E3806/2019 – Verfassungsgerichtshof (VfGH) Entscheidung
Spruch
I. 1. Der Beschwerdeführer ist durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Ghana und gegen die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
Das Erkenntnis wird insoweit aufgehoben.
2. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt.
II. Der Bund (Bundesminister für Inneres) ist schuldig, dem Beschwerdeführer zuhanden seines Rechtsvertreters die mit € 2.856,– bestimmten Prozesskosten binnen 14 Tagen bei sonstiger Exekution zu ersetzen.
Entscheidungsgründe
I. Sachverhalt, Beschwerde und Vorverfahren
1. Der Beschwerdeführer ist ein im Jahr 1988 geborener Staatsangehöriger von Ghana. Er stellte am 31. August 2017 nach Einreise in das Bundesgebiet einen Antrag auf internationalen Schutz.
2. Mit Bescheid vom 3. November 2017 wies das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl den Antrag gemäß §3 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von Asyl sowie gemäß §8 AsylG 2005 bezüglich der Zuerkennung von subsidiärem Schutz in Bezug auf den Herkunftsstaat Ghana ab. Weiters wurde ein Aufenthaltstitel aus berücksichtigungswürdigen Gründen gemäß §57 AsylG 2005 nicht erteilt, gemäß §10 Abs1 Z3 AsylG 2005 iVm §9 BFA VG eine Rückkehrentscheidung gemäß §52 Abs2 Z2 FPG erlassen und gemäß §52 Abs9 FPG festgestellt, dass die Abschiebung nach Ghana gemäß §46 FPG zulässig sei. Gleichzeitig wurde gemäß §55 Abs1a Z3 FPG ausgesprochen, dass dem Beschwerdeführer keine Frist für die freiwillige Ausreise ab Rechtskraft der Rückkehrentscheidung gewährt wird.
3. Mit Erkenntnis vom 27. September 2019 wies das Bundesverwaltungsgericht die gegen diesen Bescheid erhobene Beschwerde als unbegründet ab.
3.1. Zur Frage der Rechtmäßigkeit der Erlassung einer Rückkehrentscheidung traf das Bundesverwaltungsgericht ua folgende Feststellungen:
"In Österreich hat der BF eine Lebensgefährtin und mit ihr eine gemeinsame Tochter, […], geb. 19.05.2019. Sie leben derzeit nicht zusammen, doch kümmert der BF sich um die Tochter, während seine Freundin arbeitet. Seine Lebensgefährtin stammt ebenfalls aus Ghana und verfügt in Österreich über eine 'Rot-Weiß-Rot-Karte plus'. […] Während seine Freundin arbeiten geht, kümmert sich der BF um die gemeinsame Tochter sowie um den älteren Sohn seiner Freundin."
3.2. In seiner rechtlichen Beurteilung führt das Bundesverwaltungsgericht aus:
"Zwar hat der BF in Österreich eine Lebensgefährtin und mit ihr eine gemeinsame Tochter, doch ist dieses Familienleben zu einem Zeitpunkt entstanden, in welchem der BF nicht darauf vertrauen durfte, dass er sich in Zukunft auf legale Weise in Österreich aufhalten dürfen wird; auch seiner Lebensgefährtin muss dies bewusst gewesen sein, da es sich bei ihr ebenfalls um eine Staatsbürgerin aus Ghana handelt und sie selbst über die 'Rot-Weiß-Rot-Karte plus' verfügt, sie somit das gesamte Asylprozedere und den ungewissen Ausgang kennt.
Zwar lebt der BF mit seiner Lebensgefährtin, deren älteren Sohn und der gemeinsamen Tochter im gemeinsamen Haushalt – wenn dies auch vorübergehend aufgrund einer Wohnungssuche nicht der Fall ist – und kümmert sich um Kinder und Haushalt. Doch ist in diesem Zusammenhang und bezüglich dem Kindeswohl auszuführen, dass die Tochter des BF im Mai 2019 geboren wurde, es sich daher im gegenwärtigen Zeitpunkt um ein Baby handelt, welches noch keine persönliche und emotionale Bindung zum BF aufgebaut hat, zumindest nicht auf eine Art und Weise, dass bei einer Trennung vom Vater von einer Verletzung des Kindeswohls auszugehen wäre. Hinzu kommt, dass Kinder anpassungsfähig sind und sich an einen Kontakt über das Internet oder regelmäßige Besuche beim Vater schnell gewöhnen können.
[…]
Den persönlichen Interessen des BF an einem weiteren Aufenthalt in Österreich steht somit das öffentliche Interesse an der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung auf dem Gebiet des Fremdenwesens gegenüber; diesem gewichtigen öffentlichen Interesse kommt aus der Sicht des Schutzes und der Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung (Art8 Abs2 EMRK) ein hoher Stellenwert zu […]."
4. Gegen diese Entscheidung richtet sich die vorliegende, auf Art144 B VG gestützte Beschwerde, in der die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten behauptet und die Aufhebung des angefochtenen Erkenntnisses beantragt wird.
5. Das Bundesverwaltungsgericht hat die Gerichts- und Verwaltungsakten vorgelegt, von der Erstattung einer Gegenschrift aber Abstand genommen.
II. Erwägungen
Der Verfassungsgerichtshof hat über die – zulässige – Beschwerde erwogen:
A. Soweit sich die Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Ghana und die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise richtet, ist sie auch begründet:
1. Ein Eingriff in das durch Art8 EMRK verfassungsgesetzlich garantierte – unter Gesetzesvorbehalt stehende – Recht ist dann verfassungswidrig, wenn die ihn verfügende verwaltungsgerichtliche Entscheidung ohne jede Rechtsgrundlage ergangen ist, auf einer dem Art8 EMRK widersprechenden Rechtsvorschrift beruht oder wenn das Verwaltungsgericht bei Erlassung der Entscheidung eine verfassungsrechtlich unbedenkliche Rechtsgrundlage in denkunmöglicher Weise angewendet hat; ein solcher Fall liegt nur vor, wenn das Verwaltungsgericht einen so schweren Fehler begangen hat, dass dieser mit Gesetzlosigkeit auf eine Stufe zu stellen wäre, oder wenn es der angewendeten Rechtsvorschrift fälschlicherweise einen verfassungswidrigen, insbesondere einen dem Art8 Abs1 EMRK widersprechenden und durch Art8 Abs2 EMRK nicht gedeckten Inhalt unterstellt hat (vgl VfSlg 11.638/1988, 15.051/1997, 15.400/1999, 16.657/2002).
2. Dem Bundesverwaltungsgericht ist bei der gemäß Art8 Abs2 EMRK gebotenen Abwägung ein solcher, in die Verfassungssphäre reichender Fehler unterlaufen:
2.1. Wie der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis VfSlg 17.340/2004 ausgeführt hat, darf eine Aufenthaltsbeendigung nicht verfügt werden, wenn dadurch das Recht auf Schutz des Privat- und Familienlebens des Betroffenen verletzt würde. Bei der Beurteilung nach Art8 EMRK ist eine Interessenabwägung vorzunehmen (vgl die in VfSlg 18.223/2007 und 18.224/2007 wiedergegebene Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte). Im Rahmen dieser Interessenabwägung sind die Auswirkungen der Entscheidung und die Konsequenzen einer Außerlandesbringung des Beschwerdeführers auf das Familienleben und auf das Kindeswohl etwaiger Kinder des Betroffenen zu erörtern (vgl hiezu VfGH 24.9.2018, E1416/2018; 26.2.2019, E3079/2018; zur Bedeutung der mit einer Trennung des Beschwerdeführers von seinem Kind verbundenen Auswirkungen vgl VfSlg 19.362/2011). Einer mit der Ausweisung verbundenen Trennung von Familienmitgliedern kommt eine entscheidungswesentliche Bedeutung zu (vgl VfSlg 18.388/2008, 18.389/2008, 18.392/2008). Die Intensität der privaten und familiären Bindungen im Inland ist dabei zu berücksichtigen (VfSlg 18.748/2009).
Nach ständiger Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte entsteht ein von Art8 Abs1 EMRK geschütztes Familienleben zwischen Eltern und Kind mit dem Zeitpunkt der Geburt (vgl EGMR 21.6.1988, Fall Berrehab , Appl 10.730/84 [Z21]; 26.5.1994, Fall Keegan , Appl 16.969/90 [Z44]). Diese besonders geschützte Verbindung kann in der Folge nur unter außergewöhnlichen Umständen als aufgelöst betrachtet werden (vgl EGMR 19.2.1996, Fall Gül , Appl 23.218/94 [Z32]). Ferner ist es nach Auffassung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte ein grundlegender Bestandteil des Familienlebens, dass sich Eltern und Kinder der Gesellschaft des jeweiligen anderen Teiles erfreuen können; die Familienbeziehung wird insbesondere nicht dadurch beendet, dass das Kind in staatliche Pflege genommen wird (vgl VfSlg 16.777/2003 mit Hinweis auf EGMR 25.2.1992, Fall Margareta und Roger Andersson , Appl 12.963/87 [Z72] mwN; zu den Voraussetzungen für ein [potentielles] Familienleben zwischen einem Kind und dessen Vater siehe auch EGMR 15.9.2011, Fall Schneider , Appl 17.080/07 [Z81] mwN). Davon ausgehend kann eine unzureichende Berücksichtigung des Kindeswohles zur Fehlerhaftigkeit der Interessenabwägung und somit zu einer Verletzung des Art8 EMRK führen (vgl VfGH 28.2.2012, B1644/2000 mit Hinweis auf EGMR 31.1.2006, Fall Rodrigues da Silva und Hoogkamer , Appl 50.435/99, sowie insbesondere EGMR 28.6.2011, Fall Nunez , Appl 55.597/09; VfGH 12.10.2016, E1349/2016).
Nach der Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes sind die konkreten Auswirkungen einer Aufenthaltsbeendigung für ein Elternteil auf das Wohl eines Kindes zu ermitteln und bei der Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK zu berücksichtigen (vgl VfSlg 19.362/2011; VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 9.6.2016, E2617/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 14.3.2018, E3964/2017; 11.6.2018, E343/2018, E345/2018; 11.6.2018, E435/2018). Der Verfassungsgerichtshof erachtet die Annahme als lebensfremd, dass der Kontakt zwischen einem Kleinkind und einem Elternteil über Telekommunikation und elektronische Medien aufrechterhalten werden könne (vgl dazu VfGH 25.2.2013, U2241/2012; 19.6.2015, E426/2015; 12.10.2016, E1349/2016; 11.6.2018, E343/2018 ua).
2.2. Vor diesem Hintergrund erweist sich die Interessenabwägung nach Art8 Abs2 EMRK, die das Bundesverwaltungsgericht vornimmt, als unzureichend:
Das Bundesverwaltungsgericht führt in seinen Feststellungen aus, der Beschwerdeführer habe ein am 19. Mai 2019 geborenes Kind mit einer in Österreich lebenden Staatsangehörigen Ghanas, die in Österreich über eine "Rot-Weiß-Rot-Karte plus" verfüge. Während seine Lebensgefährtin arbeiten gehe, kümmere sich der Beschwerdeführer um die gemeinsame Tochter sowie um den älteren Sohn seiner Lebensgefährtin.
In der rechtlichen Beurteilung hält das Bundesverwaltungsgericht fest, dass das Familienleben des Beschwerdeführers zu einem Zeitpunkt entstanden sei, in welchem er nicht darauf vertrauen hätte dürfen, dass er sich in Zukunft auf legale Weise in Österreich aufhalten dürfen werde. Das Bundesverwaltungsgericht hält weiters fest, dass "die Tochter des BF im Mai 2019 geboren wurde, es sich daher im gegenwärtigen Zeitpunkt um ein Baby handelt, welches noch keine persönliche und emotionale Bindung zum BF aufgebaut hat". Hinzukomme, "dass Kinder anpassungsfähig sind und sich an einen Kontakt über das Internet oder regelmäßige Besuche beim Vater schnell gewöhnen können".
Vor dem Hintergrund seiner Feststellungen zum Sachverhalt hätte das Bundesverwaltungsgericht eingehend begründen müssen, weshalb die aufenthaltsbeendende Maßnahme gegenüber dem Beschwerdeführer und die damit verbundene Trennung von seinem Kind im öffentlichen Interesse geboten ist. Damit hat das Bundesverwaltungsgericht einen wesentlichen Gesichtspunkt des konkreten Sachverhaltes, nämlich die Auswirkungen der Aufenthaltsbeendigung auf die Lebenssituation des Beschwerdeführers – insbesondere die Beziehung zu seinem Kind – sowie das Kindeswohl dieses Kindes vollständig außer Acht gelassen (vgl VfSlg 19.776/2013; VfGH 11.3.2015, E1884/2014; 27.2.2018, E3775/2017, jeweils mwN).
3. Indem das Bundesverwaltungsgericht diese Umstände bei seiner Interessenabwägung nicht berücksichtigt hat, hat es – ungeachtet des Umstandes, dass das Privat- und Familienleben in einem Zeitpunkt entstanden ist, in dem sich der Beschwerdeführer seines unsicheren Aufenthaltsstatus bewusst war (vgl zur Rechtsprechung des Verfassungsgerichtshofes, wonach dieser Umstand zwar zu berücksichtigen ist, einen Eingriff in das Recht aus Art8 EMRK aber nicht ausschließt, etwa VfGH 3.10.2012, U119/12; 25.3.2013, U2241/12; VfSlg 18.223/2007) – diese mit einem in die Verfassungssphäre reichenden Fehler belastet.
4. Die Entscheidung ist daher insoweit aufzuheben, als mit ihr die im angefochtenen Bescheid getroffene Rückkehrentscheidung, die Abschiebung in den Herkunftsstaat Ghana und die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise bestätigt wird.
B. Im Übrigen wird die Behandlung der Beschwerde abgelehnt:
Der Verfassungsgerichtshof kann die Behandlung einer Beschwerde ablehnen, wenn von der Entscheidung die Klärung einer verfassungsrechtlichen Frage nicht zu erwarten ist (Art144 Abs2 B VG). Eine solche Klärung ist dann nicht zu erwarten, wenn zur Beantwortung der maßgebenden Fragen spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen nicht erforderlich sind.
Die vorliegende Beschwerde rügt die Verletzung in näher bezeichneten verfassungsgesetzlich gewährleisteten Rechten. Nach den Beschwerdebehauptungen wären diese Rechtsverletzungen aber zum erheblichen Teil nur die Folge einer – allenfalls grob – unrichtigen Anwendung des einfachen Gesetzes. Spezifisch verfassungsrechtliche Überlegungen sind zur Beurteilung der aufgeworfenen Fragen insoweit nicht anzustellen.
Demgemäß wurde beschlossen, von einer Behandlung der Beschwerde, soweit sie sich gegen die Abweisung des Antrages auf internationalen Schutz richtet, abzusehen (§19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG).
III. Ergebnis
1. Der Beschwerdeführer ist somit durch das angefochtene Erkenntnis, soweit damit seine Beschwerde gegen die erlassene Rückkehrentscheidung, gegen den Ausspruch der Zulässigkeit der Abschiebung in den Herkunftsstaat Ghana und gegen die Nichtgewährung einer Frist für die freiwillige Ausreise abgewiesen wird, im verfassungsgesetzlich gewährleisteten Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens gemäß Art8 EMRK verletzt worden.
2. Das Erkenntnis ist daher in diesem Umfang aufzuheben, ohne dass auf das weitere Beschwerdevorbringen einzugehen ist.
3. Im Übrigen wird von der Behandlung der Beschwerde abgesehen.
4. Diese Entscheidung konnte gemäß §19 Abs4 bzw §19 Abs3 Z1 iVm §31 letzter Satz VfGG ohne mündliche Verhandlung in nichtöffentlicher Sitzung getroffen werden.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf §88 VfGG. In den zugesprochenen Kosten ist Umsatzsteuer in Höhe von € 436,– sowie der Ersatz einer Eingabengebühr gemäß §17a VfGG in Höhe von € 240,– enthalten.