Betreff
Der Verwaltungsgerichtshof hat durch die Vorsitzende Vizepräsidentin Dr. in Sporrer sowie den Hofrat Dr. Sutter und die Hofrätin Dr. in Sembacher als Richterinnen und Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Wuketich, über die Revision des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl in 1030 Wien, Modecenterstraße 22, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 25. Juni 2020, W248 2212346 1/21E, betreffend eine Asylangelegenheit (mitbeteiligte Partei: H S), zu Recht erkannt:
Spruch
Das angefochtene Erkenntnis wird im angefochtenen Umfang, sohin in seinen Spruchpunkten A.II., A.III. und A.IV., wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.
1 Der Mitbeteiligte, ein Staatsangehöriger Afghanistans, stellte am 1. Dezember 2017 einen Antrag auf internationalen Schutz.
2 Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) wies diesen Antrag mit Bescheid vom 4. Dezember 2018 sowohl hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten (Spruchpunkt I.) als auch hinsichtlich der Zuerkennung des Status des subsidiär Schutzberechtigten (Spruchpunkt II.) ab, erteilte dem Mitbeteiligten keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ gegen ihn eine Rückkehrentscheidung und stellte fest, dass seine Abschiebung nach Afghanistan zulässig sei (Spruchpunkt III.). Die Frist für die freiwillige Ausreise legte das BFA mit 14 Tagen ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung fest (Spruchpunkt IV.).
3 Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) wies nach Durchführung einer Verhandlung die dagegen erhobene Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt I. ab (Spruchpunkt A.I.), gab der Beschwerde hinsichtlich Spruchpunkt II. statt und erkannte dem Mitbeteiligten den Status des subsidiär Schutzberechtigten zu (Spruchpunkt A.II.), erteilte ihm eine Aufenthaltsberechtigung bis 25. Juni 2021 (Spruchpunkt III.) und behob die übrigen Spruchpunkte des Bescheides der belangten Behörde ersatzlos (Spruchpunkt IV.). Weiters sprach das BVwG aus, dass eine Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B VG nicht zulässig sei.
4 Begründend führte das BVwG zusammengefasst und soweit für das gegenständliche Verfahren von Bedeutung aus, der Mitbeteiligte gehöre der Volksgruppe der Paschtunen und der sunnitischen Glaubensrichtung an, sei ledig und kinderlos. Der Mitbeteiligte sei in der Provinz Kunar in einem näher genannten Dorf geboren und aufgewachsen. Es sei nicht feststellbar, dass er Analphabet sei und nie eine Schule besucht habe; er verfüge über Berufserfahrung als Hilfsarbeiter in einer Kaugummifabrik. Der Mitbeteiligte habe eine vermutlich familiär oder kulturell bedingte Mikrozephalie, sei aber gesund und arbeitsfähig, jedoch nicht unbescholten. Er sei in Österreich mehrfach vorbestraft wegen der Vergehen der Nötigung, der Körperverletzung und der sexuellen Belästigung sowie wegen Verstößen gegen das Suchtmittelgesetz. Mehrere Ermittlungsverfahren gegen den Mitbeteiligten seien eingestellt worden, bei zwei Verfahren wegen des Vorwurfs der Teilnahme an Raufhandeln sei fraglich, ob diese bereits abgeschlossen seien. Der Mitbeteiligte habe familiäre und soziale Anknüpfungspunkte in Afghanistan. Aufgrund der prekären Sicherheitslage in seiner Heimatprovinz sei ihm eine Rückkehr dorthin nicht zumutbar. Jedoch sei es ihm grundsätzlich möglich, in den Städten Mazar e Sharif und Herat Fuß zu fassen und dort ein Leben ohne unbillige Härten zu führen, wie es auch seine Landsleute führen würden. Er könne dort insbesondere seinen Lebensunterhalt verdienen. Der Mitbeteiligte sei Angehöriger der paschtunischen Volksgruppe, weshalb mit hoher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen sei, dass er bei seiner Rückkehr von seiner Familie oder zumindest von Angehörigen seiner Volksgruppe Unterstützung erhielte. Es werde ausdrücklich festgehalten, dass das erkennende Gericht grundsätzlich der Ansicht sei, dass dem Mitbeteiligten eine innerstaatliche Fluchtalternative in Herat und Mazar e Sharif offenstehe. Jedoch seien durch die Corona Pandemie derart exzeptionelle Umstände in Form einer eingeschränkten Reisefreiheit, einer Vielzahl von Rückkehrern aus dem Iran, der Ausgangsbeschränkungen in Herat, der angespannten Bedingungen am Arbeitsmarkt sowie einer Unsicherheit bei der Versorgung mit Nahrungsmitteln hervorgekommen, die annehmen ließen, dass der Mitbeteiligte keine Lebensgrundlage vorfinden werde. Das BVwG gehe davon aus, dass neben Herat auch in Mazar e Sharif Ausgangsbeschränkungen herrschten. Die möglichen gesundheitlichen Folgen einer Mangelernährung seien ebenso nicht absehbar, weshalb dem Revisionswerber der Status des subsidiär Schutzberechtigten zuzuerkennen gewesen sei.
5 Gegen die Spruchpunkte A.II., A.III. und A.IV. dieses Erkenntnisses richtet sich die vorliegende Amtsrevision, deren Zulässigkeit zusammengefasst damit begründet wird, dass das BVwG von näher zitierter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zu den Voraussetzungen für die Gewährung subsidiären Schutzes sowie zur Frage der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative und zu den rechtlichen Auswirkungen vorübergehender Abschiebungshindernisse abgegangen sei und seine Ermittlungs- und Begründungspflicht verletzt habe.
6 Der Verwaltungsgerichtshof leitete das Vorverfahren ein, eine Revisionsbeantwortung wurde nicht erstattet.
7 Der Verwaltungsgerichtshof hat in einem gemäß § 12 Abs. 1 Z 2 VwGG gebildeten Senat erwogen:
8 Die Amtsrevision ist im Hinblick auf die aufgezeigte Abweichung von näher genannter Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes zur Frage der Zumutbarkeit einer innerstaatlichen Fluchtalternative zulässig. Sie ist auch begründet.
9 Der Verwaltungsgerichtshof erkennt in ständiger Rechtsprechung, dass bei der Prüfung betreffend die Zuerkennung von subsidiärem Schutz eine Einzelfallprüfung vorzunehmen ist, in deren Rahmen konkrete und nachvollziehbare Feststellungen zu der Frage zu treffen sind, ob einer Person im Fall der Rückkehr in ihren Herkunftsstaat die reale Gefahr („real risk“) einer gegen Art. 3 EMRK verstoßenden Behandlung droht. Es bedarf einer ganzheitlichen Bewertung der möglichen Gefahren, die sich auf die persönliche Situation des Betroffenen in Relation zur allgemeinen Menschenrechtslage im Zielstaat zu beziehen hat. Die Außerlandesschaffung eines Fremden in den Herkunftsstaat kann auch dann eine Verletzung von Art. 3 EMRK bedeuten, wenn der Betroffene dort keine Lebensgrundlage vorfindet, also die Grundbedürfnisse der menschlichen Existenz (bezogen auf den Einzelfall) nicht gedeckt werden können. Nach der auf der Rechtsprechung des EGMR beruhenden Judikatur des Verwaltungsgerichtshofes ist eine solche Situation nur unter exzeptionellen Umständen anzunehmen. Die bloße Möglichkeit einer durch die Lebensumstände bedingten Verletzung des Art. 3 EMRK ist nicht ausreichend. Vielmehr ist es zur Begründung einer drohenden Verletzung von Art. 3 EMRK notwendig, detailliert und konkret darzulegen, warum solche exzeptionellen Umstände vorliegen (vgl. etwa VwGH 21.10.2020, Ra 2020/19/0288; VwGH 3.12.2020, Ra 2020/19/0108; VwGH 22.10.2020, Ra 2020/14/0456; VwGH 7.9.2020, Ra 2020/18/0273; alle mwN).
10 In Bezug auf die Covid 19 Pandemie und subsidiären Schutz ist darauf hinzuweisen, dass in der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes bereits klargestellt wurde, dass für sich nicht entscheidungswesentlich ist, wenn sich für einen Asylwerber infolge der seitens afghanischer Behörden zur Verhinderung der Verbreitung des SARS CoV 2 Virus und von Erkrankungen an Covid 19 gesetzten Maßnahmen die Wiedereingliederung im Heimatland wegen schlechterer wirtschaftlicher Aussichten schwieriger als vor Beginn dieser Maßnahmen darstellte, weil es darauf bei der Frage, ob im Fall seiner Rückführung eine Verletzung des Art. 3 EMRK zu gewärtigen ist, nicht ankommt, solange diese Maßnahmen nicht dazu führen, dass die Sicherung der existenziellen Grundbedürfnisse als nicht mehr gegeben anzunehmen wäre. Das gilt auch für die Beurteilung der Zumutbarkeit der Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative (vgl. VwGH 9.11.2020, Ra 2020/20/0373; VwGH 18.12.2020, Ra 2020/20/0416; VwGH 11.1.2021, Ra 2020/01/0242; VwGH 15.2.2021, Ra 2020/01/0351, jeweils mwN; insbesondere zur Covid 19 Pandemie in diesem Sinn VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239; VwGH 6.7.2020, Ra 2020/01/0176; VwGH 2.7.2020, Ra 2020/20/0212; VwGH 23.6.2020, Ra 2020/20/0188; grundsätzlich zur Prüfung der Zumutbarkeit der innerstaatlichen Fluchtalternative VwGH 23.1.2018, Ra 2018/18/0001 sowie VwGH 27.7.2020, Ra 2020/01/0130, jeweils mwN).
11 Beim Mitbeteiligten handelt es sich unstrittig um einen jungen, gesunden, arbeitsfähigen, mit den kulturellen Gepflogenheiten seines Herkunftsstaates vertrauten Mann, der über Berufserfahrung sowie Familienangehörige und ein soziales Netzwerk im Herkunftsstaat verfügt. Er gehört den Feststellungen des BVwG nach keiner Covid 19 Risikogruppe an.
12 Im vorliegenden Fall hat das BVwG nun eine einzelfallbezogene Abwägung der für und gegen das Vorhandensein einer innerstaatlichen Fluchtalternative sprechenden Gründe vorgenommen und ist dabei zu dem Schluss gekommen, dass dem Mitbeteiligten eine solche Alternative in Herat und Mazar e Sharif grundsätzlich offenstehe. Aufgrund der pandemiebedingten Einschränkungen der Reisefreiheit in Afghanistan, der Ausgangsbeschränkungen zu denen die Amtsrevision zu Recht moniert, dass diese zu Mazar e Sharif in den Ermittlungsergebnissen keine Deckung finden und der prekären Lage am Arbeitsmarkt und der Versorgungslage bedingt durch die Pandemie sei diese jedoch vorrübergehend unzumutbar.
13 Das BVwG zeigt vor dem Hintergrund der oben angeführten Rechtsprechung mit seinen Ausführungen zu der durch die Covid-19-Pandemie bewirkten schwierigeren wirtschaftlichen Lage jedoch nicht auf, dass die Inanspruchnahme einer innerstaatlichen Fluchtalternative zumindest in Mazar-e Sharif, das auch nach dem Vorbringen der Amtsrevision nicht von einer Ausgangssperre betroffen war (vgl. dazu auch VwGH 20.8.2020, Ra 2020/19/0239), tatsächlich unzumutbar ist und ist damit von der oben angeführten Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes abgewichen.
14 Das angefochtene Erkenntnis war somit gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben, ohne dass auf das weitere Revisionsvorbringen einzugehen war.
Wien, am 18. März 2021