Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger und den Hofrat Dr. Chvosta als Richter, unter Mitwirkung der Schriftführerin Kittinger, LL.M., über die Revision des O H, vertreten durch Mag. a Sarah Moschitz Kumar, Rechtsanwältin in 8010 Graz, Frauengasse 7, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 4. August 2021, G308 2244797 1/10E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), den Beschluss gefasst:
Spruch
Die Revision wird zurückgewiesen.
1 Der Revisionswerber, ein 2001 geborener afghanischer Staatsangehöriger, beantragte im März 2021 internationalen Schutz in Rumänien, reiste aber von dort ohne den Ausgang seines Asylverfahrens abzuwarten in die Slowakei weiter. Im Anschluss an die gemäß der Dublin III VO erfolgte Rücküberstellung nach Rumänien stellte der Revisionswerber am 8. Juni 2021 dort einen weiteren Antrag auf internationalen Schutz, wartete allerdings neuerlich den Ausgang seines Verfahrens nicht ab, sondern entfernte sich am 18. Juni 2021 aus dem rumänischen Unterkunftszentrum und reiste illegal nach Österreich weiter. Nach seinem Aufgriff im Bundesgebiet stellte der in Österreich weder familiär noch sozial verankerte Revisionswerber am 13. Juli 2021 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Im Rahmen der zu diesem Antrag am selben Tag durchgeführten Erstbefragung gab der Revisionswerber an, er habe nachdem er sich davor drei Monate lang in Serbien aufgehalten habe in Rumänien internationalen Schutz beantragt, den Staat jedoch noch vor seiner Einvernahme verlassen, weil dort „sowieso jeder einen negativen Asylbescheid bekommt“. Sein Reiseziel sei Italien gewesen, „weil man dort schnell an Aufenthaltsdokumente“ komme.
3 Im Hinblick auf mehrere im Zuge der Erstbefragung des Revisionswerbers zu seinem Antrag auf internationalen Schutz erzielte „EURODAC Treffer“ in Bezug auf Rumänien verhängte das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) mit Mandatsbescheid vom 14. Juli 2021 über den Revisionswerber gemäß Art. 28 Abs. 1 und 2 Dublin III VO iVm § 76 Abs. 2 Z 3 FPG die Schubhaft zum Zweck der Sicherung des Überstellungsverfahrens.
4 Am selben Tag leitete das BFA ein Konsultationsverfahren mit Rumänien ein. Am 28. Juli 2021 übermittelten die rumänischen Behörden ein Schreiben über ihre Zustimmung zur Wiederaufnahme des Revisionswerbers auf Grundlage der Dublin III VO.
5 Am 29. Juli 2021 legte das BFA dem Bundesverwaltungsgericht (BVwG) im Hinblick auf die vom Revisionswerber am 28. Juli 2021 erhobene Schubhaftbeschwerde die Verwaltungsakten vor und erstattete dazu eine Stellungnahme, in der es mit näherer Begründung darlegte, dass es das Vorliegen der für die Schubhaft erforderlichen Voraussetzungen (weiterhin) für gegeben erachtete.
6 Darauf replizierte der Revisionswerber in einer ihm vom BVwG eingeräumten Stellungnahme vom 3. August 2021, in der er die Durchführung einer mündlichen Verhandlung beantragte und das Vorliegen erheblicher Fluchtgefahr bestritt, zumal die Aussage, nach Italien weiterreisen zu wollen, in Unkenntnis der Rechtslage getätigt habe. Nachdem der Revisionswerber nunmehr eine Rechtsberatung erhalten habe und über die „Funktionsweise“ der Dublin III VO aufgeklärt worden sei, habe er sich bereit erklärt, den Ausgang seines Verfahrens in Österreich abzuwarten und an einer Überstellung nach Rumänien mitzuwirken. Im Übrigen bestritt der Revisionswerber noch, dass eine solche Überstellung binnen der sechswöchigen Höchstfrist durchführbar sei.
7 Mit dem angefochtenen Erkenntnis vom 4. August 2021 wies das BVwG die gegen den Bescheid des BFA vom 14. Juli 2021 und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft erhobene Beschwerde des Revisionswerbers ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung gemäß § 22a Abs. 1 BFA VG iVm Art. 28 Abs. 1 und 2 der Dublin III VO und § 76 Abs. 2 Z 3 FPG als unbegründet ab. Unter einem stellte es gemäß § 22a Abs. 3 BFA VG iVm § 76 [Abs. 2 Z 3] FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Weiters verpflichtete es gemäß § 35 VwGVG den Revisionswerber zum Aufwandersatz gegenüber dem Bund und wies seinen Antrag auf Kostenersatz ab. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
8 In den Entscheidungsgründen sah das BVwG wie auch das BFA die Fluchtgefahrtatbestände des § 76 Abs. 3 Z 6 lit. b und c FPG sowie des § 76 Abs. 3 Z 9 FPG als verwirklicht an. Es gelangte in einer Gesamtschau unter Berücksichtigung des Umstands, dass sich der Revisionswerber seinem Asylverfahren in Rumänien entzogen und nach seinen Angaben im Rahmen der Erstbefragung versucht habe, nach Italien weiterzureisen, sowie aufgrund des Fehlens eines Wohnsitzes, ausreichender Mittel zur Existenzsicherung und sonstiger Bindungen des Revisionswerbers in Österreich zur Annahme einer konkreten erheblichen Fluchtgefahr, der nicht wirksam durch die Anwendung gelinderer Mittel begegnet werden könne. Dabei ging es auch davon aus, dass im Hinblick auf die bereits vorliegende Zustimmung Rumäniens zu einer Wiederaufnahme des Revisionswerbers und angesichts regelmäßig durchgeführter Überstellungen nach Rumänien „binnen kurzer Zeit“ mit seiner Überstellung dorthin zu rechnen sei.
9 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die sich unter dem Gesichtspunkt des Art. 133 Abs. 4 B VG als unzulässig erweist.
10 Nach der genannten Verfassungsbestimmung ist gegen das Erkenntnis eines Verwaltungsgerichtes die Revision (nur) zulässig, wenn sie von der Lösung einer Rechtsfrage abhängt, der grundsätzliche Bedeutung zukommt, insbesondere weil das Erkenntnis von der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abweicht, eine solche Rechtsprechung fehlt oder die zu lösende Rechtsfrage in der bisherigen Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes nicht einheitlich beantwortet wird.
11 An den Ausspruch des Verwaltungsgerichtes gemäß § 25a Abs. 1 VwGG ist der Verwaltungsgerichtshof bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Revision nicht gebunden (§ 34 Abs. 1a erster Satz VwGG). Zufolge § 28 Abs. 3 VwGG hat allerdings die außerordentliche Revision gesondert die Gründe zu enthalten, aus denen entgegen dem Ausspruch des Verwaltungsgerichtes die Revision für zulässig erachtet wird. Im Rahmen der dafür in der Revision vorgebrachten Gründe hat der Verwaltungsgerichtshof dann die Zulässigkeit einer außerordentlichen Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG zu überprüfen (§ 34 Abs. 1a zweiter Satz VwGG).
12 Unter diesem Aspekt macht die Revision eine Verletzung der Verhandlungspflicht geltend, weil das BVwG trotz vorgebrachter nach entsprechender Rechtsberatung nunmehr bestehender Kooperationsbereitschaft des Revisionswerbers, dessen Vorverhalten auf seine Unkenntnis der „Funktionsweise“ des Dublin Systems zurückzuführen sei, ohne eine mündliche Verhandlung von erheblicher, die Schubhaft rechtfertigender Fluchtgefahr ausgegangen sei und dabei auch den im asylrechtlichen Zulassungsverfahren bestehenden Anspruch des Revisionswerbers auf Grundversorgung unberücksichtigt gelassen habe.
13 Diesem Vorbringen ist entgegen zu halten, dass nicht in allen Fällen die Durchführung einer mündlichen Verhandlung zur Verschaffung eines persönlichen Eindrucks erforderlich ist, um die konkrete Fluchtgefahr insbesondere im Hinblick auf eine mangelnde Vertrauenswürdigkeit des betreffenden Fremden beurteilen zu können. Sie lässt sich vielmehr auch aus einem einschlägigen Vorverhalten ableiten (vgl. etwa VwGH 5.11.2020, Ra 2020/21/0287, Rn. 19, mwN).
14 Im vorliegenden Fall war auch im Beschwerdeverfahren nicht in Abrede gestellt worden, dass der Revisionswerber vor seiner Einreise in das Bundesgebiet wiederholt Anträge auf internationalen Schutz in Rumänien gestellt, sich in der Folge aber dem rumänischen Asylverfahren zweimal schon nach kurzer Zeit und auch ungeachtet der Rücküberstellung aus der Slowakei nach Rumänien durch unrechtmäßige Weiterreise in andere Mitgliedstaaten der Europäischen Union entzogen hatte und in Österreich bei der (versteckt in einem LKW versuchten) Weiterreise nach Italien aufgegriffen wurde. Damit waren nicht nur abstrakt die Fluchtgefahrtatbestände der Z 6 lit. a und b des § 76 Abs. 3 FPG verwirklicht (vgl. dazu etwa VwGH 26.4.2018, Ro 2017/21/0010, Rn. 18/19), sondern rechtfertigte dieses Verhalten fallbezogen betreffend den Schubhaftbescheid und den Fortsetzungsausspruch auch konkret die Annahme, dass sich der Revisionswerber, der internationalen Schutz in Österreich erst nach seinem Aufgriff beantragt hatte, im Falle seiner Enthaftung für ein Verfahren zur Erlassung einer Anordnung zur Außerlandesbringung nicht zur Verfügung halten bzw. danach einer formalisierten Überstellung nach Rumänien entziehen werde.
15 Folgerichtig musste auch die in der Revision ins Treffen geführte Anspruchsberechtigung im Rahmen der Grundversorgung nicht zu der Annahme führen, dass sie ein neuerliches Untertauchen des in Österreich weder familiär noch sozial verankerten Revisionswerbers, der sich bereits in Rumänien zum Zweck der illegalen Weiterreise aus dem Unterkunftszentrum entfernt hatte, verhindern würde.
16 In Anbetracht des durch große Mobilität geprägten Vorverhaltens des Revisionswerbers war es auch vertretbar, dass das BVwG von einem insoweit geklärten Sachverhalt im Sinne des § 21 Abs. 7 erste Alternative BFA VG ausging und im Hinblick darauf von der Durchführung einer mündlichen Verhandlung absah. Was die erstmals im Schriftsatz vom 3. August 2021 behauptete Unkenntnis des Revisionswerbers über die „Funktionsweise“ des Dublin Systems bis zur Aufklärung im Rahmen der Rechtsberatung betrifft, durfte das BVwG aber erkennbar so ist der irrtümlich verkürzte Satz im Punkt II.2.6. in Verbindung mit den Ausführungen im Pkt. II.3.4.3. offenbar zu verstehen davon ausgehen, dass dies im Sinne der zweiten Alternative des § 21 Abs. 7 BFA VG zweifelsfrei nicht den Tatsachen entspricht. Einerseits musste dem Revisionswerber nämlich schon aufgrund der Rücküberstellung aus der Slowakei nach Rumänien die „Funktionsweise“ des Dublin Systems bekannt sein und andererseits hatte er die ausdrücklich geäußerte Absicht zur Weiterreise nach Italien aus seiner Sicht auch schlüssig damit begründet, dass er dort anders als in Rumänien mit einer Anerkennung als Flüchtling gerechnet habe. Demnach war es durchaus vertretbar, dass das BVwG folgerte, der Revisionswerber habe kein Interesse an einem Asylverfahren in Rumänien, sondern strebe vorrangig das Erreichen des Zielstaates Italien an. Es durfte daher auch dem Ausspruch über die Zulässigkeit der Fortsetzung der Schubhaft neben den Tatbeständen der lit. a und b des § 76 Abs. 3 Z 6 FPG (siehe Rn. 14) fallbezogen ohne Verletzung der Verhandlungspflicht auch das Vorliegen des weiteren, Fluchtgefahr indizierenden Tatbestands der lit. c des § 76 Abs. 3 Z 6 FPG zugrunde legen.
17 Zu der in der Revision weiters vertretenen Ansicht, es hätte im vorliegenden Fall die Anordnung eines gelinderen Mittels ausgereicht, ist darauf hinzuweisen, dass es sich bei der Frage, ob von einem Sicherungsbedarf auszugehen sei, dem nur durch Schubhaft und nicht auch durch gelindere Mittel begegnet werden könne, stets um eine solche des Einzelfalls handelt, die daher nicht generell zu klären und als einzelfallbezogene Beurteilung grundsätzlich nicht revisibel ist, wenn diese Beurteilung in vertretbarer Weise vorgenommen wurde (vgl. etwa VwGH 5.10.2022, Ra 2019/21/0414, Rn. 14, mwN). Das ist hier nach dem zuvor Gesagten entgegen den Ausführungen in der gegenständlichen Revision aber zu bejahen.
18 Was die Verhältnismäßigkeit der Schubhaft im Hinblick auf die vom Revisionswerber auch noch in Zweifel gezogene Möglichkeit der Überstellung nach Rumänien innerhalb der im dritten Unterabsatz des Art. 28 Abs. 3 der Dublin III VO normierten sechswöchigen Frist betrifft, so war sie bezogen auf den Zeitpunkt der Entscheidung des BVwG am 4. August 2021 zu beurteilen. Diese Frist begann im vorliegenden Fall mit der ausdrücklichen Annahme des Gesuchs auf Wiederaufnahme (vgl. dazu etwa VwGH 29.5.2018, Ro 2018/21/0005, Rn. 14, mwN), sohin am 28. Juli 2021; davon ging auch der Revisionswerber im Beschwerdeverfahren aus. Demzufolge lag im maßgeblichen Zeitpunkt erst seit einer Woche die Zustimmung Rumäniens zur Wiederaufnahme des Revisionswerbers vor und die Schubhaft hatte insgesamt erst drei Wochen gedauert. Angesichts dieser relativ kurzen Dauer war ihre Aufrechterhaltung jedenfalls noch nicht unverhältnismäßig geworden. Konkrete Umstände, wonach entgegen den Ausführungen des BFA nicht mit einer fristgerechten Durchführung der Überstellung nach Rumänien zu rechnen gewesen sei, wurden aber weder im Beschwerdeverfahren noch in der Revision vorgebracht.
19 Die Revision zeigt somit insgesamt keine grundsätzliche Rechtsfrage im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG auf. Sie war daher gemäß § 34 Abs. 1 VwGG ohne weiteres Verfahren mit Beschluss zurückzuweisen.
Wien, am 23. Mai 2024