JudikaturVwGH

Ro 2022/10/0004 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
26. Januar 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Grünstäudl sowie die Hofräte Dr. Lukasser und Dr. Hofbauer als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. Derfler, über die Revision der Bildungsdirektion für Wien gegen den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. November 2021, Zl. W203 2248418 1/2E, betreffend Erfüllung der Schulpflicht durch Teilnahme an häuslichem Unterricht (mitbeteiligte Partei: mj. E H, vertreten durch M H und M H, beide in W), zu Recht erkannt:

Spruch

Der angefochtene Beschluss wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Mit Bescheid der Bildungsdirektion für Wien der nunmehrigen Amtsrevisionswerberin vom 24. September 2021 wurde die Teilnahme der im November 2007 geborenen Mitbeteiligten an häuslichem Unterricht im Schuljahr 2021/22 gemäß § 11 Abs. 3 und 4 Schulpflichtgesetz 1985 (SchPflG) untersagt.

2 Zur Begründung führte die Bildungsdirektion im Kern aus, mit Bescheid des Stadtschulrates für Wien vom 17. September 2015 sei gemäß § 11 Abs. 4 SchPflG angeordnet worden, dass die Mitbeteiligte ihre Schulpflicht in einer Schule im Sinne des § 5 SchPflG zu erfüllen habe, dies mit der Begründung, dass der Nachweis über den zureichenden Erfolg betreffend das Schuljahr 2014/15 mangels Absolvierung der vorgesehenen Externistenprüfung nicht erbracht worden sei. Dieser Bescheid sei rechtskräftig. Eine erneute Teilnahme an häuslichem Unterricht sei auch wenn zwischenzeitlich der Schulbesuch in einer öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule erfolgt sei nicht möglich und zu untersagen.

3 Mit dem angefochtenen Beschluss des Bundesverwaltungsgerichtes vom 25. November 2021 wurde über Beschwerde der Mitbeteiligten der Bescheid vom 24. September 2021 gemäß § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG aufgehoben und die Angelegenheit „zur allfälligen Erlassung“ eines neuen Bescheides an die Behörde zurückverwiesen. Weiters wurde ausgesprochen, dass die Revision an den Verwaltungsgerichtshof gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zulässig sei.

4 Begründend führte das Verwaltungsgericht im Wesentlichen aus, es schließe sich der Rechtsansicht der Bildungsdirektion, wonach eine nicht oder nicht erfolgreich abgelegte Externistenprüfung dazu führe, dass für die gesamte verbleibende Dauer der Schulpflicht eine Erfüllung derselben weder durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht noch durch die Teilnahme am Unterricht an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht möglich sei, nicht an. Entgegen der Ansicht der Bildungsdirektion ergebe sich aus dem Wortlaut des § 11 Abs. 4 SchPflG diese Rechtsfolge nicht. Hätte der Gesetzgeber Derartiges beabsichtigt, hätte sich dies wohl in einer anderen Formulierung des § 11 Abs. 4 SchPflG manifestiert, indem etwa vor dem Wort „Schulpflicht“ das Wort „weitere“ oder danach das Wort „fortan“ eingefügt worden wäre. Auch aus den Gesetzesmaterialien (Verweis auf 732 BlgNR 9. GP) lasse sich diese Rechtsfolge nicht zwingend ableiten. Es lasse sich zwar die gesetzgeberische Absicht ableiten, möglichst rasch auf etwaige Unzulänglichkeiten des häuslichen Unterrichts reagieren und somit den Verlust von wertvoller Schul- und Lebenszeit für den betreffenden Schüler hintanhalten zu können, nicht aber der Schluss, dass anstelle der bis dahin nur einmal während der gesamten Schullaufbahn erfolgten Überprüfung hinkünftig eine einmal festgestellte möglicherweise zeitlich befristete Unzulänglichkeit die Möglichkeit der Teilnahme an häuslichem Unterricht dauerhaft ausschließen solle. Vielmehr erscheine aufgrund des Umstandes, dass der Gesetzgeber in § 11 Abs. 4 SchPflG vorsehe, dass der Erfolg jährlich nachzuweisen sei, eine Interpretation dieser Bestimmung dahingehend, dass auch nach einer einmal in der Vergangenheit nicht oder nicht erfolgreich abgelegten Externistenprüfung dennoch eine spätere, abermalige Teilnahme an häuslichem Unterricht nicht von vornherein ausgeschlossen sei, vertretbar.

5 Die belangte Behörde habe ihre Entscheidung lediglich darauf gestützt, dass der angezeigte häusliche Unterricht schon alleine deshalb nicht als gleichwertig iSd § 11 Abs. 3 SchPflG anzusehen sei, weil der zureichende Erfolg des im Schuljahr 2014/15 durchgeführten häuslichen Unterrichts nicht nachgewiesen worden sei. Vor diesem Hintergrund sei davon auszugehen, dass die belangte Behörde bloß „ansatzweise“ iSd des Erkenntnisses des Verwaltungsgerichtshofes vom 26. Juni 2014, Ro 2014/03/0063, ermittelt habe, da sie verpflichtet gewesen wäre, konkrete Feststellungen über die Art und die Organisation des für das Schuljahr 2021/22 angezeigten häuslichen Unterrichts sowie die praktischen Fähigkeiten der den Unterricht erteilenden Personen zur Ausbildung des zu unterrichtenden, inzwischen 14 Jahre alten Kindes zu treffen. Der Bescheid sei daher nach § 28 Abs. 3 zweiter Satz VwGVG zu beheben und die Angelegenheit „zur allfälligen Erlassung“ eines neuen Bescheides an die Behörde zurückzuverweisen gewesen.

6 Die Zulassung der Revision begründete das Verwaltungsgericht damit, dass Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage fehle, ob die in § 11 Abs. 4 zweiter Satz SchPflG vorgesehene Anordnung der Erfüllung der Schulpflicht iSd § 5 SchPflG sich lediglich auf jenes Schuljahr erstrecke, welches dem Schuljahr, in dem ein Nachweis gemäß § 11 Abs. 4 erster Satz SchPflG nicht erbracht worden sei, folge oder auf die gesamte (verbleibende) Dauer der Schulpflicht. Weiters fehle Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage, ob die Schulbehörde das ihr eingeräumte Ermessen im Sinne des Gesetzes übe, wenn sie für den Fall, dass in einem bestimmten Schuljahr der zureichende Erfolg des Unterrichts vor Schulschluss nicht nachgewiesen worden sei, jedenfalls davon ausgehe, dass bei einer Anzeige der Teilnahme an häuslichem Unterricht in Folgejahren mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen sei, dass die in § 11 Abs. 1 und 2 SchPflG geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichtes nicht gegeben sei.

7 Gegen diesen Beschluss richtet sich die ordentliche Amtsrevision der Bildungsdirektion für Wien.

8 Die Mitbeteiligte erstattete eine Revisionsbeantwortung.

Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:

9 Das Schulpflichtgesetz 1985 (SchPflG), BGBl. Nr. 76/1985 in der hier maßgeblichen Fassung BGBl. I Nr. 170/2021 (somit vor der Novellierung des § 11 durch BGBl. I Nr. 232/2021), lautet auszugsweise:

Beginn der allgemeinen Schulpflicht

(1) Die allgemeine Schulpflicht beginnt mit dem auf die Vollendung des sechsten Lebensjahres folgenden 1. September.

...

Dauer der allgemeinen Schulpflicht

Die allgemeine Schulpflicht dauert neun Schuljahre.

...

Öffentliche und mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestattete Schulen

Unter den in den §§ 5 bis 10 genannten Schulen sind öffentliche oder mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestattete Schulen zu verstehen.

Schulbesuch in den einzelnen Schuljahren

(1) Die allgemeine Schulpflicht ist durch den Besuch von allgemein bildenden Pflichtschulen sowie von mittleren oder höheren Schulen (einschließlich der land- und forstwirtschaftlichen Fachschulen und der höheren land- und forstwirtschaftlichen Lehranstalten) zu erfüllen.

...

C. Erfüllung der allgemeinen Schulpflicht durch Teilnahme an einem gleichwertigen Unterricht

Besuch von Privatschulen ohne Öffentlichkeitsrecht und häuslicher Unterricht

(1) Die allgemeine Schulpflicht kann unbeschadet des § 12 auch durch die Teilnahme am Unterricht an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht erfüllt werden, sofern der Unterricht jenem an einer im § 5 genannten Schule mindestens gleichwertig ist.

(2) Die allgemeine Schulpflicht kann ferner durch die Teilnahme an häuslichem Unterricht erfüllt werden, sofern der Unterricht jenem an einer im § 5 genannten Schule ausgenommen die Polytechnische Schule mindestens gleichwertig ist.

...

(3) Die Eltern oder sonstigen Erziehungsberechtigten haben die Teilnahme ihres Kindes an einem im Abs. 1 oder 2 genannten Unterricht der Bildungsdirektion jeweils vor Beginn des Schuljahres anzuzeigen. Die Bildungsdirektion kann die Teilnahme an einem solchen Unterricht untersagen, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß die im Abs. 1 oder 2 geforderte Gleichwertigkeit des Unterrichtes nicht gegeben ist oder wenn gemäß Abs. 2a eine öffentliche Schule oder eine mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestattete Schule mit gesetzlich geregelter Schulartbezeichnung zu besuchen ist.

(4) Der zureichende Erfolg eines im Abs. 1 oder 2 genannten Unterrichtes ist jährlich vor Schulschluß durch eine Prüfung an einer im § 5 genannten entsprechenden Schule nachzuweisen, soweit auch die Schüler dieser Schulen am Ende des Schuljahres beurteilt werden. Wird ein solcher Nachweis nicht erbracht, so hat die Bildungsdirektion anzuordnen, daß das Kind seine Schulpflicht im Sinne des § 5 zu erfüllen hat.“

10 Die Materialien zur Stammfassung des Schulpflichtgesetzes 1962 (732 BlgNR 9. GP, S. 12) lauten auszugsweise:

„Die Bestimmung des § 11 Abs. 3 sieht ferner vor, daß der Bezirksschulrat die Teilnahme an dem Unterricht einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht oder an häuslichem Unterricht untersagen kann, wenn mit großer Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist, daß die Gleichwertigkeit des Unterrichtes nicht gegeben ist.

§ 11 Abs. 4 sieht abweichend von der bisherigen Rechtslage vor, daß der zureichende Erfolg eines solchen Unterrichtes am Ende eines jeden Schuljahres durch eine Prüfung an einer öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule nachzuweisen ist, während bisher lediglich am Ende der achtjährigen Schulpflicht eine derartige Prüfung vorgesehen war. Die bisherige Rechtslage hatte den Nachteil, daß acht Jahre unter Umständen nutzlos vergingen, ohne daß ein behördlicher Eingriff möglich war. Durch rechtzeitige Feststellung von Versäumnissen können diese durch Anordnung des Schulbesuches im Interesse des Kindes noch nachgeholt werden.“

11 Die Amtsrevision verweist in ihrer Zulässigkeitsbegründung auf jene des Verwaltungsgerichtes und bringt ergänzend vor, das Verwaltungsgericht weiche mit seiner Auffassung, „ein Nichterbringen des Nachweises des zureichenden Erfolges im Sinne des § 11 Abs. 4 SchPflG [führe] nicht zu einem Verwirken des Rechtes auf häuslichen Unterricht“, von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes ab (Hinweis auf VwGH 29.5.2020, Ro 2020/10/0007).

12 Die Revision ist mit Blick auf dieses Vorbringen zulässig. Sie erweist sich auch als begründet.

13 Der Verwaltungsgerichtshof hat in dem in der Revision genannten im angefochtenen Beschluss nicht erwähnten Erkenntnis vom 29. Mai 2020, Ro 2020/10/0007, bereits darauf hingewiesen, dass sich der Umstand, dass der Gesetzgeber die Wiederholung einer Schulstufe im Rahmen der Teilnahme am Unterricht an einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht oder an häuslichem Unterricht nicht vorgesehen hat, auch aus § 11 Abs. 4 SchPflG ergibt, wonach für den Fall, dass der zureichende Erfolg dieses Unterrichts für eine Schulstufe nicht nachgewiesen wird, die Erfüllung der Schulpflicht im Sinn des § 5 leg. cit. anzuordnen ist, und somit der weitere Besuch einer Privatschule ohne Öffentlichkeitsrecht bzw. die Teilnahme am häuslichen Unterricht nicht mehr in Betracht kommt.

14 Für die gegenteilige Ansicht des Verwaltungsgerichtes lassen sich weder der Wortlaut des § 11 Abs. 4 SchPflG noch die Materialien zur Stammfassung des Schulpflichtgesetzes 1962 ins Treffen führen:

15 Bereits nach dem Wortlaut der seit der Stammfassung des Schulpflichtgesetzes 1962 (das mit dem SchPflG wiederverlautbart wurde) insoweit unverändert gebliebenen Bestimmung des § 11 Abs. 4 SchPflG hat die Behörde anzuordnen, dass das Kind „seine Schulpflicht im Sinne des § 5 zu erfüllen hat“. Daraus ergibt sich unmissverständlich, dass die nach Maßgabe der §§ 2 und § 3 SchPflG noch nicht absolvierte Schulpflicht im Sinne des § 5 leg. cit. zu erfüllen ist. Dieser Bestimmung kann nicht entnommen werden, dass diese Anordnung nur für einen bestimmten Zeitraum oder nur für bestimmte Teile der (restlichen) Schulpflicht gelten solle. Auch die vom Verwaltungsgericht erwähnten, oben wiedergegebenen Materialien zum Schulpflichtgesetz 1962 lassen in keiner Weise erkennen, dass im Falle der Nicht Erbringung des in Rede stehenden Nachweises eine bloß „befristete“ Anordnung der Behörde erfolgen sollte. Sie bringen im Gegenteil zum Ausdruck, dass anders als nach der bis dahin geltenden Rechtslage, die eine Prüfung an einer öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht ausgestatteten Schule lediglich am Ende der (damals) achtjährigen Schulpflicht vorgesehen habe, was den Nachteil gehabt habe, dass „acht Jahre unter Umständen nutzlos vergingen, ohne dass ein behördlicher Eingriff möglich“ gewesen sei, durch die jährlichen diesbezüglichen Prüfungen Versäumnisse rechtzeitig festgestellt und „durch die Anordnung des Schulbesuches im Interesse des Kindes noch nachgeholt werden“ können. Dass dieser im Interesse des Kindes vorzunehmende behördliche Eingriff in Form der Anordnung des Schulbesuchs im Sinne des § 5 SchPflG nicht die restliche Dauer der Schulpflicht umfassen sollte, lässt sich diesen Materialien nicht ansatzweise entnehmen. Die vom Verwaltungsgericht seiner Entscheidung zugrunde gelegte Auslegung des § 11 Abs. 4 SchPflG trifft demnach nicht zu.

16 Das Verwaltungsgericht hat die Rechtslage im Revisionsfall allerdings noch in einem weiteren Punkt verkannt:

17 In der Begründung des angefochtenen Beschlusses wurde bei der Darstellung des Verfahrensganges der rechtskräftige Bescheid des Stadtschulrates für Wien vom 17. September 2015 über die Anordnung der Erfüllung der Schulpflicht wiedergegeben. In der rechtlichen Beurteilung des Verwaltungsgerichtes wird dieser Bescheid allerdings nicht mehr erwähnt. Mit diesem Bescheid wurde nach Ausweis der vorgelegten Verfahrensakten bereits rechtskräftig angeordnet, dass die Mitbeteiligte gemäß § 11 Abs. 4 SchPflG „ihre Schulpflicht an einer öffentlichen oder mit dem Öffentlichkeitsrecht auf Dauer ausgestatteten Schule mit gesetzlich geregelter Schulartbezeichnung“ zu erfüllen hat. Eine zeitliche Einschränkung dieser Anordnung (etwa auf bestimmte Schuljahre) ist weder dem Spruch dieses Bescheides noch dessen Begründung zu entnehmen. Entgegen der offenbar vom Verwaltungsgericht vertretenen Ansicht war das Verwaltungsgericht somit infolge der Rechtskraft dieses Bescheides - ungeachtet der Frage seiner Rechtmäßigkeit - an dessen Anordnung gebunden. Eine nochmalige Beurteilung der Frage, ob die Mitbeteiligte ihre Schulpflicht im Sinne des § 5 SchPflG zu erfüllen hat, war vom Verwaltungsgericht nicht vorzunehmen. Eine Teilnahme der Mitbeteiligten an häuslichem Unterricht im Schuljahr 2021/22 kam somit schon deshalb nicht in Betracht.

18 Der angefochtene Beschluss war daher wegen inhaltlicher Rechtswidrigkeit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG aufzuheben.

Wien, am 26. Jänner 2023

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