Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Sulzbacher sowie die Hofrätin Dr. Wiesinger, den Hofrat Dr. Chvosta, die Hofrätin Dr. Holzinger und die Hofrätin Dr. in Oswald als Richter und Richterinnen, unter Mitwirkung der Schriftführerin Mag. a Eraslan, über die Revision des I C, vertreten durch Mag. Claudia Fessler, Rechtsanwältin in 1010 Wien, Hegelgasse 13/21, gegen das am 7. Jänner 2020 mündlich verkündete und mit 6. Oktober 2022 schriftlich ausgefertigte Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes, W137 2139324-5/25E, betreffend Schubhaft (belangte Behörde vor dem Verwaltungsgericht: Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
Der Bund hat dem Revisionswerber Aufwendungen in der Höhe von € 1.106,40 binnen zwei Wochen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
1 Der Revisionswerber, ein Staatsangehöriger von Marokko, stellte nach seiner Einreise in das Bundesgebiet ab November 2012 zunächst unter Angabe falscher Identitätsdaten erfolglos mehrere Anträge auf internationalen Schutz, die jeweils rechtskräftig ab- bzw. zurückgewiesen wurden. Zuletzt wurden im Beschwerdeweg mit Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichtes (BVwG) vom 24. Jänner 2018 gegen ihn unter anderem eine Rückkehrentscheidung und wegen seiner wiederholten Straffälligkeit ein auf die Dauer von zehn Jahren befristetes Einreiseverbot erlassen.
2 Der Revisionswerber, der auch mehrere Haftstrafen verbüßte, wurde mehrmals in Schubhaft angehalten und brachte im Zuge dessen bereits psychische und physische gesundheitliche Probleme aufgrund von beidseitigen Beinamputationen vor. Am 23. September 2019 wurde er nach seiner Festnahme aufgrund eines Festnahmeauftrages vor dem BFA (neuerlich) niederschriftlich einvernommen. Dabei gab der Revisionswerber zu seinem Zustand an, „nicht ganz“ gesund zu sein und aufgrund der Amputationen Medikamente, unter anderem Schmerzmittel, einzunehmen. Er gab auch an, wegen der Medikamente „durcheinander“ zu sein.
3 Mit Mandatsbescheid des BFA vom selben Tag wurde über den Revisionswerber gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG die Schubhaft zum Zwecke der Sicherung der Abschiebung angeordnet. Zum Gesundheitszustand des Revisionswerbers führte das BFA in der Bescheidbegründung aus, dass von Haftfähigkeit auszugehen sei und keine Hinweise auf eine lebensbedrohliche Krankheit vorlägen. Der Revisionswerber habe in seiner Einvernahme angegeben, gesund zu sein; er werde in einer behindertengerechten Zelle untergebracht und regelmäßig vom Amtsarzt untersucht.
4 In der gegen diesen Schubhaftbescheid vom 23. September 2019 und die darauf gegründete Anhaltung in Schubhaft erhobenen Beschwerde brachte der Revisionswerber unter anderem vor, der Umstand, dass ihm beide Beine amputiert worden seien, sei aktenkundig und er leide an einer bereits ärztlich diagnostizierten Anpassungsstörung und einer Depression. Überdies habe er bereits bei seiner Einvernahme am 23. September 2019 angegeben, Medikamente einnehmen zu müssen. Sein gesundheitlicher Zustand sei nicht nur für die vom BFA allein geprüfte Frage der Haftfähigkeit relevant, sondern auch bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu berücksichtigen.
5 Das BVwG führte am 7. Jänner 2020 eine mündliche Verhandlung durch, an deren Schluss es das gegenständliche Erkenntnis verkündete. Es wies die Beschwerde gemäß § 76 Abs. 2 Z 2 FPG iVm § 22a Abs. 1 BFA VG als unbegründet ab und stellte gemäß § 22a Abs. 3 BFA-VG iVm § 76 FPG fest, dass zum Zeitpunkt der Entscheidung die für die Fortsetzung der Schubhaft maßgeblichen Voraussetzungen vorlägen. Zugleich wies es den Antrag des Revisionswerbers auf Kostenersatz gemäß § 35 VwGVG ab und verpflichtete ihn zum Aufwandersatz an den Bund. Gemäß § 25a Abs. 1 VwGG sprach das BVwG aus, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
6 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die vorliegende außerordentliche Revision, die vom Revisionswerber nach Vorlage der vom Revisionswerber fristgerecht beantragten mit 6. Oktober 2022 vorgenommenen schriftlichen Ausfertigung des Erkenntnisses durch das BVwG mit Schriftsatz vom 16. Februar 2023 ergänzt wurde. Der Verwaltungsgerichtshof hat darüber nach Aktenvorlage und Durchführung eines Vorverfahrens, in dessen Rahmen keine Revisionsbeantwortung und dann auch keine Stellungnahme zur Revisionsergänzung erstattet wurde, erwogen:
7 Die Revision erweist sich wie sich aus den nachfolgenden Ausführungen ergibt entgegen dem gemäß § 34 Abs. 1a erster Satz VwGG nicht bindenden Ausspruch des BVwG im Sinne des Art. 133 Abs. 4 B VG als zulässig und auch als berechtigt.
8 Was den positiven Fortsetzungsausspruch gemäß § 22a Abs. 3 FPG im angefochtenen Erkenntnis anbelangt, berücksichtigte das BVwG in den Erwägungen zur Verhältnismäßigkeit der Anhaltung in Schubhaft nicht den konkreten Gesundheitszustand des Revisionswerbers.
9 Das BVwG stellte zwar fest, dass der Revisionswerber an beiden Beinen unterhalb der Knie amputiert worden sei, Beinprothesen trage und wegen einer Anpassungsstörung und einer Depression medikamentös behandelt und von einem näher genannten Verein betreut werde. Das BVwG setzte sich mit dem Gesundheitszustand des Revisionswerbers jedoch nur unter dem Blickwinkel seiner Haftfähigkeit auseinander, indem es ausführte, dass seine Haftfähigkeit amtsärztlich bestätigt sei, er auch bei der Verbüßung einer Strafhaft haftfähig gewesen sei, die Haftunfähigkeit während seiner Anhaltung in Schubhaft auch nach Besuchen des Rechtsberaters nie behauptet worden und auch in der mündlichen Verhandlung nicht substantiiert dargelegt worden sei. Die Einbeziehung des vom Revisionswerber sowohl in der Beschwerde als auch in der mündlichen Verhandlung unter anderem als Grund für die Unverhältnismäßigkeit der Schubhaft ins Treffen geführten Gesundheitszustandes des Revisionswerbers in die Verhältnismäßigkeitsprüfung unterblieb. Dies stellt einen wesentlichen Begründungsmangel dar, weil eine erhebliche Beeinträchtigung des Gesundheitszustandes selbst wenn daraus keine Haftunfähigkeit resultiert bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zur Unzulässigkeit von Schubhaft führen kann (vgl. VwGH 15.11.2022, Ra 2020/21/0442, Rn. 14, mit Verweis auf VwGH 15.9.2022, Ra 2021/21/0342, Rn. 13, und VwGH 3.9.2015, Ro 2015/21/0012; vgl. bereits davor etwa auch VwGH 19.6.2008, 2007/21/0069, mwN). Dies macht die Revision im Ergebnis auch zu Recht geltend.
10 Der aufgezeigte Mangel haftet allerdings auch dem Schubhaftbescheid vom 23. September 2019 an, in dem sich das BFA mit den gesundheitlichen Problemen, die der Revisionswerber bereits am selben Tag in der niederschriftlichen Einvernahme vorgebracht hatte und die bereits aufgrund vorangegangener Festnahmen aktenkundig waren, ebenfalls nur im Lichte der Haftfähigkeit, nicht jedoch im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung befasste (vgl. neuerlich VwGH 15.11.2022, Ra 2020/21/0442, nunmehr Rn. 16). Überdies wurde in der Begründung des Schubhaftbescheides im Widerspruch zu den Angaben des Revisionswerbers in der niederschriftlichen Einvernahme vom 23. September 2019 (siehe dazu Rn. 2) davon ausgegangen, dieser habe selbst angegeben, gesund zu sein. Die genannten Begründungsmängel sind als wesentlich anzusehen, da gesundheitliche Probleme sowohl aufgrund der Prüfung der Haftfähigkeit als auch wie bereits ausgeführt im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung unter Umständen zur Unzulässigkeit der Schubhaft führen können (vgl. dazu des Näheren auch VwGH 28.6.2022, Ra 2021/21/0185, Rn. 14/15, mwN).
11 Das angefochtene Erkenntnis war daher zur Gänze gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben.
12 Bei diesem Ergebnis muss auf den (einzigen) Einwand in der Revisionsergänzung, wonach das angefochtene Erkenntnis schon aufgrund der langen Zeitspanne zwischen der Verkündung und der schriftlichen Ausfertigung aufzuheben sei, weil dem Revisionswerber dadurch effektiver Rechtsschutz verwehrt worden sei, nicht näher eingegangen werden. Hinzuweisen ist allerdings darauf, dass der Revisionswerber mit diesem Vorbringen nicht darlegt, inwiefern er fallbezogen an der effektiven Verfolgung seiner Rechte gehindert worden sei, zumal die gegen das am 7. Jänner 2020 verkündete Erkenntnis eingebrachte Revision zulässig ist und dem Revisionswerber nach Vorlage der schriftlichen Ausfertigung an den Verwaltungsgerichtshof die Möglichkeit einer Revisionsergänzung eingeräumt wurde (vgl. idZ die einschlägige Rechtsprechung zusammenfassend VwGH 23.9.2020, Ra 2019/14/0558 bis 0560, Rn. 13 ff, und in weiterer Folge etwa auch VwGH 5.3.2021, Ra 2018/04/0117 und Ra 2018/04/0138, Rn. 23 ff).
13 Die Entscheidung über den Kostenersatz beruht auf den §§ 47 ff VwGG in Verbindung mit der VwGH Aufwandersatzverordnung 2014.
Wien, am 30. März 2023