JudikaturVwGH

Ra 2017/08/0029 – Verwaltungsgerichtshof (VwGH) Entscheidung

Entscheidung
04. Mai 2017

Betreff

Der Verwaltungsgerichtshof hat durch den Vorsitzenden Senatspräsident Dr. Bachler und den Hofrat Dr. Strohmayer, die Hofrätin Dr. Julcher sowie die Hofräte Mag. Berger und Mag. Stickler als Richter, unter Mitwirkung des Schriftführers Mag. Sinai, über die Revision der regionalen Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice Bregenz in 6901 Bregenz, Rheinstraße 33, gegen das Erkenntnis des Bundesverwaltungsgerichts vom 3. Februar 2017, Zl. I407 2107371-1/24E, betreffend Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe (mitbeteiligte Partei: C K in B), zu Recht erkannt:

Spruch

Das angefochtene Erkenntnis wird wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben.

1 Die revisionswerbende regionale Geschäftsstelle des Arbeitsmarktservice (im Folgenden: AMS) sprach mit Bescheid vom 16. Februar 2015 gemäß § 10 iVm § 38 AlVG aus, dass der Mitbeteiligte für den Zeitraum 11. Februar 2015 bis 24. März 2015 den Anspruch auf Notstandshilfe verliere. Nachsicht werde nicht erteilt. Der Anspruchsverlust wurde damit begründet, dass der Mitbeteiligte auf Grund seines Verhaltens von einer näher bezeichneten, für den Zeitraum 9. Februar 2015 bis 1. Mai 2015 vorgesehenen Wiedereingliederungsmaßnahme ausgeschlossen worden sei.

2 Eine gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde des Mitbeteiligten wurde vom Bundesverwaltungsgericht mit Erkenntnis vom 16. November 2015 abgewiesen; es wurde ihm aber gemäß § 10 Abs. 3 AlVG eine teilweise Nachsicht vom Anspruchsverlust erteilt, weil er vom 1. Oktober 2015 bis zum 16. Oktober 2015 auf Grund eigener Initiative bei der "Firma" A. OG vollzeitig beschäftigt gewesen sei. Dieses Erkenntnis wurde vom Verwaltungsgerichtshof auf Grund einer Revision des AMS mit Erkenntnis vom 24. Februar 2016, Ra 2016/08/0001, wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufgehoben, weil eine mehr als ein halbes Jahr nach dem vorgeworfenen Verhalten und nur für die Dauer von rund zwei Wochen erfolgte Beschäftigungsaufnahme keinen berücksichtigungswürdigen Grund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG darstellen könne.

3 Mit dem nunmehr angefochtenen Erkenntnis sprach das Bundesverwaltungsgericht neuerlich aus, dass die Beschwerde gemäß § 28 Abs. 2 VwGVG iVm "§§ 38, 10 Abs. 1 und Abs. 3, 9 Abs. 1 und Abs. 2" AlVG abgewiesen werde (Spruchpunkt A.I.), dass aber gemäß § 10 Abs. 3 AlVG der Anspruchsverlust teilweise nachgesehen und festgestellt werde, dass dem Mitbeteiligten für den Zeitraum 11. Februar 2015 bis 24. März 2015 Notstandshilfe in der Höhe von EUR 546,98 zustehe (Spruchpunkt A.II.). Mit Spruchpunkt B. wurde ausgesprochen, dass die Revision gemäß Art. 133 Abs. 4 B-VG nicht zulässig sei.

4 Für die Nachsicht wurde nunmehr begründend ins Treffen geführt, dass der Mitbeteiligte an "verschiedenen schweren Krankheiten" leide, die dazu führten, dass ihn der Verlust des Anspruchs auf Notstandshilfe unverhältnismäßig härter treffe, als dies sonst ganz allgemein der Fall sei. Auch die Tatsache, dass der Mitbeteiligte die Beschäftigung (im Oktober 2015) aus Eigeninitiative gefunden und begonnen habe, werde für die teilweise Nachsicht "in Erwägung gezogen". Zu den Krankheiten stellte das Bundesverwaltungsgericht fest, dass der Mitbeteiligte an einer leichten Form der Epilepsie mit sehr seltenen Anfällen, an einer Cervikalgie mit Funktionseinschränkungen geringen Grades und an chronischen Darmstörungen leichten Grades leide; es bestehe insgesamt ein Grad der Behinderung von 40%.

5 Gegen dieses Erkenntnis richtet sich die außerordentliche Revision des AMS.

Der Verwaltungsgerichtshof hat nach Aktenvorlage und Erstattung einer Revisionsbeantwortung durch den Mitbeteiligten erwogen:

6 Das AMS macht unter dem Gesichtspunkt einer grundsätzlichen Rechtsfrage im Sinn des Art. 133 Abs. 4 B-VG geltend, dass das Bundesverwaltungsgericht entgegen der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes einen Nachsichtsgrund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG angenommen habe.

7 Damit ist das AMS - wie im Folgenden zu zeigen sein wird - im Recht, weshalb sich die Revision als zulässig und berechtigt erweist.

8 Soweit das Bundesverwaltungsgericht neuerlich die eigeninitativ erlangte zweiwöchige Beschäftigung im Oktober 2015 "in Erwägung gezogen" hat, hat es die Bindungswirkung des Vorerkenntnisses vom 24. Februar 2016, Ra 2016/08/0001, missachtet (vgl. § 63 Abs. 1 VwGG).

9 Auch die "verschiedenen schweren Krankheiten" des Mitbeteiligten stellen keinen berücksichtigungswürdigen Grund im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG dar. Nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichtshofes können zwar - neben dem in § 10 Abs. 3 AlVG ausdrücklich genannten Nachsichtsgrund der Aufnahme einer Beschäftigung - insbesondere auch solche Gründe berücksichtigungswürdig sein, die dazu führen, dass der Ausschluss vom Bezug der Leistung den Arbeitslosen aus bestimmten Gründen unverhältnismäßig härter trifft, als dies sonst ganz allgemein der Fall ist. In diesem Zusammenhang wurde in der Rechtsprechung auch auf jene Gründe verwiesen, die bei der Bemessung der Notstandshilfe zu einer individuellen Freibetragserhöhung führen können (vgl. das Erkenntnis vom 18. Oktober 2000, 99/08/0116, mwN); dabei handelt es sich nach § 36 Abs. 5 AlVG um "Krankheit, Schwangerschaft, Niederkunft, Todesfall, Hausstandsgründung und dgl." (vgl. auch die Konkretisierung durch die Richtlinie des AMS zur Freigrenzenerhöhung, kundgemacht unter www.ams.at und abgedruckt etwa in Pfeil (Hrsg), Der AlV-Komm, Anhang 13). Solche Umstände sind aber nicht jedenfalls berücksichtigungswürdig im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG, sondern nur dann, wenn sie auch eine im Vergleich zu anderen Arbeitslosen unverhältnismäßige finanzielle Belastung mit sich bringen. Finanzielle Belastungen, wie sie auch andere Arbeitslose treffen - darunter fallen etwa auch Sorgepflichten -, sind hingegen nicht zu berücksichtigen (vgl. etwa das hg. Erkenntnis vom 7. September 2011, 2008/08/0085, mwN). Derartige außergewöhnliche Belastungen sind auf Grund der Krankheiten des Mitbeteiligten nicht anzunehmen und wurden vom Bundesverwaltungsgericht auch nicht festgestellt.

10 Es ist auch keinerlei Anhaltspunkt dafür ersichtlich, dass dem Mitbeteiligten sein Verhalten auf Grund seiner gesundheitlichen Einschränkungen nicht oder nur in einem geringeren Maß vorwerfbar war. Vielmehr ist auch das Bundesverwaltungsgericht von seinem Verschulden sowie von der Zumutbarkeit einer Teilnahme an der Wiedereingliederungsmaßnahme ausgegangen, wobei die Vereitelung nichts mit seinem Gesundheitszustand zu tun hatte, sondern darauf beruhte, dass er sich geweigert hatte, die Kursordnung zu unterschreiben. Umstände, die schon im Zusammenhang mit der Zumutbarkeit der Beschäftigung im Sinn des § 9 Abs. 2 und 3 AlVG von Bedeutung sind und deren Prüfung ergeben hat, dass sie diese nicht ausschließen, können auf Grund der Systematik des Gesetzes ganz allgemein nicht zur Annahme eines berücksichtigungswürdigen Falles im Sinn des § 10 Abs. 3 AlVG führen (vgl. dazu schon das Vorerkenntnis vom 24. Februar 2016, Ra 2016/08/0001, mwN).

11 Das angefochtene Erkenntnis war daher gemäß § 42 Abs. 2 Z 1 VwGG wegen Rechtswidrigkeit seines Inhaltes aufzuheben. Wien, am 4. Mai 2017

Rückverweise