JudikaturVwGH

Ra 2022/21/0130 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
27. April 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des A S, vertreten durch Dr. Gregor Klammer, Rechtsanwalt in 1010 Wien, Singerstraße 6/5, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes vom 19. April 2022, W251 2230595 2/14E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbotes (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der 1988 geborene Revisionswerber ist Staatsangehöriger von Bosnien und Herzegowina. Er heiratete am 20. September 2016 in Österreich eine österreichische Staatsbürgerin. Am 18. August 2021 wurde die gemeinsame Tochter geboren, die ebenfalls österreichische Staatsbürgerin ist.

2 Am 11. Jänner 2017 war dem Revisionswerber ein Aufenthaltstitel „Familienangehöriger“ erteilt worden, der in der Folge wiederholt, zuletzt bis 13. Jänner 2022 verlängert wurde. Am 23. Dezember 2021 hatte er diesbezüglich einen weiteren Verlängerungsantrag gestellt.

3 Am 28. Mai 2019 wurde der Revisionswerber mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien wegen des Verbrechens des Suchtgifthandels gemäß § 28a Abs. 1 fünfter Fall SMG und wegen des Vergehens des unerlaubten Umgangs mit Suchtgiften gemäß § 27 Abs. 1 Z 1 erster und zweiter Fall, Abs. 2 SMG zu einer Freiheitsstrafe von achtzehn Monaten (davon zwölf Monate bedingt nachgesehen) verurteilt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, dass der Revisionswerber am 22. und am 23. Jänner 2019 einem verdeckten Ermittler vorschriftswidrig Heroin und Kokain in einer insgesamt die Grenzmenge übersteigenden Menge überlassen sowie in einem nicht mehr feststellbaren Zeitraum bis zum 23. Jänner 2019 wiederholt Heroin, Kokain und Cannabiskraut ausschließlich zum persönlichen Gebrauch erworben und besessen habe.

4 Der Revisionswerber hat sich deshalb im Zeitraum von 23. Jänner 2019 bis 5. Juli 2019 in Haft befunden.

5 Mit Bescheid vom 30. März 2020 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG samt Nebenaussprüchen sowie ein auf die Dauer von drei Jahren befristetes Einreiseverbot.

6 Einer gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde des Revisionswerbers gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) mit Erkenntnis vom 3. Juni 2020 statt. Begründend wurde zur ersatzlosen Aufhebung der Rückkehrentscheidung und des Einreiseverbotes insbesondere darauf verwiesen, dass in einer Gesamtschau und bei Abwägung aller Umstände das private Interesse des Revisionswerbers an der nicht nur vorübergehenden Fortführung seines Familienlebens höher zu bewerten sei als das öffentliche Interesse an einer aufenthaltsbeendenden Maßnahme. Zwar sei der Revisionswerber strafgerichtlich verurteilt worden, er zeige sich jedoch schuldeinsichtig und übernehme die Verantwortung für sein Handeln. Der Revisionswerber habe bisher einen ordentlichen Lebenswandel gehabt und sein reumütiges Geständnis begründe die Prognose, dass er keine weiteren Straftaten begehen werde.

7 Mit Urteil des Landesgerichtes für Strafsachen Wien vom 1. September 2020 wurde der Revisionswerber dann wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs gemäß § 148a Abs. 1 und 2 erster Fall StGB zu einer bedingten Freiheitsstrafe von zwölf Monaten verurteilt. Die Strafhöhe wurde vom Oberlandesgericht Wien in der Folge auf elf Monate herabgesetzt. Dem Schuldspruch lag zugrunde, der Revisionswerber habe im Zeitraum von Oktober bis Dezember 2019 gemeinsam mit seiner Ehefrau gewerbsmäßig ein Unternehmen dadurch am Vermögen geschädigt, dass sie im Internet mit dem Vorsatz, die Waren nicht zu bezahlen, in zahlreichen Angriffen insgesamt 48 Artikel im Gesamtwert von € 4.615,19 bestellt hätten.

8 Mit Bescheid vom 8. September 2021 erließ das BFA hierauf gegen den Revisionswerber neuerlich eine Rückkehrentscheidung gemäß § 52 Abs. 4 FPG iVm § 9 BFA VG und ein auf die Dauer von vier Jahren befristetes Einreiseverbot gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG, stellte gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass seine Abschiebung nach Bosnien und Herzegowina zulässig sei, und gewährte gemäß § 55 Abs. 1 bis 3 FPG eine Frist von vierzehn Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung für die freiwillige Ausreise.

9 Die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde wies das BVwG nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis vom 19. April 2022 als unbegründet ab. Die Revision erklärte das BVwG für gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig.

10 Begründend verwies das BVwG unter Hinweis auf die den beiden strafgerichtlichen Verurteilungen zugrunde liegenden Straftaten des Revisionswerbers darauf, dass dieser eine schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle. Insbesondere ergebe sich aus der zweiten Verurteilung, dass auch das Verspüren des Haftübels, eine offene Probezeit, ein kurzer Zeitraum nach der ersten Haftentlassung und auch ein laufendes Verfahren über eine Rückkehrentscheidung den Revisionswerber nicht von der Begehung weiterer Straftaten haben abhalten können. Es bestehe daher eine besonders hohe Wiederholungsgefahr.

11 Im Rahmen der nach § 9 BFA VG durchgeführten Interessenabwägung verwies das BVwG zwar darauf, dass die Ehefrau und das minderjährige Kind des Revisionswerbers in Österreich lebten, dieser am Arbeitsmarkt integriert sei, sich Deutschkenntnisse angeeignet habe, freundschaftliche Kontakte bestünden und er Mitglied in einem Basketballverein gewesen sei. Allerdings könne der Revisionswerber den Kontakt zu seiner Ehefrau über moderne Kommunikationsmittel und Besuche aufrecht halten. Die Ehefrau des Revisionswerbers sei bei der Betreuung des gemeinsamen Kindes nicht auf ihn angewiesen; außerdem sei die gemeinsame Tochter ca. acht Monate alt und daher überwiegend von der Mutter abhängig und an dieser orientiert. Im Übrigen hätten auch die persönlichen Bindungen im Bundesgebiet den Revisionswerber nicht davon abzuhalten vermocht, schwerwiegende Delikte im Bereich des Suchtgifthandels zu begehen, wodurch er auch das Risiko einer Trennung von seinen Angehörigen bewusst in Kauf genommen habe. Im Hinblick auf die kurz nach der Entlassung aus der Haft begangene zweite Straftat könne nunmehr nicht von einer geringen Wiederholungsgefahr und davon ausgegangen werden, dass es sich bei der ersten Straftat um einen einmaligen Fehltritt gehandelt habe.

12 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde, erwogen hat:

13 In der Zulässigkeitsbegründung seiner Revision wendet sich der Revisionswerber insbesondere gegen die Gefährdungsprognose des BVwG sowie gegen die durchgeführte Interessenabwägung. Damit erweist sich die Revision entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG als zulässig und auch als berechtigt.

14 Nach ständiger Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ist bei der Gefährdungsprognose das Gesamtverhalten des Fremden in Betracht zu ziehen und aufgrund konkreter Feststellungen eine Beurteilung dahin vorzunehmen, ob und im Hinblick auf welche Umstände die anzuwendende Gefährdungsannahme gerechtfertigt ist. Dabei ist nicht auf die bloße Tatsache einer Verurteilung bzw. Bestrafung des Fremden, sondern auf die Art und Schwere der zu Grunde liegenden Straftaten und auf das sich daraus ergebende Persönlichkeitsbild abzustellen (vgl. das Erkenntnis VwGH 30.11.2020, Ra 2020/21/0355, Rn. 7, mwN).

15 Vorliegend hat das BVwG aber gerade die konkreten Umstände der den Verurteilungen des Revisionswerbers zugrunde liegenden Taten nicht ausreichend festgestellt und folglich auch nicht hinreichend in seine Erwägungen zur Gefährdungsprognose einbezogen. So blieb zur ersten Verurteilung etwa unberücksichtigt, dass der Verurteilung wegen der vorschriftswidrigen Überlassung von Suchtgift in einem die Grenzmenge übersteigenden Umfang wie die Revision zutreffend geltend macht lediglich ein einzelner Vorfall zugrunde lag und der Revisionswerber daran bloß mitwirkte. Auch übersieht das BVwG mit den weiteren Ausführungen zur ersten Verurteilung des Revisionswerbers bei dem Hinweis darauf, dass es sich bei Suchtmitteldelikten um ein besonders verpöntes Fehlverhalten handle und die massive Gefährdung der Gesundheit durch das Überlassen und den Verkauf von Drogen jedenfalls eine hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung und Sicherheit darstelle, dass die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen alleine aufgrund dieser Verurteilung mit Erkenntnis des BVwG vom 3. Juni 2020 für rechtswidrig befunden wurde.

16 Zwar ist es zutreffend, dass zwischenzeitig eine zweite einschlägige, jedoch wegen einer ganz anderen Art von Straftat ergangene Verurteilung des Revisionswerbers wegen des Vergehens des betrügerischen Datenverarbeitungsmissbrauchs gemäß § 148a Abs. 1 und 2 erster Fall StGB erfolgt ist. Auch im Hinblick auf diese zweite Verurteilung hat das BVwG jedoch entgegen der in Rn. 14 erwähnten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes die konkreten, der Verurteilung zugrunde liegenden Umstände nicht hinreichend festgestellt und in seine Beurteilung einbezogen. Das BVwG ließ insoweit außer Acht, dass die Ehefrau des Revisionswerbers in der mündlichen Verhandlung angegeben hatte, dass sie die Mehrzahl der der zweiten Verurteilung zugrunde liegenden Bestellungen getätigt hatte. Ebenso wurde nicht berücksichtigt, dass sich der Revisionswerber und seine Ehefrau bereits vor Anzeigeeinbringung darum bemüht hatten, die Angelegenheit durch die Vereinbarung von Ratenzahlungen zu bereinigen.

17 Diese Feststellungsmängel schlagen auch auf die gemäß § 9 BFA VG durchgeführte Interessenabwägung durch. Ohne nachvollziehbare Gefährdungsprognose lässt sich nicht prüfen, ob das öffentliche Interesse an einer Aufenthaltsbeendigung insbesondere unter Bedachtnahme auf das Kindeswohl eine längerfristige Trennung des Revisionswerbers von seinen Familienangehörigen, die österreichische Staatsbürger sind, rechtfertigt.

18 Das angefochtene Erkenntnis ist daher schon deshalb mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit b und c VwGG aufzuheben war. Von der Durchführung der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 27. April 2023

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