der Europäischen Union habe mit Urteil vom 6. Juli 2023, C 663/21, ausgesprochen, dass dem Erlass einer Rückkehrentscheidung gegen einen Drittstaatsangehörigen entgegenstehe, wenn feststehe, dass dessen Abschiebung in das vorgesehene Zielland nach dem Grundsatz der Nichtzurückweisung auf unbestimmte Zeit ausgeschlossen sei. Die Abschiebung des Revisionswerbers gemäß § 46 FPG nach Somalia sei unzulässig. Die innerstaatliche Regelung des § 8 Abs. 3a AsylG 2005 erscheine daher ab dem zweiten Satz als unionsrechtswidrig, da die Unzulässigkeit der Abschiebung der Erlassung einer Rückkehrentscheidung entgegenstehe. Das Bundesverwaltungsgericht habe aufgrund der Schranken, denen die unionsrechtskonforme Auslegung des nationalen Rechts unterliege, § 8 Abs. 3a zweiter Satz bzw. § 9 Abs. 2 zweiter Satz AsylG 2005 wegen Unionsrechtswidrigkeit unangewendet zu lassen und die Spruchpunkte IV. und V. des angefochtenen Bescheides aus diesem Grund zu beheben. Die darauf aufbauenden Spruchpunkte verlören ihre Grundlagen und seien ebenfalls zu beheben. Den Entfall der mündlichen Verhandlung begründete das Bundesverwaltungsgericht damit, dass die Beschwerde lediglich unsubstantiiert geblieben sei, der Sachverhalt aus der Aktenlage geklärt sei und die Aufhebung der Spruchpunkte IV. bis VI. sich aus dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 6. Juli 2023, C 663/21, ergebe. Eine mündliche Erörterung lasse keine Klärung der Rechtssache erwarten.
14 Dagegen richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich zur Begründung ihrer Zulässigkeit auf eine Abweichung von der zu § 21 Abs. 7 BFA VG ergangenen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes stützt und dazu vorbringt, das Bundesverwaltungsgericht habe sich darüber hinweggesetzt, indem es sich ausschließlich auf die im Jahr 2022 ergangene Verurteilung des Revisionswerbers bezogen habe, und somit der entscheidungswesentliche Sachverhalt nicht von der belangten Behörde erhoben worden sei. Die vom Bundesverwaltungsgericht seiner Begründung zugrunde gelegte Tat habe sich ebenfalls erst nach der Erlassung des bekämpften Bescheides ereignet. Zudem fehle Rechtsprechung zur Sicherstellung eines effektiven Rechtsschutzes durch Rechtsberater der BBU GmbH im Aberkennungsverfahren im Hinblick auf das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes vom 14. Dezember 2023, G 328 335/2022.
15 Der Verwaltungsgerichtshof führte nach Vorlage der Verfahrensakten ein Vorverfahren durch. Eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
16 Die Revision erweist sich als zulässig. Sie ist auch begründet:
17 Nach der ständigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind zur Beurteilung, ob der Sachverhalt im Sinn des § 21 Abs. 7 BFA VG geklärt erscheint und die Durchführung einer mündlichen Verhandlung nach dieser Bestimmung unterbleiben kann, folgende Kriterien beachtlich:
18 Der für die rechtliche Beurteilung entscheidungswesentliche Sachverhalt muss von der Verwaltungsbehörde vollständig in einem ordnungsgemäßen Ermittlungsverfahren erhoben worden sein und bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichtes immer noch die gesetzlich gebotene Aktualität und Vollständigkeit aufweisen. Die Verwaltungsbehörde muss die die entscheidungsmaßgeblichen Feststellungen tragende Beweiswürdigung in ihrer Entscheidung in gesetzmäßiger Weise offen gelegt haben und das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung teilen. In der Beschwerde darf kein dem Ergebnis des behördlichen Ermittlungsverfahrens entgegenstehender oder darüber hinausgehender für die Beurteilung relevanter Sachverhalt behauptet werden, wobei bloß unsubstantiiertes Bestreiten des von der Verwaltungsbehörde festgestellten Sachverhaltes ebenso außer Betracht bleiben kann wie ein Vorbringen, das gegen das in § 20 BFA VG festgelegte Neuerungsverbot verstößt. Auf verfahrensrechtlich festgelegte Besonderheiten ist bei der Beurteilung Bedacht zu nehmen (vgl. grundlegend VwGH 28.5.2014, Ra 2014/20/0017 und 0018, sowie aus der ständigen Rechtsprechung etwa VwGH 11.4.2023, Ra 2022/14/0343, mwN).
19 Schließt das Bundesverwaltungsgericht sich nicht nur der Beweiswürdigung der Verwaltungsbehörde an, sondern zeigt darüber hinaus in seiner Beweiswürdigung noch weitere bedeutsame Aspekte auf, mit welchen es die Widersprüchlichkeit des Vorbringens begründet, nimmt es damit eine zusätzliche Beweiswürdigung vor, die dazu führt, dass das Bundesverwaltungsgericht die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung nicht bloß unwesentlich ergänzt. Eine solche (ergänzende) Beweiswürdigung hat jedoch regelmäßig erst nach einer mündlichen Verhandlung, in der auch ein persönlicher Eindruck von der betroffenen Person gewonnen werden kann, zu erfolgen (vgl. aus vielen erneut VwGH 11.4.2023, Ra 2022/14/0343, mwN).
20 Das Bundesverwaltungsgericht stützte seine Begründung im vorliegenden Fall ausschließlich auf eine erst während des Beschwerdeverfahrens ergangene Verurteilung des Revisionswerbers, würdigte diese und ergänzte die tragenden Erwägungen der verwaltungsbehördlichen Beweiswürdigung damit, wie die Revision zutreffend aufzeigt, nicht bloß unwesentlich.
21 Sohin lagen die oben dargestellten Voraussetzungen für die Abstandnahme von der Durchführung einer Verhandlung nicht vor.
22 Die Missachtung der Verhandlungspflicht führt im Anwendungsbereich des Art. 6 EMRK und wie hier gegeben des Art. 47 GRC zur Aufhebung wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften, ohne dass die Relevanz dieses Verfahrensmangels geprüft werden müsste (vgl. VwGH 7.11.2022, Ra 2022/14/0048, mwN).
23 Das angefochtene Erkenntnis war daher schon aus diesem Grund gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 VwGG wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen eingegangen werden musste.
24 Von der Durchführung der beantragten Verhandlung konnte bei diesem Ergebnis gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.
25 Die Kostenentscheidung gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 16. Juli 2024