JudikaturVfGH

E4238/2024 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung

Entscheidung
Öffentliches Recht
12. Dezember 2024
Leitsatz

Verletzung im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens betreffend die Rückkehrentscheidung eines Staatsangehörigen der Türkei; unzureichende Interessenabwägung durch mangelnde Auseinandersetzung mit dem Kindeswohl, bei noch anhängigen Verfahren betreffend die Ehefrau und die Kinder des Beschwerdeführers

Spruch

Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei und gegen die Setzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, in seinem verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.

Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.

2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.

Insoweit wird die Beschwerde dem Verwaltungsgerichtshof zur Entscheidung abgetreten.

II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.

Entscheidungsgründe

I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren

1. Der Beschwerdeführer ist türkischer Staatsangehöriger und stellte am 20. Oktober 2022 in Österreich einen Antrag auf internationalen Schutz. Zu seinen Fluchtgründen befragt gab der Beschwerdeführer im Wesentlichen an, er werde als Kurde in der Türkei diskriminiert, sei mehrmals bedroht worden und sein Haus sei in Brand gesetzt worden. Der Beschwerdeführer lebt mit seiner Ehegattin und seinen drei minderjährigen Kindern, die am 12. September 2024 in das österreichische Bundesgebiet eingereist sind und Anträge auf internationalen Schutz gestellt haben, in einem gemeinsamen Haushalt. Über die Anträge auf internationalen Schutz der Ehegattin und der Kinder des Beschwerdeführers lagen im Zeitpunkt des Erlasses des angefochtenen Erkenntnisses des Bundesverwaltungsgerichtes keine rechtskräftigen Entscheidungen vor.

2. Mit Bescheid vom 18. Juni 2024 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag des Beschwerdeführers hinsichtlich der Zuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten ab. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl erteilte keinen Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen, erließ eine Rückkehrentscheidung gegen den Beschwerdeführer, erklärte die Abschiebung in die Türkei als zulässig und setzte eine vierzehntägige Frist ab Rechtskraft für die freiwillige Ausreise.

3. Das Bundesverwaltungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde nach der Durchführung einer mündlichen Verhandlung mit dem angefochtenen Erkenntnis als unbegründet ab. Das Bundesverwaltungsgericht erachtete das Fluchtvorbringen des Beschwerdeführers für unglaubwürdig. Es gebe keine allgemeine oder systematische asylrelevante Verfolgung von Kurden in der Türkei. Der Beschwerdeführer sei in der Türkei keiner existenziellen Bedrohung ausgesetzt. Das Bundesverwaltungsgericht erachtete die Rückkehrentscheidung als mit dem Kindeswohl vereinbar, weil das Familienleben in der Türkei fortgeführt werden könne und sich der Aufenthalt des Beschwerdeführers und seiner Familie im österreichischen Bundesgebiet bloß auf die Anträge auf internationalen Schutz stütze.

4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Gleichbehandlung von Fremden untereinander (ArtI Abs1 Bundesverfassungsgesetz BGBl 390/1973), im Recht, keiner unmenschlichen oder erniedrigenden Strafe oder Behandlung (Folter) unterworfen zu werden (Art3 EMRK) sowie im Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) behauptet wird.

Begründend wird dazu im Wesentlichen Folgendes ausgeführt:

Das Bundesverwaltungsgericht habe entscheidungsrelevante Ermittlungen unterlassen, indem es die in Österreich aufhältige Ehegattin des Beschwerdeführers nicht befragt habe. Das Bundesverwaltungsgericht habe die vorgelegten Fotos nicht ausreichend gewürdigt und lediglich die Begründung des Bundesamtes für Asyl- und Fremdenwesen übernommen. Der Beschwerdeführer werde in der Türkei wegen seiner Tätigkeit in einem kurdischen Verein, seiner HDP-Mitgliedschaft und seiner Asylantragstellung in Österreich verfolgt. Die Verfahrensrechte des Beschwerdeführers seien im Falle eines Verfahrens vor den türkischen Gerichten nicht gewahrt. Im Gefängnis werde er misshandelt und gefoltert. Die vom Bundesverwaltungsgericht getroffene Interessensabwägung verletze den Beschwerdeführer in seinem Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens, weil er in Österreich arbeite und seine Ehegattin und die gemeinsamen minderjährigen Kinder in Österreich aufhältig seien.

5. Das Bundesverwaltungsgericht legte die Verwaltungsakten vor, sah jedoch von der Erstattung einer Gegenschrift ab.

6. Das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl nahm ebenfalls von der Erstattung einer Gegenschrift Abstand.

II. Erwägungen

Die – zulässige – Beschwerde ist begründet.

Soweit sich die Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei und gegen die Setzung einer vierzehntägigen Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet.

1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.567/2002).

2. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:

2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt wird. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die konkreten Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung eines Elternteiles auf das Familienleben und auf das Wohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu ermitteln und zu berücksichtigen (vgl hiezu zB VfSlg 19.362/2011; VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 26.2.2019, E3079/2018; 28.11.2019, E707/2019; 24.11.2020, E3806/2019; 8.6.2021, E575/2021; 29.11.2021, E2557/2021, jeweils mwN). Eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles kann zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/2000, mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, 50.435/99, Rodrigues da Silva und Hoogkamer , sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, 55.597/09, Nunez ; VfGH 12.10.2016, E1349/2016; 8.6.2021, E575/2021; 29.11.2021, E2557/2021).

2.2. Das Bundesverwaltungsgericht führt im Rahmen seiner Interessenabwägung aus, dass eine Fortsetzung des Familienlebens in der Türkei möglich sei, weil der Beschwerdeführer, seine Ehegattin und die gemeinsamen Kinder türkische Staatsangehörige seien und ihr Aufenthalt im österreichischen Bundesgebiet nur auf den Anträgen auf internationalen Schutz fuße. Insofern bewirke das Familienleben des Beschwerdeführers nicht die Unzulässigkeit der Rückkehrentscheidung.

2.3. Das Bundesverwaltungsgericht führt zwar aus, dass bei der Interessenabwägung das Kindeswohl zu berücksichtigen ist, und geht davon aus, dass das Kindeswohl nicht beeinträchtigt werde, weil das Familienleben in der Türkei fortgesetzt werden könne. Dabei berücksichtigt das Bundesverwaltungsgericht aber nicht, dass über die Anträge auf internationalen Schutz der Ehegattin und der Kinder des Beschwerdeführers noch nicht entschieden wurde. Indem das Bundesverwaltungsgericht von einer negativen Entscheidung über die Anträge auf internationalen Schutz der Ehegattin und der Kinder des Beschwerdeführers ausgeht, obwohl die zuständige Behörde noch nicht über die Anträge entschieden hat, nimmt es die Beweiswürdigung der zuständigen Behörde vorweg. In Folge setzt sich das Bundesverwaltungsgericht nicht in der von der Rechtsprechung geforderten Weise mit den Konsequenzen der Trennung der Familie auf das Familienleben auseinander.

2.4. Mit seinen Ausführungen hat das Bundesverwaltungsgericht gerade nicht im erforderlichen Ausmaß auf die Beziehung zwischen Vater und Kind Bedacht genommen und insbesondere die Auswirkungen der Entscheidung auf das Kindeswohl nicht berücksichtigt, obwohl sich daraus ergeben könnte, dass eine Trennung nicht im Sinne des Kindeswohls ist (vgl zur zu berücksichtigenden Beziehung zwischen Vater und Kind etwa VfGH 10.3.2020, E4269/2019; 8.6.2021, E4076/2020 mwN; 29.11.2021, E2557/2021).

2.5. Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner gemäß Art8 EMRK gebotenen Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es die Entscheidung über die Rückkehrentscheidung, die Zulässigkeit der Abschiebung und die Setzung der Frist für die freiwillige Ausreise mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Mangel belastet.

3. Im Übrigen – soweit sich die Beschwerde gegen die Nichtzuerkennung des Status des Asylberechtigten und des subsidiär Schutzberechtigten und die Nichterteilung eines Aufenthaltstitels aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 richtet – wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:

Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn sie keine hinreichende Aussicht auf Erfolg hat oder von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.

Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Die gerügten Rechtsverletzungen wären im vorliegenden Fall aber nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beantwortung der aufgeworfenen Fragen, insbesondere der Frage, ob das Erkenntnis in jeglicher Hinsicht rechtmäßig, insoweit nicht anzustellen.

III. Ergebnis

1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in die Türkei und gegen die Setzung einer vierzehntägigen Frist zur freiwilligen Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Art8 EMRK) verletzt worden.

2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.

3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen und diese insoweit dem Verwaltungsgerichtshof gemäß Art144 Abs3 B VG abgetreten (zum System der Abtretung der Beschwerde an den Verwaltungsgerichtshof durch den Verfassungsgerichtshof nach Inkrafttreten der Verwaltungsgerichtsbarkeits-Novelle 2012 vgl VfSlg 19.867/2014).

4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.

5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz der Eingabengebühr in Höhe von € 240,– enthalten.

6. Damit erübrigt sich ein Abspruch über den Antrag, der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuzuerkennen.