JudikaturVwGH

Ra 2021/21/0296 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
25. Oktober 2023

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Thaler, über die Revision des A F, vertreten durch Rast Musliu, Rechtsanwälte in 1080 Wien, Alser Straße 23/14, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 9. August 2021, W220 2243975 1/3E, betreffend Erlassung einer Rückkehrentscheidung samt Nebenaussprüchen und eines befristeten Einreiseverbots (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl) zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften aufgehoben.

Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.346,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

1 Der Revisionswerber, ein serbischer Staatsangehöriger, wurde im November 1975 in Österreich geboren, ist hier aufgewachsen und war zuletzt im Besitz eines Aufenthaltstitels „Daueraufenthalt EU“.

2 Der Revisionswerber wurde in Österreich, beginnend mit dem Urteil des Jugendgerichtshofes vom 10. Juni 1992, zuletzt mit Urteil des Landesgerichts für Strafsachen Wien vom 15. Dezember 2020, wiederholt rechtskräftig verurteilt.

3 Mit Bescheid vom 11. Mai 2021 erließ das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) gegen den Revisionswerber im Hinblick auf seine Straffälligkeit gemäß § 52 Abs. 5 FPG iVm § 9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung und verband damit gemäß § 53 Abs. 1 iVm Abs. 3 Z 1 FPG ein auf die Dauer von acht Jahren befristetes Einreiseverbot. Es stellte unter einem gemäß § 52 Abs. 9 FPG fest, dass die Abschiebung des Revisionswerbers nach Serbien zulässig sei. Gemäß § 18 Abs. 2 Z 1 BFA VG erkannte es einer Beschwerde gegen die Rückkehrentscheidung die aufschiebende Wirkung ab und gewährte demnach gemäß § 55 Abs. 4 FPG keine Frist für die freiwillige Ausreise.

4 Der gegen diesen Bescheid erhobenen Beschwerde gab das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 9. August 2021 nur insoweit Folge, als die Dauer des Einreiseverbots auf fünf Jahre herabgesetzt wurde. Im Übrigen wies es die Beschwerde als unbegründet ab und sprach gemäß § 25a Abs. 1 VwGG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.

5 Das BVwG stellte fest, der Revisionswerber sei seit seiner Geburt rechtmäßig in Österreich niedergelassen und habe hier die Pflichtschule absolviert, eine begonnene Lehre zum Autolackierer jedoch nicht abgeschlossen. Er sei „immer wieder sporadisch erwerbstätig“ gewesen und beziehe aktuell Arbeitslosengeld. Der Revisionswerber wohne im gemeinsamen Haushalt mit seiner Mutter, die österreichische Staatsbürgerin sei, und seinem Stiefvater. Der Revisionswerber sei zwei Mal verheiratet gewesen und habe insgesamt drei Kinder, mit denen er regelmäßigen Kontakt pflege. Aus der ersten Ehe mit einer österreichischen Staatsbürgerin habe er eine im Dezember 1995 geborene Tochter, eine österreichische Staatsbürgerin, die hier studiere und in einem eigenen Haushalt lebe, und einen im Dezember 2005 geborenen Sohn, der ebenfalls österreichischer Staatsbürger sei, die Schule besuche und im Haushalt seiner Mutter lebe. Aus seiner zweiten Ehe mit einer in Österreich aufenthaltsberechtigten serbischen Staatsangehörigen entstamme ein weiterer, im März 2014 geborener Sohn, der serbischer Staatsangehöriger sei und über den Aufenthaltstitel „Daueraufenthalt EU“ verfüge. Der Revisionswerber habe eine serbische Lebensgefährtin, die über eine gültige „Aufenthaltsberechtigung“ verfüge, mit der aber kein gemeinsamer Haushalt bestehe. Weiters lebe eine Schwester des Revisionswerbers mit ihren Kindern in Österreich, zu der er ebenso wie zu der im Dezember 2002 geborenen Tochter seiner Lebensgefährtin „guten Kontakt hat“. Ein Abhängigkeitsverhältnis zu den in Österreich lebenden Familienangehörigen liege nicht vor. In Serbien habe der Revisionswerber, der die serbische Sprache beherrsche, keine familiären oder engeren sozialen Anknüpfungspunkte.

6 Der Revisionswerber befinde sich zur Überwindung seiner Suchtmittelabhängigkeit in ambulanter medikamentöser Behandlung, die auch in Serbien fortgesetzt werden könnte. Er sei, wobei das BVwG (bis auf zwei Ausnahmen) nur den Inhalt der Strafregisterauskunft in seine Entscheidung inkludierte, insgesamt elf Mal rechtskräftig strafrechtlich verurteilt worden, davon sieben Mal einschlägig im Bereich der Suchtmittelkriminalität und vier Mal wegen Vergehen nach dem Waffengesetz, zuletzt zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 20 Monaten, wobei ihm nach § 39 SMG ein Strafaufschub gewährt worden sei. Ergänzend traf das BVwG zum Schuldspruch dieses letzten Urteils vom 15. Dezember 2020 sowie zu einer weiteren Verurteilung u.a. wegen Suchtgifthandels vom 8. August 2016 noch dem Schuldspruch folgende Feststellungen und führte die maßgeblichen Strafbemessungsgründe an.

7 In rechtlicher Hinsicht folgerte das BVwG, dass der Aufenthalt des Revisionswerbers angesichts des gesetzten Fehlverhaltens und des Fehlens einer längeren Phase des Wohlverhaltens trotz der von ihm begonnenen, aber noch nicht abgeschlossenen Suchtmittelentwöhnungstherapie eine gegenwärtige, hinreichend schwere Gefahr für die öffentliche Ordnung oder Sicherheit im Sinn des § 52 Abs. 5 FPG darstelle. Im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG hielt das BVwG dem Revisionswerber zugute, dass er in Österreich geboren sei, sich immer rechtmäßig hier aufgehalten habe und über zahlreiche Familienangehörige insbesondere teils minderjährige Kinder verfüge, zu denen er regelmäßigen Kontakt und ein gutes Verhältnis pflege und denen eine Übersiedelung nach Serbien nicht zumutbar sei. Allerdings sei es dem Revisionswerber möglich und zumutbar, den Kontakt zu seinen Kindern, seiner Lebensgefährtin und seinen weiteren Familienangehörigen durch deren Besuche in Serbien sowie über elektronische Kommunikationsmittel aufrecht zu erhalten, zumal auch sein jüngstes Kind bereits sieben Jahre alt sei. Aufgrund der gravierenden, wiederholten und einschlägigen Straffälligkeit des Revisionswerbers sei trotz seiner Aufenthaltsverfestigung und des ihm zuletzt gewährten Strafaufschubs die Begehung gleichgelagerter Straftaten zu prognostizieren, sodass insgesamt das öffentliche Interesse an der Aufenthaltsbeendigung sein persönliches Interesse am Verbleib im Bundesgebiet überwiege.

8 Bezüglich des Einreiseverbots berief sich das BVwG auf die Mehrzahl der dem Revisionswerber angelasteten Verstöße im Bereich des Suchtgifthandels und das große aus der massiven Gefährdung der Gesundheit von Menschen durch das Überlassen und den Verkauf von Drogen sowie aus dem Besitz einer Schusswaffe trotz aufrechten Waffenverbots resultierende öffentliche Interesse an dessen Bekämpfung. Aufgrund der familiären und privaten Verfestigung des Revisionswerbers in Österreich und der Auswirkung des Einreiseverbots auf das Kindeswohl erachtete es das auf acht Jahre befristete Einreiseverbot allerdings als nicht verhältnismäßig, weshalb es die Dauer auf fünf Jahre reduzierte.

9 Von einer mündlichen Verhandlung habe gemäß § 21 Abs. 7 BFA VG abgesehen werden können, weil der für die Entscheidung maßgebliche Sachverhalt vom BFA in einem mängelfreien Verfahren vollständig ermittelt worden sei und aus der Aktenlage in Verbindung mit der Beschwerde hinreichend geklärt erscheine. Es sei von einem eindeutigen Fall auszugehen, in dem bei Berücksichtigung aller zugunsten des Revisionswerbers sprechenden Fakten auch dann für ihn kein günstigeres Ergebnis zu erwarten sei, wenn sich das BVwG von ihm einen (positiven) persönlichen Eindruck verschaffe.

10 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, über die der Verwaltungsgerichtshof nach Durchführung des Vorverfahrens in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung erstattet wurde in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Dreiersenat erwogen hat:

11 Die Revision erweist sich entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und berechtigt, weil das BVwG wie in der Revision zutreffend aufgezeigt wird von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen ist, indem es von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung abgesehen hat.

12 Der Verwaltungsgerichtshof hat in seiner Rechtsprechung wiederholt darauf hingewiesen, dass bei der Erlassung von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks im Rahmen einer mündlichen Verhandlung besondere Bedeutung zukommt, und zwar sowohl in Bezug auf die Gefährdungsprognose als auch in Bezug auf die für die Abwägung nach Art. 8 EMRK (sonst) relevanten Umstände. Von einem geklärten Sachverhalt im Sinne der genannten Bestimmung kann bei der Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen im Allgemeinen nur in eindeutigen Fällen ausgegangen werden, in denen bei Berücksichtigung aller zu Gunsten des Fremden sprechenden Fakten auch dann kein günstigeres Ergebnis für ihn zu erwarten ist, wenn sich das Verwaltungsgericht einen positiven persönlichen Eindruck von ihm verschafft (vgl. etwa VwGH 15.3.2018, Ra 2017/21/0147, Rn. 13, mwN).

13 Am Maßstab dieser Judikatur durfte das BVwG angesichts der langen Aufenthaltsdauer des in Österreich geborenen und aufgewachsenen Revisionswerbers und der Bindung zu seinen hier lebenden Angehörigen, insbesondere seinen drei, teilweise minderjährigen Kindern, nicht von einem eindeutigen Fall und damit von einem geklärten Sachverhalt iSd § 21 Abs. 7 BFA VG ausgehen, vor allem weil der Revisionswerber auch den Aufenthaltsverfestigungstatbestand des § 9 Abs. 4 Z 2 BFA VG idF vor dem FrÄG 2018 erfüllt hätte. Dieser Tatbestand normierte bis zu seiner Aufhebung, dass gegen einen aufgrund eines Aufenthaltstitels rechtmäßig aufhältigen Drittstaatsangehörigen, der von klein auf im Inland aufgewachsen und hier langjährig rechtmäßig niedergelassen ist, eine Rückkehrentscheidung (überhaupt) nicht erlassen werden dürfe. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes sind die Wertungen der ehemaligen Aufenthaltsverfestigungstatbestände des § 9 Abs. 4 BFA VG im Rahmen der Interessenabwägung nach § 9 BFA VG insofern weiterhin beachtlich, als in diesen Fällen nur bei Begehung besonders verwerflicher Straftaten und einer daraus abzuleitenden spezifischen Gefährdung maßgeblicher öffentlicher Interessen ein fallbezogener Spielraum für die Erlassung aufenthaltsbeendender Maßnahmen besteht (vgl. dazu ausführlich etwa VwGH 14.2.2022, Ra 2020/21/0200, Rn. 11/12, wo u.a. auch auf entsprechende Judikatur des EGMR Bezug genommen wurde, und daran anschließend aus der jüngeren Zeit VwGH 25.5.2023, Ra 2022/21/0132, Rn. 12).

14 Um vor diesem Hintergrund eine Rückkehrentscheidung (samt Einreiseverbot) zu rechtfertigen, müsste also angesichts der Geburt des Revisionswerbers in Österreich eine spezifische Gefährdung aufgrund besonders gravierender Straftaten von ihm ausgehen, die im Einzelfall trotz seines langjährigen und rechtmäßigen Aufenthalts und der damit verbundenen Integration, insbesondere unter Berücksichtigung des Kindeswohls, dazu führt, dass eine Aufenthaltsbeendigung im Sinn des § 9 Abs. 1 BFA VG iVm Art. 8 EMRK dringend geboten ist.

15 Das ist zwar bei Begehung des Verbrechens des Suchtgifthandels nicht auszuschließen, hätte aber eine eingehendere Auseinandersetzung mit allen Umständen dieses Falles, der durch die aus der Suchtmittelabhängigkeit des Revisionswerbers resultierende Beschaffungskriminalität gekennzeichnet ist, erfordert, wobei vom Strafgericht zuletzt gemäß § 39 SMG auch ein Strafaufschub gewährt wurde. Unter diesem Aspekt hätte es der Verschaffung eines persönlichen Eindrucks zur Beurteilung der Persönlichkeit des Revisionswerbers, der Bindung zu seinen beiden minderjährigen Kindern, und der Einbeziehung der (vorläufigen) Ergebnisse der gerichtlich angeordneten Suchtgiftentwöhnungs und Psychotherapie in einer mündlichen Verhandlung bedurft (vgl. zur Notwendigkeit einer Beschwerdeverhandlung für die umfassende Interessenabwägung, wie sie in ehemals dem § 9 Abs. 4 BFA VG unterliegenden Konstellationen geboten ist, etwa VwGH 26.7.2022, Ra 2021/21/0358, Rn. 16, mwN). Darüber hinaus gestand das BVwG dem Revisionswerber zu, in Serbien keine familiären oder engeren sozialen Anknüpfungspunkte zu haben, und folgerte insgesamt einen durch die Rückkehrentscheidung samt Einreiseverbot bewirkten „schwerwiegenden“ Eingriff in sein Privat und Familienleben. Somit hätte es auch angesichts dessen näherer Feststellungen zum strafbaren Verhalten des Revisionswerbers, wobei im Übrigen im Zeitraum Oktober 2003 bis (abgesehen von einer Verurteilung zu einer Freiheitsstrafe von zwei Wochen im Jahr 2008) August 2016 keine strafgerichtlichen Verurteilungen erfolgten, aber auch zu seinen Bemühungen zur Überwindung der offenbar den Anlass für seine Delinquenz bildenden Drogensucht bedurft, um die Annahme des BVwG, das große Gewicht der öffentlichen Interessen überwiege jene des Revisionswerbers, nachvollziehbar zu begründen.

16 Jedenfalls durfte das BVwG unter diesen Umständen wie erwähnt nicht von einem eindeutigen, zum Absehen von einer mündlichen Verhandlung berechtigenden Fall ausgehen.

17 Das angefochtene Erkenntnis ist daher mit Rechtswidrigkeit infolge Verletzung von Verfahrensvorschriften belastet, weshalb es gemäß § 42 Abs. 2 Z 3 lit. b und c VwGG aufzuheben war.

18 Von der in der Revision beantragten mündlichen Verhandlung vor dem Verwaltungsgerichtshof konnte gemäß § 39 Abs. 2 Z 3 und 5 VwGG abgesehen werden.

19 Der Kostenzuspruch gründet sich auf die §§ 47ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.

Wien, am 25. Oktober 2023

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